Unser Kolumnist, der Astrophysiker Heino Falcke, der in Nijmegen lehrt, über den „Monstersieg“ des Rechtspopulisten Geert Wilders in der Parlamentswahl am 22. November.
Kolumne zur Niederlande-WahlDie Demokraten müssen sich zusammenraufen
Wer als Deutscher durch Amsterdam läuft, fühlt sich manchmal wie in einem riesigen Vergnügungspark. Pittoreske Fassaden und eine Unzahl kleiner Läden, die alles bieten, was Touristen so begehren: Käse, Kunst, Cannabis und Prostituierte – für jeden Geschmack etwas dabei und alles fein säuberlich dekoriert in den Schaufenstern.
Auch im politischen System hat man die freie Auswahl. 31 Parteien standen jetzt auf dem Wahlzettel, der so groß war wie die gedruckte Ausgabe des „Kölner Stadt-Anzeiger“. 15 dieser Parteien haben es tatsächlich ins Parlament geschafft – eine wahre Konsolidierung, denn zuvor gab es dort noch 20 Gruppen. So lebt das ganze Land aufgeteilt in viele politische Stämme und mit einer babylonischen Sprachverwirrung.
Diese Fülle hat Tradition. Im Gegensatz zu den Verhältnissen beim beharrlichen großen Nachbarn sind in den Niederlanden Veränderung im politischen System so alltäglich wie die Bewegung von Sandbänken und Dünen am Meer. Manches versandet schnell wieder, manches blüht auf, und das eine oder andere weht über die Grenzen zu uns, ob als warme Sommerbrise oder als heftiger Herbststurm. Nicht nur beim Wetter lohnt es sich daher immer wieder mal auf unseren kleineren Nachbarn zu schauen, denn auch bei uns bröckelt das Parteiensystem, gleichzeitig steigt der Wunsch nach einem politischen Schlaraffenland, in dem jeder das in der Auslage findet, wonach sein Herz verlangt. Auf jeden Topf ein Deckel – auch im Parteiensystem.
In den Niederlanden hat man dieses Prinzip ins Extreme getrieben. Zwei Tage vor der Wahl saß ich bei einem wissenschaftlichen Symposium im Amsterdamer Königspalast, wo mir ein bekannter Journalist stolz erklärte, durch diese Vielfalt sei es ihnen gelungen, die Rechtspopulisten in Schach zu halten. Nur zwei Tage später fiel allen die Kinnlade herunter. Nach Boris Johnson und Donald Trump stand schon wieder ein blonder rechter Retter als Sieger vor einer jubelnden Menschenmenge und versprach, einige in seinem Land groß und andere klein zu machen.
Mir war sofort wieder die berüchtigte Frage von Geert Wilders im Kopf, die er nach einer Wahl im März 2014 gestellt hatte: „Wollte ihr mehr oder weniger Marokkaner?“ – „Weniger, weniger!“, schrie die Menge fanatisch. „Na, das regeln wir“, war seine knappe Antwort. Ich hörte es damals live im Radio und zuckte zusammen. Das erinnerte mich doch an dunkelste Zeiten bei uns. Juden und Muslime fühlen sich inzwischen ziemlich unwohl. Manche Christen übrigens auch.
Kommt das alles überraschend? Nein, nicht wirklich. Nach mehr als einem Jahrzehnt Regierungsverantwortung und einigen Skandalen glaubte die rechtsliberale VVD unter ihrem ewigen Chef Mark Rutte, mit dem Wiederaufkochen des Asylthemas neue Energie zu bekommen. Sie ließ ihre Koalition platzen, organisierte Neuwahlen und schloss eine Zusammenarbeit mit der inzwischen schon etwas abgehangenen Ein-Mann-Partei des Rechtsauslegers Wilders nicht aus - eine Strategie, die hierzulande auch einem Friedrich Merz nicht völlig fernzuliegen scheint.
Auf einmal war das Thema Islam in aller Munde. Nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober ergoss sich dann auch noch die umwelt- und friedensbewegte Linke in pro-islamischen Demonstrationen auf die Straße, damit Palästina – vom Jordan bis ans Meer – doch bitte endlich befreit würde. Die leicht verwirrte Restbevölkerung außerhalb der großen Universitätsstädte verstand nicht sofort, wie das dem Klimaschutz dienen sollte, und wollte diese islamistischen Freiheitskämpfer dann doch lieber irgendwie draußen halten. Also erinnerte man sich an den wieder salonfähig gemachten Islamophobie-Experten Wilders und schenkte ihm einen Monstersieg. Den erreicht man in den Niederlanden übrigens schon mit etwa 25 Prozent der Stimmen – immerhin dreimal so viel, wie Wilders noch im Sommer desselben Jahres hatte erwarten dürfen.
Die sonst erfolgsverwöhnten Rechtsliberalen wurden rechts überholt und dürfen sich jetzt erstmal hinten anstellen. Die Christdemokraten sind zu einer Splitterpartei verkommen, während Grüne und Sozialdemokraten sich wie so oft auf die Opposition freuen dürfen. Schuld an der Klatsche ist natürlich der dumme Wähler, der von populistischen Trollen in den unsozialen Medien manipuliert worden sei. Zumindest sagen das die abgestraften Aktivisten in eben diesen Medien und kurbeln mit ihrem Geschrei das Geschäft derer nur noch weiter an, über die sie sich mokieren. Selber hat man natürlich gar keine Schuld.
Manchmal frage ich mich, ob der wichtigste Aktivismus dieser Zeit nicht der wäre, wieder zu lernen, sich zusammenzuraufen, anstatt sich immer weiter in immer kleinere und extremere Splitterguppen aufzuteilen, die immer lauter und selbstverliebter um Aufmerksamkeit buhlen. Natürlich ist es schöner, wenn alle meiner eigenen reinen Lehre folgen. Aber je kleiner die Parteien werden, desto extremer werden auch die Ausschläge.
Wenn die Demokratie unter Druck steht, dann müssen Demokraten sich eben zusammenraufen. Und unsere Demokratien stehen unter Druck. Wer das nicht begreift, hat den Schuss noch nicht gehört. Zusammenraufen ist vielleicht sogar die Kernkompetenz eines jeden echten Demokraten. In diesem Wort steckt sowohl „zusammen“ als auch „raufen“, und beides ist nötig: Die streitige Auseinandersetzung genauso wie der Zusammenhalt innerhalb bestimmter ethischer und moralischer Grenzen und unter Einbeziehung aller gesellschaftlicher Gruppen: Muslime, Christen, Juden, Atheisten und Agnostiker.
Wer glaubt, an den Rändern raufen zu müssen, stolpert irgendwann in die Tiefe und reißt vielleicht sogar uns alle mit. Gutes „zusammen raufen“ braucht aber auch gute Schiedsrichter und ein faires Publikum. In einer Demokratie sind wir das in Personalunion. Das bedeutet auch für uns, nicht auf jedes Lockangebot hereinzufallen, in jedem Geschäft zu shoppen und jedem Marktschreier auf den Leim zu gehen.
Ich muss dabei aushalten, dass am Ende nicht alles nach meiner eigenen Nase geht und nicht alles rundläuft. Etwas Raufen ist schon okay, aber eine Mannschaft, die nur aus wohlmeinenden Individualisten besteht wird nicht weit kommen. Das hat unsere Fußball-Nationalmannschaft gerade wieder eindrücklich bewiesen. Wir brauchen jetzt einen Ruck – aufeinander zu.