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Verhungerter HäftlingSo recherchierten unsere Reporter die Geschichte von Klaus S.

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Köln. – Alles begann mit einer Meldung der deutschen Presse-Agentur, am 26. Januar 2021. „Gefangener aus eigenem Willen verdurstet und verhungert“ stand dort als Überschrift. Und weiter: Es handele sich um einen 67-jährigen Mann, der in Nordrhein-Westfalen in Untersuchungshaft saß und im Dezember aus „unbekannten Gründen die Aufnahme von Nahrung eingestellt“ habe, schließlich im Haftkrankenhaus in Fröndenberg bei Unna an Organversorgen gestorben sei.

Uns kam das komisch vor. Verhungert und verdurstet? Wie soll das beides gleichzeitig gehen? Und muss man so jemanden nicht zwangsernähren?

Wir wollten wissen, was passiert war. Wer dieser Mann war. Was ihn dazu getrieben hat, über Wochen nichts zu essen, um schließlich aus dem Leben zu scheiden. Nur gab die Meldung kaum etwas über den Fall preis. Er sei wegen Totschlag angeklagt gewesen. Aber in welcher Justizvollzugsanstalt er inhaftiert war, ob es schon eine Gerichtsverhandlung gegeben hatte, das alles stand dort nicht.

Einzigartiger Fall

Also begannen wir nachzuforschen. Wir, das sind Jonah Lemm, Reporter im Ressort NRW/Story beim „Kölner Stadt-Anzeiger“, und Christian Parth, freier Journalist für viele renommierte Medien dieses Landes. Wir haben schon öfter zusammen investigative Recherchen gemacht, zu Rechtsextremen, der Vernetzung von CDU und AfD, zu Missständen bei Schlachtbetrieben.

Aber dieser Fall war anders. Gab es hier überhaupt etwas aufzudecken? Schon in der ersten dpa-Meldung las sich die Rechtfertigung der Behörden eigentlich recht schlüssig: Der Mann sei bis zum Schluss Herr seines Willens gewesen, deshalb hätte er gar nicht zwangsernährt werden dürfen. Recht auf Selbstbestimmung, im Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht zudem geurteilt, dass jedem Menschen das Recht auf den freien Tod zugebilligt werden muss.

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Jonah Lemm ist Reporter im Ressort NRW/Story beim "Kölner Stadt-Anzeiger".

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Christian Parth arbeitet als freier Journalist für viele renommierte Medienhäuser in Deutschland, unter anderem auch für den "Kölner Stadt-Anzeiger".

Es habe auch ein Todesermittlungsverfahren gegeben, stand in der Meldung, von Amtswegen eingeleitet, doch das wurde schnell eingestellt. Weil es keinen begründeten Verdacht auf eine Straftat gegeben hätte.

Nach einem ersten Telefonat mit einem Insider aber war uns klar: Selbst wenn es hier keinen Skandal gibt, den wir auch nie bewusst gesucht haben – es gibt in jedem Fall eine Geschichte zu erzählen. Es sei, so berichtete es unsere Quelle und so bestätigte es auch das Justizministerium später, ein einzigartiger Fall in der NRW-Justizgeschichte. Dass ein Häftling sein Recht auf den Freitod geltend macht, dass er durch „Sterbefasten“ langsam stirbt, das habe es noch nie gegeben.

Recherche führte bis ans Grab

Wir fragten die zuständigen Stellen an, die Staatsanwaltschaft in Dortmund, die Landesjustizvollzugsdirektion. Wollten wissen, wo wir mehr über den Fall erfahren konnten. Bekamen Aktenzeichen genannt. Und fanden schließlich die Geschichte von Klaus S., einem ehemaligen Tüv-Ingenieur aus Sankt Augustin, der in der Corona-Krise zum Hypochonder geworden war und schließlich seine Ehefrau, mit der er seit 33 Jahren verheiratet war, im Rausch erdrosselte. Wir fanden auch heraus, dass ein psychiatrischer Gutachter ihn zumindest zum Zeitpunkt der Tat eine schwere depressive Episode attestiert hatte. Es ist das, was Laien eine schwere Depression nennen. Im Urteil, das uns mittlerweile vorlag, sprach der Richter noch elf Tage vor dem Tod von Klaus S. von einer „depressiven Erkrankung“.

Lesen Sie hier die Geschichte von Klaus S., einem Diplom-Ingenieur aus Sankt Augustin, der seine Frau erdrosselte, und in der Haft nach mehreren Selbstmordversuchen beschloss, nicht mehr zu essen und zu trinken. Es ist ein einmaliger Fall in der Justizgeschichte von NRW.

War der Mann wirklich Herr seines Willens gewesen, als er beschloss, zu verhungern? Die Recherche führte uns in Anwaltskanzleien, zu den Schauplätzen des Geschehens, dem Einfamilienhaus der Eheleute S., schließlich standen wir im Mai am Grab von Klaus S. Und fanden nur durch Glück heraus, dass er dort überhaupt begraben liegt, weil sein Name nicht auf dem Grabstein steht, nichts mehr an ihn erinnert.

Über Monate hinweg sprachen wir mit Menschen, die Klaus S. und seine Frau kannten, mit Verfahrensbeteiligten, Medizinethikern, Medizinrechtlern, Rechtsmedizinern, Psychiatern, Psychologen, Mitgliedern der Ethikkommission. Und werteten die Akten zu diesem Fall aus.

Daraus ergab sich das Bild eines Mannes, der schon in seinen ersten zwei Wochen in Haft versucht hatte, sich zwei Mal das Leben zu nehmen, einmal, indem er mit voller Wucht mit seinem Kopf gegen die Wand rannte. Der erzählte, Dämonen würden ihn auffressen, er sei vom Teufel besessen. Und dem die Behörden das alles lange nicht glaubten.

Am Ende bleibt die Frage offen, in welcher Verfassung sich Klaus S. befunden hat, bevor er starb. Auch, weil die Behörden, die in den Fall ab dem Zeitpunkt seiner Suizidversuche involviert waren, nur spärlich auf unsere Nachfragen antworten wollten. Nicht einmal Auskunft darüber geben wollten, ob Klaus S. vor seinem Tod noch einmal ordentlich psychiatrisch begutachtet worden war, so wie es alle Experten, mit denen wir gesprochen hatten, für notwendig halten, bevor man einen Menschen freiwillig verhungern lässt.

Mittlerweile wissen wir aus dem Justizministerium: Es gibt kein solches Gutachten im Fall von Klaus S., es besteht auch keine rechtliche Pflicht dafür. Wir wissen auch, dass die JVA das Gerichtsgutachten über die Depression nicht kannte. Dass sie einen Monat lang weder das Ministerium noch das Gericht darüber informierte, dass Klaus S. nichts mehr isst. Dass es auch dafür keine rechtliche Pflicht gibt.

Wir wissen, dass noch eine Konsiliarpsychiaterin bei Klaus S. war, einen Tag, bevor seine Werte so schlecht wurden, dass er ins Krankenhaus gebracht werden musste. Dass sie „Gründe, die eine zwangsweise Ernährung hätten rechtfertigen können“ ausschloss. Wie viel sie über den Fall, die Vorgeschichte von Klaus S. wusste, wissen wir nicht.

Keine Angehörigen

Wäre es Klaus S. besser ergangen, wenn er in eine Psychiatrie gekommen wäre, wenn man ihn gezwungen hätte, zu überleben? Darauf haben auch wir keine Antwort. Vielleicht aber hätte er in einer psychiatrischen Unterbringung mit einer entsprechenden therapeutischen Betreuung andere Möglichkeiten gehabt, klarere Gedanken zu seinem Sterbewunsch zu fassen. Vielleicht aber wäre er auch nach dieser Zeit zu dem Schluss gekommen, dass der Tod das Beste für ihn ist. Wichtig aber ist, dass selbst Menschen, die Unrecht getan haben, eine gerechte Behandlung verdienen.

Klaus S. ist am 13.12.2020 um 11:50 Uhr gestorben. Er hat keine Kinder. Über seinen Tod hat sich niemand beschwert.