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Unter Aufsicht zu Tode gehungertDer Häftling, den der Staat sterben ließ

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Klaus S. tötete seine Frau und hungerte sich zu Tode.

  1. Dies ist die Geschichte von Klaus S., einem Diplom-Ingenieur aus Sankt Augustin, der bis zur Rente ein normales Leben führte – und dann seine Frau erdrosselte.
  2. In Haft beschloss S., nicht mehr zu essen und zu trinken und hungerte sich zu Tode, während die Behörden zusahen.
  3. Es ist ein einzigartiger Fall in der Justizgeschichte von NRW. Dies ist die Geschichte des Mannes, den der Staat sterben ließ.
  4. Dieser Text gehört zu den Nominierten des diesjährigen Nannen-Preises für Journalismus in der Kategorie Lokaljournalismus.

Köln – Von dem Mann, der einmal Klaus S. war, ist nach einem halben Jahr Haft nicht mehr viel übrig. Ein Wachtmeister muss ihn am Mittag des 2. Dezember 2020, dem letzten der vier Verhandlungstage, in einem Rollstuhl in den großen Schwurgerichtssaal des Bonner Landgerichts schieben.

Die Knochen stehen hervor. Das Haar ist zerzaust, das Gesicht eingefallen. Die Schulternähte seines Pullovers hängen fast auf Brusthöhe. Er ist abgemagert. Verwahrlost.

Früher einmal, so sagt einer, der ihn kannte, soll Klaus S. kräftig und sportlich gewesen sein. Typ „der läuft noch mal einen Altersmarathon“. Sonst: freundlich, angenehm. Durchschnittsmensch. Bittet man einen langjährigen Kollegen, Klaus S. zu beschreiben, fällt ihm keine Charaktereigenschaft ein, außer: normal.

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Aber als ich ihn da im Gericht sah, sagt der Kollege, da saß dort ein völlig anderer Mann.

Die Staatsanwaltschaft legt Klaus S., wohnhaft in Sankt Augustin, deutscher Staatsangehöriger, 67 Jahre, ehemals ein wichtiger Mitarbeiter beim Tüv, inzwischen berentet, Witwer, folgenden Sachverhalt zur Last: Totschlag.

Vergleiche § 212 Abs. 1 StGB. Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

Der Richter ruft einen Gutachter auf, ein renommierter Psychiater, fast 20 Jahre lang leitete er eine Fachklinik. Er hat S. in Untersuchungshaft besucht, mehrere Stunden mit ihm gesprochen. Jetzt sagt er, er mache sich Sorgen. Darum, dass der Angeklagte sich das Leben nehmen könnte.

Er weiß nicht, dass S. genau das bereits tut. Ganz langsam.

Der Richter sagt, das sei ja eine unvorstellbare Tat, begangen von einem Mann, der so korrekt war, dass er nicht mal falsch geparkt hat.

Er gibt Klaus S. sechs Jahre und neun Monate.

Elf Tage später ist Klaus S. tot.

Nominiert für den Nannen-Preis

Ein Text des „Kölner Stadt-Anzeiger“ gehört zu den Nominierten des diesjährigen Nannen-Preises für Journalismus, wie am Donnerstag bekanntgegeben wurde. Jonah Lemm und Christian Parth sind für den Text „Der Häftling, den der Staat sterben ließ“ in der Kategorie Lokaljournalismus nominiert.

Im Frühsommer 2021 recherchierten Lemm und Parth die Geschichte von Klaus S., einem Diplom-Ingenieur aus Sankt Augustin, der bis zur Rente ein normales Leben führte – und dann seine Frau erdrosselte. In der Haft hungerte sich S. zu Tode. Der Text beleuchtet die Hintergründe dieses einzigartigen Falls in der Justizgeschichte von NRW.

Der Nannen-Preis gilt als eine der renommiertesten Journalismus-Auszeichnungen Deutschlands. Er wird in sechs Kategorien verliehen. Die beste Reportage wird mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis bedacht, der 1977 von Stern-Gründer Henri Nannen ins Leben gerufen wurde.

Dies ist eine Geschichte über Angst, Wut, Schuld, Reue, Wahnsinn, Gewalt. Und über die Frage, ob der Staat dabei zusehen darf, wenn ein offenbar psychisch kranker Mensch sich in einer Gefängniszelle zu Tode hungert. Über die Frage, wie weit ein freier Wille reicht.

Am Anfang dieser Geschichte wird eine Frau sterben, getötet von dem Mann, mit dem sie seit 44 Jahren zusammen, seit 33 verheiratet war. Am Ende wird auch er nicht mehr leben.

Dies ist die Geschichte von Klaus S., Diplom-Ingenieur und Hobby-Motorradfahrer, der nach mehreren Selbstmordversuchen in Haft beschloss, nicht mehr zu essen und zu trinken. Es ist ein einzigartiger Fall in der Justizgeschichte von NRW.

Dies ist die Geschichte des Mannes, den der Staat sterben ließ.

Kapitel 1: Die Tat

An einem Samstag im Mai 2020 sitzt Klaus S. auf der Terrasse seines Einfamilienhauses – zwei Etagen, weiße Fassade, weiße Gardinen, schwarze Ziegel auf dem Dach, „Bitte keine Werbung! Danke“ handgeschrieben und laminiert über dem Briefkasten – und ist davon überzeugt, dass er bald blind sein wird.

Noch vor wenigen Stunden hat ein Arzt die Sehschärfe von S. getestet. Sie lag bei 80 Prozent. S. glaubt ihm nicht. S. glaubt, etwas frisst ihn von innen auf, wie ein Dämon sei das. S. glaubt, die Diabetes, an der er seit längerem leidet, die ihn nie beeinträchtigt hat, lässt plötzlich seine Füße abfaulen und sein Augenlicht verschwinden. Beweise dafür sammelt er seit einem Monat. Im Internet.

Seine Frau, blond, zwei Jahre jünger als er, medizinisch-technische Assistentin von Beruf, hat anfangs seine Angst ernst genommen, ihm ein Blutzuckermessgerät besorgt und einen MRT-Termin in der Kölner Praxis, in der sie arbeitet. Aber die Mediziner finden nichts außer einer leichten Durchblutungsstörung. Kein Schlaganfall, kein Tumor. Keine Gefahr zu erblinden. Sie sind gesund, Herr S.

Vielleicht sollte er zum Psychiater gehen, rät die Chefin, eine Neurologin, der Frau. Und gibt ihr die Handynummer. Für alle Fälle.

16.05.2020, Tattag. 10 Uhr. Frau S. ruft ihre Chefin an. Weint. Sagt, das sei nicht mehr der Mann, den sie geheiratet hat. Es sei so viel in ihr zerbrochen.

Nachricht um 16:03 Uhr: „Alles viel schlimmer, droht mit Selbstmord, Handgreiflichkeiten, üble Beschimpfungen.“

Nachricht um 19:32 Uhr: „Wie lang ist dieser Psychothriller noch?“

Um 22 Uhr schreibt die Chefin zurück: „Wie lange noch? Keine Ahnung. Wie lange Sie sich das noch anschauen, das ist die Frage.“ Keine Antwort.

Bis das alles losging, mit den Augen, den Füßen, den Dämonen, war Klaus S. ein Mann, der funktionierte. Einzelkind aus bürgerlicher Familie, gut in der Schule, hervorragend im Studium. Nach dem Abschluss die Einstellung beim Tüv, bis 1989 fünf Jahre in Tokio, Japan, dort zuständig für Prüfsysteme, Autozulassungen. Ein Leben in Zahlen, Normen, Standards. 1987 heiratet er seine Jugendliebe, Frau S. Zurück in Deutschland führen sie eine Ehe ohne Auffälligkeiten, ohne Kinder, ohne gemeinsame Hobbys und ohne wirkliche Freunde. Sie haben sich. Und viel Geld. In ihrem Haus gibt es zwei möblierte Gästezimmer, doch fast nie Besuch.

2018 geht S. in Rente, aber eigentlich auch nicht. Er arbeitet weiter für den Tüv, freiberuflich, aber nahezu in Vollzeit. Dann bricht die Pandemie aus. Keine Aufträge mehr. Darauf war er nicht vorbereitet. Er hat keinen Plan für seinen Ruhestand, ein Leben ohne die Bestätigung.

Er versucht es mit Spazieren. Holt sich dabei eine Blase, sie verheilt schlecht. Da fängt es an. S. glaubt, er werde bald einen diabetischen Fuß haben. Verordnet sich deshalb selbst die tägliche Höchstdosis des Glukosehemmers Metformin. Behandeln lassen will er sich nicht.

Google-Suche: „Schlechte Wundheilung bei Diabetikern – was tun?“, „Wundheilung an Diabetikerfuß mit Aspirin“, „Wie wirkt sich die Kombination von Aspirin und Alkohol auf den Blutdruck aus“.

Klaus S. sitzt jetzt oft auf der Terrasse und trinkt Bier. Frau S. erkennt ihn nicht wieder, fürchtet sich. Zu ihrer Chefin sagt sie, er sei völlig verrückt geworden. Er bestellt sich einen Porsche 911 Carrera. Einfach so.

Sie ist überfordert. Schluckt Antidepressiva. Am 16.05.2020 ruft sie einen ehemaligen Arbeitskollegen von Klaus S. an. Sagt, sie habe seit 30 Stunden nicht geschlafen. Bittet um Hilfe. Er kommt vorbei, vor Klaus S. steht ein Weizen. S. sagt, er könne nur noch Schemen erkennen. Trinkt noch zwei Schnaps. Sagt, er wolle das Haus verkaufen, an die Côte d’Azur ziehen. Seine Frau soll aufhören zu arbeiten. Übermorgen. Sie will das nicht.

Google-Suche: „Älterer Mann sucht Frau für künstliche Befruchtung“, „suche Frau bis 30“, „Eheanbahnungsinstitut“.

Der Kollege kennt Klaus S. seit 35 Jahren, aber nicht so. Er hat den Eindruck, dass S. sich seine Erblindung nur einbildet. S. sagt, er werde zu keinem Psychiater gehen. Nach zwei Stunden geht der Kollege. Mach’s gut, Klaus.

Zwischen 19:13 und 1:15, die genau Zeit werden die Ermittler nicht klären können, sitzt das Paar am Küchentisch. Weil er ja nichts mehr sehen könne, bittet er sie, ihm noch ein Bier zu holen. Das siebte an diesem Abend. Sie sagt: Hol’ es dir selbst. Oder hol’ dir eine 25-jährige Polin, die das für dich macht. Steht auf, verlässt den Raum. Klaus S. geht in die Garage, schneidet anderthalb Meter gelbes Nylonseil von einer Rolle ab. Geht zurück ins Haus. Auf sie zu. Von vorne. Legt ihr das Seil um den Hals. Stranguliert sie, mindestens drei Minuten lang.

Tot.

Er schleppt sie ins Badezimmer, legt sie in die Duschtasse, verknotet den Hals an der Armatur. Es soll aussehen, als hätte sie sich erhängt. Er trinkt eine halbe Flasche Aquavit und legt sich Schlafen. Ins Ehebett.

Kapitel 2: Eingesperrt

Der Morgen danach, hell und sonnig, 15 Grad. Um 9:58 Uhr ruft Klaus S. den Kollegen an, der gestern zu Besuch war. Sagt, er könne sie nicht mehr finden. Könne nichts sehen. Dem Kollegen kommt das merkwürdig vor, er ruft den Rettungswagen. S. schlägt dem Notarzt mit der Faust ins Gesicht, weil der seine Blindheit anzweifelt. Die Polizei findet die Leiche im Bad. Um 11:50 Uhr.

Klaus S. wird auf der Wache befragt. Er erzählt von seiner angeblichen Erblindung. Eine Ärztin lässt ihn zwangseinweisen. Verdacht auf Psychose. Das Ordnungsamt soll ihn in eine psychiatrische Klinik fahren. S. aber bittet darum, ihn zum Friedhof zu bringen oder ihm die Todesspritze zu geben. Er wolle nicht mehr leben.

In den kommenden Wochen wird er diesen Wunsch noch öfter äußern. Nicht nur mit Worten.

Zwei Tage später, noch in der Psychiatrie, gesteht er die Tat. Und sagt, er könne jetzt wieder sehen. Die Ärzte stufen ihn als „gewahrsamsfähig“ ein. Am 18.05.2020, um 21:50 Uhr, kommt er in der JVA Köln an. Dort bleibt er nicht einmal 15 Stunden.

Schon am nächsten Tag versucht S., sich mit einer Antenne aus Metall die Pulsadern aufzuschneiden. Ein Sehnenstumpf liegt frei. Er muss ins Krankenhaus, genäht werden.

Wieder zurück, kommt er in einen besonders gesicherten Haftraum, eine leere Zelle, nur eine Matte zum Schlafen drin und eine Hocktoilette, in den Boden eingelassen. Hier werden Insassen untergebracht, die eine Gefahr für sich selbst darstellen.

22.05.2020, 12:26 Uhr: Ein Psychologe besucht Herrn S., auch der Bereichs- und Abteilungsleiter und der Anstaltsarzt sind dabei. S., nicht besonders fromm, so sagen Bekannte, fragt, ob jemand der Anwesenden gläubig sei? Er beginnt über die Tat zu reden, erzählt, der Teufel habe Besitz von ihm ergriffen. Es ist wirr. Spricht auch von Kinderpornografie, die ihm die Polizei untergeschoben hätte, um an sein Vermögen zu kommen. Bei Klaus S. wird nie Kinderpornografie gefunden werden.

Anschließend ruft der Abteilungsleiter die Staatsanwaltschaft an. Und teilt mit, nach seiner Ansicht und der des psychologischen Dienstes seien die Wahnvorstellungen von S. nur gespielt. Er wolle Schuldunfähigkeit imitieren. Eine ernsthafte Suizidgefahr sei bei S. nicht zu erkennen. Man befürchte, dass es zu weiteren „vorgespielten“ Suizidversuchen kommen könne.

Fünf Tage später versucht Klaus S. sich das Genick zu brechen. So sagt es eine Mitarbeiterin der JVA Köln später aus. Mehrmals rennt er mit dem Kopf gegen die Zellenwand. Bricht sich dabei offenbar den Schädel.

Er kommt in das Haftkrankenhaus in Fröndenberg, an der Grenze zum Sauerland. Auf die Intensivstation. Drei Wochen bleibt er dort, dann wird er in die JVA Aachen verlegt. Aus „Suizidprophylaxe“.

Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen

Kontakte | Hier wird Ihnen geholfen

Wir gestalten unsere Berichterstattung über Suizide und entsprechende Absichten bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details. Falls Sie sich dennoch betroffen fühlen, lesen Sie bitte weiter:

Ihre Gedanken hören nicht auf zu kreisen? Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Wenn Sie sich nicht im Familien- oder Freundeskreis Hilfe suchen können oder möchten – hier finden Sie anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote.

Telefonseelsorge

Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de

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Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention

Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de

In Aachen weiß die Anstaltsleitung offenbar, dass Klaus S. betreuungsintensiv ist. Vier Tage vor seiner Ankunft schreibt die Geheimschutzbeauftragte der JVA an den zuständigen Staatsanwalt eine Mail. Sie liegt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor. Die Beamtin will wissen, wie man mit S. umgehen soll. Fragt, ob seine Haftfähigkeit überhaupt schon geprüft worden sei. Eine halbe Din-A4-Seite voller Bedenken. Der Gefangene S. sei erheblich psychisch auffällig, habe bereits mehrmals versucht, sich im Vollzug umzubringen. Schrecke nicht davor zurück, „alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen“, gegen Wände zu rennen, sich Plastiktüten über den Kopf zu stülpen. „Der Gefangene scheint selber unter seinem Zustand zu leiden, da er im Krankenhaus um eine Vollfixierung bat“, schreibt sie.

S. in eine psychiatrische Klinik oder in eine forensische Psychiatrie zu verlegen, scheint keine Option. Die JVA-Mitarbeiterin kündigt an, wie sie in Aachen mit Klaus S. umgehen will. Wegen akuter Suizidalität will sie ihn erneut in einen besonders gesicherten Haftraum sperren lassen und – falls nötig – auch hier fixieren. Klaus S. darf nicht sterben.

Zumindest nicht so.

Der Staatsanwalt hat zu diesem Zeitpunkt längst ein psychiatrisches Gutachten beantragt. Darin soll auch geklärt werden, ob ein Gefängnis für S. der richtige Ort ist. Oder doch die Psychiatrie.

Am 26. Juli besucht ihn der Psychiater in Aachen, sie sprechen zwei Stunden und 18 Minuten. Klaus S. erzählt viel über sich, wenig über seine Frau. Der Gutachter kommt zu dem Schluss, dass S. nicht an einer überdauernden psychischen Störung leide. Allerdings attestiert er ihm, sich zum Tatzeitpunkt in einer schweren depressiven Episode befunden zu haben. Es ist das, was Laien eine schwere Depression nennen. Laut Experten ein „Lehrbuchbeispiel“ für eine maßgebliche Beeinträchtigung der freien Willensbildung.

Der Psychiater schreibt, es gebe keine Gründe, S. in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen.

Tatsächlich scheint sich Klaus S. kurz stabilisiert zu haben, klarer zu werden. Bis am 10. August die Staatsanwaltschaft Anklage gegen ihn erhebt. Auf einmal will S. seinen Anwalt nicht mehr sehen. Unterstellt ihm, er habe sein Haus gestohlen. Es kommt zu einem letzten Treffen, am 29. September. Fünf Minuten vielleicht. Der Anwalt erinnert sich, S. habe da wieder stark angeschlagen gewirkt. Er lässt sich entpflichten. S. bekommt einen neuen Verteidiger. Dem berichtet er wieder vom Teufel, den er diesmal in seiner Zelle gesehen haben will.

Am 3. November 2020 fällt den Beamten in der JVA auf, dass S. nichts mehr isst. Über mehrere Wochen geht das so. Er wird schwächer, weniger. In einer Mail spricht die Anstaltsleitung rückblickend von einem „sterbenden Gefangenen“.

Man könnte Klaus S. eine Magensonde legen, ihn zum Leben zwingen. Aber so einfach ist es nicht. Zwangsernährung ist ein massiver Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht. Die Hürden sind hoch, erst Recht seit das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 urteilte, dass nicht nur unheilbar kranken Menschen das Recht zu Sterben zugebilligt werden muss. Sondern auch solchen, die an der Sinnhaftigkeit ihrer eigenen Existenz zweifeln.

Der letzte bekannte Fall in der Bundesrepublik war die Zwangsernährung der RAF-Gefangenen in den 1970er Jahren. Sie gingen in den Hungerstreik, um ihre Haftbedingungen zu verbessern.

Aber Klaus S. streikt nicht, stellt keine Forderungen. Er will einfach sterben. Wobei, will er?

Am Ende wird die Frage stehen, ob Klaus S. noch entscheidungsfähig war. Ob er wusste, was er tut, oder ob ihn seine psychische Verfassung dazu gebracht hat, es zu tun. Die Behörden werden sagen, Klaus S. habe sich „zu keinem Zeitpunkt in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand befunden“. Experten werden das anzweifeln. „Da kommt jemand nach mehreren Suizidversuchen wieder in U-Haft – bei einem davon ist er mit dem Kopf gegen die Wand gerannt. Das ist schon eine sehr schwerwiegende Form, die zeigt, wie verzweifelt jemand ist. Dann zu sagen: Da gab es jetzt kurz danach eine Spontanheilung, das wirkt auf mich wie eine sehr weite Auslegung von Entscheidungsfähigkeit“, sagt etwa Alexander Schmidt, Rechtspsychologe an der Uni Mainz. Und ein Verfahrensbeteiligter, der S. auch in Haft erlebt hat, wird fragen: „Hätte man ihn nicht doch – etwa durch eine Zwangsernährung – aus dieser Krise herausholen können?“

In Aachen versucht man zunächst mit Worten Klaus S. davon zu überzeugen weiterzuleben. Gefängnispsychologen und Seelsorger besuchen S. in seiner Zelle. Man bietet ihm appetitanregende Medikamente an. Auch seine Vitalwerte werden nun regelmäßig kontrolliert. Sie werden täglich schlechter.

Als klar ist, dass Klaus S. nicht mehr lange überlebt, einen Tag nach seiner Verurteilung, am 3. Dezember 2020, wird noch eine Konsiliarpsychiaterin eingebunden. Sie schließt, so sagt die JVA, Gründe aus, die eine Zwangsernährung hätten rechtfertigen können.

S. wisse, trotz seiner Suizidankündingungen, trotz seiner Selbstmordversuche, trotz der Erzählungen von Dämonen und dem Teufel, trotz der Vorstellung, die Polizei und sein Anwalt wollten ihm sein Vermögen stehlen, trotz der schweren Depression, die der Gutachter bei ihm festgestellt hat, trotz der „depressiven Erkrankung“ von der der Richter im Urteil sprechen wird, was er da für eine Entscheidung trifft.

Und das respektiere man.

Über Monate hat der Staat mit Fixierung, kahlen Zellen und Kameraüberwachung, verhindert, dass Klaus S. sich gewaltsam das Leben nimmt. Nun erlaubt er ihm, in seiner Obhut zu verhungern.

Diese Entscheidung aber, so sagen mehrere Experten, sollte auf Grundlage eines aktuellen psychiatrischen Gutachtens getroffen werden. Doch das gibt es nicht. So teilt es das NRW-Justizministerium auf Anfrage mit. Vielmehr gibt es nicht einmal eine gesetzliche Vorschrift, so ein Gutachten anfertigen zu lassen.

Auf Nachfrage sagt die Leiterin der JVA Aachen, dass ihr nicht einmal das im Rahmen des Strafverfahren angefertigte psychiatrische Gutachten über Klaus S. bekannt war. Warum dies der JVA nicht vorgelegen hat, „ist nicht nachvollziehbar“, sagt Norbert Konrad, Professor für forensische Psychiatrie an der Berliner Charité. „Es hätte gerade in einem solch speziellen Fall von der JVA angefordert werden müssen.“

Dennoch hielt die Anstaltsleiterin es offenbar über einen Monat lang auch nicht für nötig, das zuständige Gericht oder das Justizministerium darüber in Kenntnis zu setzen, dass Klaus S. schon seit Wochen die Nahrung verweigert. Und vermutlich deshalb sterben wird. Dabei gibt es einen Erlass, der besagt, dass das Ministerium bei einem länger anhaltenden Hungerstreik benachrichtigt werden muss. Aber Aachen entscheidet sich zunächst für einen Alleingang. Bei einem Fall, den es so noch nie gegeben hat. Bei dem nicht nur das Leben eines Häftlings auf dem Spiel steht, sondern die Beteiligten riskieren, sich womöglich der fahrlässigen Tötung schuldig zu machen.

Am 4. Dezember 2020 sind die Werte von Klaus S. so schlecht, dass er erneut nach Fröndenberg verlegt wird. Erst vier Tage später, kurz vor seinem Tod, informiert die JVA-Leitung plötzlich doch das Ministerium. Zuerst per Mail das Sicherheitsreferat, einen weiteren Tag später das Medizinalreferat. Die JVA teilt ihrer Dienstherrin mit, es gebe da einen Häftling, der schon länger nichts mehr esse. Und versichert, er habe die „bewusste Entscheidung“ getroffen, sich „durch Sterbefasten das Leben zu nehmen“.

Kapitel 3: Die Politik

In der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik gab es nur einen Fall, der dem von Klaus S. ähnelt. 2014 in Baden-Württemberg. In der JVA Bruchsal hatte sich ein Insasse zu Tode gehungert, weil er der wahnhaften Meinung war, das Essen sei vergiftet. Eine Zwangsernährung hatten Anstaltsleitung und die zuständige Ärztin abgelehnt. Die Medizinerin musste sich vor Gericht wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen verantworten, der JVA-Leiter wurde suspendiert, Abteilungsleiter im Justizministerium entlassen. Der Fall löste eine mittlere Regierungskrise aus, der damalige Justizminister wies Rücktrittsforderungen zurück und kündigte stattdessen eine Reform des Strafvollzugs an. Er setzte eine Kommission ein, die den Umgang mit psychisch auffälligen Gefangenen überprüfen sollte. Ihr Abschlussbericht enthält 42 Empfehlungen, darunter etwa die Einrichtung von Ethikkomitees in JVAs.

In NRW ging der Fall von Klaus S. als Nummer 55 in die jährlich veröffentlichte Todesfall-Statistik der Gefängnisse ein. Als natürlicher Tod. In der Spalte Vorkommnis steht: „Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz“. In einer nicht-öffentlichen Sitzung der Vollzugskommission im Landtag, einem Gremium, das prüft, ob in den Gefängnissen alles sauber zugeht, macht das Ministerium den Tod von S. zur Randnotiz. Einzelheiten über den psychischen Zustand, den Haftverlauf, über die Suizidversuche seien unerwähnt geblieben, sagen zwei Kommissionsmitglieder unabhängig voneinander. „Diese Informationen wären essenziell gewesen“, sagt einer der beiden, „um bewerten zu können, ob der Mann wirklich an keiner psychiatrischen Erkrankung litt wie vom Ministerium mitgeteilt.“

Kapitel 4: Post mortem

Klaus S. stirbt am 13.12.2020 im Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg. Um 11:50 Uhr. Von Amtswegen wird ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Und nach drei Wochen wieder eingestellt. Es liege kein begründeter Verdacht auf eine Straftat vor, teilt die zuständige Staatsanwaltschaft Dortmund mit.

Der erste Strafverteidiger von Klaus S., Carsten Rubarth, erhebt heute schwere Vorwürfe gegen die Justiz. „Aus meiner Sicht hat der Strafvollzug hier vollkommen versagt", sagt er. „Die JVA ist verantwortlich für den Tod dieses Mannes.“ Sein ehemaliger Mandant hätte „in eine Psychiatrie gehört“.

Das Justizministerium wehrt sich gegen diese Darstellung, hält weiter daran fest, dass Klaus S. bis zu seinem Tod einen freien Willen gehabt habe. In einer Mail schreibt ein Sprecher: „Auch wenn es sich nach menschlichem Ermessen daher um einen tragischen Fall handelt, erlaubt das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person dabei auch Entschließungen, die aus medizinischen Gründen unvertretbar oder menschlich unvernünftig erscheinen."

Die Leiche von Klaus S. wird verbrannt. Am 12. Januar versammelt sich eine kleine Trauergesellschaft in der katholischen Gemeindekirche, 20 Rosenblätter sind bestellt. Es gab keine öffentlichen Bekanntmachungen zur Beerdigung, kein Hinweis im Schaukasten vor der Kirche, keinen im Gemeindeblatt. Die Urne wird ins Grab der Eltern gelassen, die Mutter hatte er bis zu ihrem Tod gepflegt. Obendrauf ein Holzkreuz mit seinem Namen. Wenige Wochen später ist es wieder verschwunden. Die einzige Angehörige der Familie S. ließ es entfernen. Sie will nicht, dass die Leute reden.

Nichts mehr soll an Klaus S. erinnern.