Verhungerter Häftling„JVA Aachen hatte keinen Grund, Alarm zu schlagen“
Köln – Wenn es nach dem Bauchgefühl von Peter Biesenbach geht, sollte ein Mensch in staatlicher Obhut nicht verhungern dürfen. Der Justizminister wünsche sich, sagte er am Freitag im Rechtsausschuss, dass ein solcher Fall nie wieder passiert. Genauso wie er sich wünsche, dass nie wieder ein Häftling in seiner Zelle verbrennt. Doch beides ist passiert.
Der Fall Ahmad A., der in der JVA Kleve Feuer legte, beschäftigt bereits seit Monaten einen Untersuchungsausschuss. Das Schicksal von Klaus S., der sich über Wochen mit Wissen der JVA Aachen zu Tode hungerte, ist am Freitagvormittag schon zum zweiten Mal über Stunden vom Rechtsausschuss im nordrhein-westfälischen Landtag besprochen worden. Trotz der von der Landesregierung angekündigten lückenlosen Aufklärung, blieben aus Sicht der Opposition erneut zentrale Fragen unbeantwortet.
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Eine davon ist: Wie konnte es passieren, dass man Klaus S., der offenbar dachte, sein Essen sei vergiftet, und der angab, der „Teufel“ sei in ihm, sich einen Monat lang in seiner Zelle gen Tod hungern ließ, ohne einen Psychiater hinzuzuziehen? Die Antwort darauf blieb der Minister schuldig. Biesenbach verteidigte stattdessen erneut das Verhalten der Behörden. „Die JVA Aachen hatte keinen Grund, Alarm zu schlagen.“
Klaus S. war vor und nach der Tat psychisch stark auffällig
Klaus S. hatte im Mai 2020 seine Frau erdrosselt und starb im Dezember 2020, nachdem er in Haft angeblich aus freiem Willen wochenlang kaum etwas aß und trank. Wie sich allerdings durch Recherchen dieser Zeitung herausgestellt hatte, war S. sowohl vor als auch nach der Tat stark psychisch auffällig.
Während der Corona-Pandemie und des Verlusts seines Jobs entwickelte der Diplom-Ingenieur aus Sankt Augustin die wahnhafte Vorstellung, er würde erblinden. Direkt nach der Tat wurde er mit Verdacht auf Psychose und wegen akuter Suizidalität zwangseingewiesen, wurde aber dann nach nicht einmal 48 Stunden für gewahrsamsfähig erklärt. Mit welcher Begründung das passierte, konnte das Ministerium auch am Freitag nicht schlüssig erläutern.
JVA Köln hat Vorschriften nicht eingehalten
Aus einem neuen Bericht des Ministeriums geht indes hervor, dass die JVA Köln, in der S. zunächst untergebracht war, die Vorschriften für eine vollständige Eingangsuntersuchung nicht eingehalten hat. Zudem ignorierte die Anstalt die Empfehlung eines Psychiaters, S. trotz mehrerer schwerwiegender Suizidversuche sowie erneut geäußerter Wahnvorstellungen in eine Psychiatrie zu verlegen.
Stattdessen kam der 67-Jährige – nachdem er mit voller Wucht mit dem Kopf gegen die Wand gerannt war – in das Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg. Eine Aufnahme in die psychiatrische Abteilung dort war nach neuen Angaben des Ministeriums nicht möglich: Es war kein Bett frei.
Aus Sicht des Ministeriums wäre das aber auch nicht nötig gewesen. So lieferte auch Biesenbach am Freitag die Interpretation, S. habe die Suizidversuche nur unternommen, um sich als schuldunfähig zu inszenieren. Dieser Ansicht waren auch mehrere JVA-Beamte und der zuständige Staatsanwalt. Ein Psychiater allerdings kam nie zu dieser Auffassung.
Psychiatrisches Gutachten wurde nicht angefordert
Fraglich bleibt auch, warum die JVA Aachen nicht das vom Gericht in Auftrag gegeben psychiatrische Gutachten angefordert hatte, wie es verschiedene Experten in einem solch speziellen Fall für erforderlich halten. In diesem Gutachten wurde S. eine depressive Erkrankung attestiert.
Hier kommt das Ministerium zu einer bemerkenswerten Feststellung. Selbst wenn die JVA das Gutachten gehabt hätte, wäre man dort zu keiner anderen Einschätzung gekommen. Demnach handelte S. bei seiner Nahrungsverweigerung nach freiem Willen, deshalb habe man ihn auch nicht zwangsernähren dürfen.
Suizide fast immer Folge von psychischen Erkrankungen
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe hingegen gibt an, Suizidversuche und Suizide erfolgten fast immer im Rahmen von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Die freie Verantwortlichkeit der suizidalen Handlung sei dabei eingeschränkt.
Unklar bleibt in diesem Zusammenhang ebenso, warum eine Konsiliarpsychiaterin S. noch kurz vor seinem Tod Psychopharmaka verschrieben hat, obwohl er ja bei klarem Verstand gewesen sein soll.
Als weiteres Indiz für S.' Zustand uneingeschränkter Willensbildung führte Minister Biesenbach den Gerichtsprozess an. Dort habe niemand Bedenken an der psychischen Verfassung von S. geäußert. Das trifft nach Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ nicht zu. So hatte der psychiatrische Gutachter in der Verhandlung mehrmals betont, der psychische Zustand von S. bereite ihm inzwischen Sorgen.
Im September nach der Sommerpause wird sich der Rechtsausschuss erneut mit Klaus S. beschäftigen.