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Weltweit größte AusgangssperreIndiens Angst vor den Slums in der Corona-Krise

Lesezeit 7 Minuten

Budhu Bai lebt mit ihrem Mann, den vier Kindern und vielen anderen Menschen auf einem Feld unter einem Baum.

  1. Mit der weltweit größten Ausgangssperre versucht Indien den Corona-Kollaps zu verhindern. Bislang sind die Infektions- und Todeszahlen zwar noch relativ gering. Aber vor allem die Slums gelten als tickende Zeitbomben.
  2. Vielen Menschen könnte der Hungertod drohen, wenn sich das Virus in dem Land verbreitet.
  3. Reportage aus einem gelähmten Land.

Seit 44 Tagen sitzt Budhu Bai zusammen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern unter einem Maulbeerbaum und versucht, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Es ist heiß und die 35-Jährige kann sich Hunger und Durst nicht leisten. Sie weiß nicht, wann sie und ihre Familie das nächste Mal etwas zu essen und zu trinken bekommen werden. Die vierfache Mutter ist eine von Hunderttausenden Wanderarbeitern, die in Indien während der Corona-Krise gestrandet sind und jetzt vom Staat und Hilfsorganisationen versorgt werden müssen.

Um zu verhindern, dass im Land mit dem maroden Gesundheitssystem Hunderttausende sterben, hat die Regierung den weltweit größten Lockdown angeordnet. Die Lähmung des 1,3-Milliarden-Einwohner-Staates könnte unzählige Menschenleben retten, doch die Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und sozialen Zusammenhalt sind schon jetzt massiv und könnten die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens um Jahrzehnte zurückwerfen.

Eigentlich wollte Budhu Bai jetzt mit ihrem Mann und ihren 16 und 13 Jahre alten Söhnen auf den den Maulbeerbaum umgebenden Feldern im Bundesstaat Madhya Pradesh stehen und mit Sicheln Weizen ernten. 300 Rupien, umgerechnet rund 3,62 Euro, sollten die vier arbeitenden Familienmitglieder so pro Tag und Kopf verdienen. Nicht viel, doch für die Familie hätte es gereicht, um die von Juni bis September dauernde Monsun-Zeit, in der es viel regnet und wenig Arbeit für Erntehelfer gibt, irgendwie zu überstehen. Doch dann kam der Lockdown, manuelle Erntetätigkeiten wurden verboten, und Budhu Bai und ihre Familie verloren von einem Tag auf den anderen ihre einzige Einkommensquelle. Seitdem leben sie mit 18 anderen Wanderarbeitern und ihren insgesamt 17 Kindern unter dem Maulbeerbaum und warten, dass Premier Narendra Modi das Land aus dem künstlichen Koma erweckt. Sie warten ohne fließendes Wasser, ohne Toilette, ohne Strom, ohne Dach über dem Kopf und ohne Perspektive.

Weizenmehl und Kartoffeln

Wenn Budhu Bai sich erleichtern muss, wartet sie, bis es dunkel ist, denn auf den flachen Feldern ist es schwer, einen Fleck zu finden, der vor den Blicken der anderen geschützt ist. Einmal am Tag stellt der Bauer, für den sie zuvor gearbeitet haben, den Wanderarbeitern etwas zu essen hin. Es ist nicht viel und immer das gleiche: Weizenmehl und Kartoffeln. In Kanistern holen die Tagelöhner Wasser. Es reicht gerade, um in der Hitze den Durst zu stillen und sich vor dem Essen die Hände zu waschen. Mehr ist nicht drin. Seife gibt es nicht.

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Mahatma Gandhi Seva Ashram, eine lokale Partnerorganisation der Welthungerhilfe, versorgt die Gestrandeten mit zusätzlichem Weizenmehl, Linsen, Öl und Gewürzen. Außerdem hat die Hilfsorganisation Atemschutzmasken an die Menschen unter dem Baum verteilt. Eine Maske pro Person. In der Hitze des Tages fällt es schwer, durch die Gaze zu atmen, und nachts rücken die Menschen unter dem Baum so dicht zusammen, dass auch die leicht verrutschenden Masken keinen Schutz vor einer Infektion bieten können. In Indien, wo sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen keine Seltenheit sind, suchen Frauen und Mädchen vor allem nachts den Schutz der Gemeinschaft.

Die humanitären Helfer haben den Wanderarbeitern wiederholt versucht zu erklären, wie wichtig es ist, Abstand zu halten, um sich vor einer Infektion zu schützen, doch die Tagelöhner haben derzeit andere Sorgen als Social Distancing. „Ich weiß nicht viel über diese Krankheit“, sagt Budhu Bai. Sie, ihr Mann und die vier Kinder sind nie zur Schule gegangen. „Für mich ist der Lockdown schlimmer als der Virus. Ich darf nicht arbeiten und kann nichts für mich und meine Familie verdienen. Außerdem wollen wir nach Hause, um beim Rest unserer Familie zu sein“, sagt die Erntehelferin.

Tickende Zeitbomben

Doch das wird wahrscheinlich bis zum 17. Mai nicht möglich sein. Bis dahin hat Premier Modi den zunächst für 21 Tage geltenden Lockdown erneut verlängert. Mittlerweile hat die Regierung das ganze Land in grüne, orange und rote Zonen eingeteilt. In den roten Hotspots gelten weiterhin sehr strenge Regeln. In den orangefarbenen und grünen Zonen, in denen mindestens drei Wochen keine neuen Fälle aufgetreten sind, soll es Lockerungen geben. Delhi, Mumbai und andere Millionenmetropolen gehören zu den roten Zonen.

Die Wanderarbeiter sind in der Corona-Krise gestrandet und haben ihre Einkommensquelle verloren.

Die extrem dicht besiedelten Slums, in denen sich oft Hunderte Menschen eine öffentliche Toilette teilen müssen, gelten als tickende Zeitbomben. Seit dem 1. Mai bringen Sonderzüge gestrandete Arbeiter zwar zurück in ihre Heimat. Nach teilweise gewalttätigen Protesten müssen die meist mittellosen Arbeiter nicht mehr für den sogenannten „Arbeiter-Express“ bezahlen. Doch Budhu Bai und Hunderttausende andere Tagelöhner wissen noch nicht, wann und ob sie einen Platz an Bord bekommen.

Rigoroser als China

Selbst China ist nicht so rigoros gegen die Ausbreitung des Virus vorgegangen. Die indische Regierung tut es, weil sie weiß, dass sie keine andere Wahl hat. „Das Gesundheitssystem ist vor allem auf dem Land überhaupt nicht auf einen größeren Covid-19-Ausbruch vorbereitet. Die Folgen wären katastrophal“, so Christian Wagner, Indien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Testmöglichkeiten, Schutzausrüstung für das medizinische Personal – es fehlt an allem. „Auch wenn die Regierung jetzt viel unternimmt: Man kann im Gesundheitswesen nicht in wenigen Wochen die Versäumnisse von 70 Jahren nachholen“, so Wagner.

Nivedita Varshneya, Landesdirektorin der Welthungerhilfe in Indien, hält die jetzt ergriffenen drastischen Maßnahmen der Regierung deshalb für grundsätzlich richtig. „So schlagen wir uns im Kampf gegen das Virus bislang deutlich besser als viele andere Länder. Ohne diese Maßnahmen hätten wir wohl schon Hunderttausende Infizierte und Tausende Tote.“

Bisher gibt es in Indien nach Angaben der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität 49436 bestätigte Coronavirus-Infektionen, 1695 Menschen sind in dem Land demnach bisher an Covid-19 gestorben (Stand: Mittwoch). Da bislang aber wenig getestet wird, dürfte die Dunkelziffer sehr hoch sein. „Niemand kann derzeit zuverlässig sagen, wie sich Covid-19 in Indien entwickelt. Alle bereiten sich mit den begrenzten Mitteln auf das Schlimmste vor und hoffen auf das Beste“, sagt Jacob Goldberg, medizinischer Koordinator von Ärzte ohne Grenzen in Indien.

Noch Ende März hatte Ramanan Laxminarayan, Direktor des Zentrums für Krankheitsentwicklungen in Washington, davor gewarnt, dass Indien sich zu einem globalen Corona-Hotspot entwickeln könne und das Land sich auf einen „Tsunami von Corona-Fällen“ einstellen müsse. Um das Schlimmste zu verhindern, hatte Modi deshalb am 24. März in einer Fernsehansprache verkündet, dass er bereits vier Stunden später eine landesweit geltende strenge Ausgangssperre verhängen würde. In Indien arbeiten nach Schätzungen bis zu 90 Prozent aller Erwerbstätigen ohne Arbeitsvertrag im informellen Sektor, die meisten leben ohne soziale Absicherung und Rücklagen von der Hand in den Mund. Bis zu 40 Millionen Menschen sollen ihren minimalen Lohn als Wanderarbeiter verdienen. Ein Großteil von ihnen verlor durch den Lockdown über Nacht die Arbeit und oft auch die an den Job gebundene Unterkunft.

Tod durch Erschöpfung

Nach der Fernsehansprache des Premiers machten sich deshalb in einem Massenexodus binnen Stunden Hunderttausende Menschen, die fernab ihrer Heimat und ihrer Familien unter anderem auf Baustellen und Feldern schuften, überstürzt in überfüllten Bussen und Bahnen und auf den Dächern von Waggons auf den Heimweg. Als der öffentliche Personenverkehr eingestellt wurde, zogen Hunderttausende Verzweifelte in Trecks mit Kindern und Gepäck zu Fuß auf Straßen und Autobahnen weiter, einige legten Hunderte Kilometer zurück, einige starben vor Erschöpfung. Als die indischen Bundesstaaten ihre Grenzen schlossen, strandeten Hunderttausende.

Bei der Verhängung des Lockdowns habe die Regierung Fehler gemacht, findet Indien-Experte Christian Wagner. „Sie hätten vor allem den Wanderarbeitern sagen müssen: Bleibt, wo Ihr seid. Wir werden Euch dort versorgen.“ So hätte möglicherweise verhindert werden können, dass Wanderarbeiter das Virus in bis dahin nicht betroffene Regionen tragen. „Zwar hat Indien das größte staatliche Lebensmittelverteilungs-Programm der Welt und in der aktuellen Krise Tausende Gemeinschaftsküchen eingerichtet, aber es ist davon auszugehen, dass gerade jetzt viele Menschen durchs Raster fallen. Viele Wanderarbeiter stehen jetzt vor dem Dilemma: Sterben wir am Virus oder am Hunger“, so Wagner. Größere soziale Unruhen befürchtet der Experte dennoch nicht. „Dafür sind die Wanderarbeiter einfach zu verzweifelt. Im Zweifelsfall nehmen sie lieber die Mahlzeiten am Wegesrand an, statt sich einen aussichtslosen Kampf mit der mit der übermächtigen Polizei zu liefern.“

Auch Erntehelferin Budhu Bai hat nie einen Gedanken daran verschwendet, sich mit der Polizei anzulegen. Sie macht sich Sorgen, ob ihre vier Kinder satt werden. Heute. Und morgen.