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Zwischen Verstand und HetzeWas ist die Redefreiheit noch wert?

Lesezeit 8 Minuten
Mark Zuckerberg (L), chief executive of Meta, speaks with Amazon founder and owner of The Washington Post Jeff Bezos's partner Lauren Sanchez as Bezos (R) and Health Secretary nominee Robert Kennedy JR. (2nd L), before the inauguration of Donald Trump as the 47th president of the United States inside the Capitol Rotunda of the US Capitol building in Washington, DC, on January 20, 2025. Trump takes office for his second non-consecutive term as the 47th president of the United States. (Photo by Kenny HOLSTON / POOL / AFP)

Mark Zuckerberg, Herr über Meta und maßgeblicher Creator des Metaversums, verkündete den finalen Sieg der Meinungsfreiheit. Hier mit der Partnerin von Jeff Bezoes, Lauren Sanchéz, bei der Vereidigung von Donald Trump.

Elon Musk, die libertäre Bewegung und jetzt auch Mark Zuckerberg gerieren sich als Vollender der Redefreiheit – gegen angebliche Zensur und ein wokes Meinungsdiktat.

Die kurze, nur fünfminütge Rede verhieß Epochales: Mark Zuckerberg, Herr über Meta und maßgeblicher Creator des Metaversums, verkündete den finalen Sieg der Meinungsfreiheit. Der Wahlsieg Donald Trumps habe zu einem „kulturellen Wendepunkt“ geführt, dem man nun folge - was auch ein wenig an Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ vor über 30 Jahren erinnert.

Künftig will Zuckerberg bei Facebook und Instagram, wie bereits Elon Musk auf seinem sozialen Netzwerk X, auf Faktenprüfer verzichten und diese durch ein System von Community-Notizen ersetzen. Zunächst nur in Amerika. Statt professioneller Faktenchecker definiert die digitale Crowd dann, was „wahr“ und „falsch“, was lesenswert und cancel-würdig ist. Der Facebook-Erfinder verkauft das als konsequente Demokratisierung der digitalen Welt. Denn er sei es leid, der von Politik und traditionellen Medien stetig verfeinerten „Zensur“ zu folgen, so Zuckerberg sinngemäß. Nunmehr kehre man zu den Wurzeln zurück und befreie die freie Rede von ihren Fesseln.

„Free Speech“ verkommt zum Grabbeltisch

Er greift damit eine Stimmung auf, die populistische Bewegungen seit Jahren beharrlich füttern. Mit Erfolg: Als eine „Form von Gefühlsansteckung“ habe sich der irrige Eindruck, die Meinungsfreiheit erodiere, global stark verselbstständigt, beschreiben die Autorin Carolin Amlinger und der Autor Oliver Nachtwey in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“. Nach dem jüngsten Freiheitsindex des Instituts für Demoskopie Allensbach sind lediglich 47 Prozent der Befragten in Deutschland der Ansicht, man könne hier seine politische Meinung frei äußern.

Welche Gründe Zuckerberg am Ende tatsächlich zu einer Abkehr vom System der Faktenprüfung bewegt haben, wird wohl ewig ein Rätsel bleiben – um Redefreiheit geht es dabei aber nicht. Die wird in den sozialen Netzwerken zunehmend durch einen verwirrenden Meinungs-Konfettiregen ersetzt, der die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Argumenten mehr und mehr verkompliziert. „Free Speech“ verkommt zum Grabbeltisch, auf dem Behauptungen wie im Ramschladen verhökert werden, möglichst schrill, billig, bunt verpackt.

„Parrhesia“ im antiken Griechenland

Die sozialen Netzwerke werden so zu den Totengräbern des alten Menschheitstraums von der Redefreiheit, der in der Antike geboren wurde und dem die Aufklärung letztendlich weltweit zum Durchbruch verhalf.

Im antiken Griechenland war „Parrhesia“, die Redefreiheit, wörtlich übersetzt „über alles sprechen“, das ethisch-politische Fundament der Polis, des Stadtstaates, der ersten politischen Ordnung. Parrhesia umschrieb das Recht des freien Bürgers, in der öffentlichen Rede alles zu sagen. Ein ins Heute übertragenes Beispiel: Ein Freund will nach einem Restaurantbesuch in sein Auto steigen und losfahren, obwohl er drei Gläser Bier getrunken hat. Ein „Parrhesiastes“ hätten in diesem Fall die Pflicht, ihn zu überzeugen, lieber ein Taxi zu rufen oder zu Fuß zu gehen - selbst wenn der Freund daraufhin die Freundschaft kündigt oder gar handgreiflich wird.

Parrhesia, die antike Form der Redefreiheit, setzte eine glaubwürdige Beziehung zur Wahrheit voraus. Ein Diskurs also, in dem man offen und wahrhaftig seine eigene Meinung und seine Ideen ausspricht - frei von rhetorischen Elementen, manipulativen Reden oder Generalisierungen, wie das der französische Philosoph Michel Foucault beschrieb.

Was würde dieser antik verstandene Topos übertragen auf die heutige Zuckerberg-Musk-Debatte bedeuten? Von Parrhesia könnte nur dann in den sozialen Netzwerken gesprochen werden, wenn sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer offen und wahrhaftig und in einer glaubwürdigen Beziehung zur Wahrheit einbringen - Hass und Hetze wären Ausschlusskriterien.

Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen „Redefreiheit“ und dem Prinzip „Alles darf gesagt werden“ bei Immanuel Kant. Die Aufklärung definierte der Königsberger Philosoph bekanntermaßen als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Zuckerberg und Musk würden jetzt vermutlich argumentieren, Kants mündige Menschen müssen sich also vollständig von der Bevormundung emanzipieren, also auch vom Einfluss der „Faktenchecker“, Bundesprüfstellen, der FSK etc.

Doch das wäre zu kurz gesprungen, denn der Philosoph der Aufklärung hat nicht gefordert, dass im freien Diskurs alles gesagt werden müsse, was gesagt werden kann. Vielmehr wies er auf die wichtigste „Software“ des menschlichen Seins hin - den Verstand. Auf die Fähigkeit also, analytisch zu denken, Dinge richtig zu erkennen und zu beurteilen.

Kant stattete seinen Aufruf zur Emanzipation von allen Autoritäten mit einem wichtigen Korrektiv aus: Sagbar ist, was mit den Bordmitteln des eigenen Verstandes auch begründet werden kann. Beispiel: Die von Donald Trump aufgestellte Behauptung, „Sie essen die Hunde – die Leute, die reingekommen sind. Sie essen die Katzen“, gemeint waren haitianische Migranten in Springfield/Ohio, hätte als Tatsachenbehauptung weder vor der attischen noch der vor der kantschen Redefreiheit bestanden - und somit zum Ausschluss aus dem Diskurs geführt.

Wertet man dagegen Trumps Hunde-Katzen-Beispiel als „Meinungsbeitrag“, nicht als Tatsachenbehauptung, dann würde das Urteil milder ausfallen. Weil pluralistische Gesellschaften auch extreme Meinungen aushalten müssen, denn ohne Streit gibt es keine Demokratie. Die Unterdrückung einer Meinung sei „Raub an der Gemeinschaft aller“ - dieser Satz stammt von dem wohl einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts, dem britischen Philosophen John Stuart Mill.

Donald Trump kündigte bereits im Vorfeld seiner Präsidentschaft Zollerhöhungen an. (Bild: 2025 Getty Images/Chip Somodevilla)

Wahlkämpfer Donald Trump: Kein verantwortlicher Umgang mit der Wahrheit.

Die Meinung „erbleiche“ vor der Wahrheit, gab sich noch der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) überzeugt.

Meinungen sind heute viel verbreiteter

Doch seit Hegel sind 200 Jahre vergangen, „Meinungen“ sind heute viel verbreiteter. Vor allem im 20. Jahrhundert hätten Philosophen wie Edmund Husserl, der frühen Martin Heidegger oder Hannah Arendt eine „Rehabilitierung“ der Meinung betrieben, schreibt der Philosoph Christian Bermes von der Universität Koblenz-Landau. Heute ersetzt Meinung vielfach Wissen - ob es um die Gefährlichkeit des Coronavirus geht, die Beschaffenheit der Erde (vielleicht ja doch eine Scheibe?) oder die Haltung zum Ukrainekonflikt.

Auf Elon Musks Plattform X durfte die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel am Donnerstag unwidersprochen behaupten, Adolf Hitler sei ein „Linker“ gewesen - wollte sie damit eine direkte Linie zum verhassten „woken Mainstream“ ziehen? Nur Weidel selbst könnte klären, ob sie diese Aussage als Tatsachenbehauptung oder Meinung verstanden haben will.

Jenseits von „richtig“ oder „falsch“ gehen Philosophen von verschiedenen Wahrheitsverständnissen aus, die nebeneinander existieren können, bekanntestes Beispiel: das Glas ist gleichzeitig, je nach Wahrnehmung, halbvoll und halbleer.

Als Königsweg galt bislang, Meinungen argumentativ zu überprüfen, sie einzubetten. Doch auch dabei stieß man an Grenzen – wenn sich eine Meinung als weltanschauliche Position weder widerlegen noch beweisen ließ. Jenseits von „richtig“ oder „falsch“ gehen Philosophen von verschiedenen Wahrheitsverständnissen aus, die nebeneinander existieren können, bekanntestes Beispiel: das Glas ist gleichzeitig, je nach Wahrnehmung, halbvoll und halbleer.

Weil die Wahrheitsfindung bei Meinungen besonders schwer ist, genießen sie einen besonderen Schutz. Die so gewährte Meinungsfreiheit stößt lediglich da an (juristische!) Grenzen, wo eine Meinung die Würde von Menschen verletzt, wie im deutschen Grundgesetz von 1949 nachzulesen ist. Das historische Erbe der nationalsozialistischen Vergangenheit hat dazu geführt, dass die Grenzen des Sagbaren in Deutschland viel deutlicher umrissen werden als beispielsweise in den Vereinigten Staaten.

Meinungsfreiheit endet, wo ein Schaden für andere beginnt

Trotz dieser kulturellen Unterschiede - im Grundsatz können sich alle demokratischen Staaten auf diese Formel einigen: Die Meinungsfreiheit endet da, wo ein Schaden für andere Menschen beginnt. Denn wenn jeder unter Rückgriff auf die Meinungsfreiheit behauptet, was er will, ist am Ende eine Unterscheidung zwischen guten und schlechten Argumenten nicht mehr möglich. Das sprengt den Diskurs, im Zweifel sogar den Zusammenhalt von Gesellschaften.

Es gab und gibt viele Gesellschaften, wo die Grenzen des Sagbaren anders oder gar nicht definiert werden. Das kann verheerende Folgen haben.

Ein besonders grausames Beispiel dafür war das ostafrikanische Land Ruanda im Frühjahr 1994: Valérie Bemeriki vom Volk der Hutu hatte es in dem kleinen Land weit gebracht - als Starmoderatorin des populären Radiosenders „Radio-Télévision Libre des Mille Collines“ (übersetzt: Freie Rundfunkstadion der tausend Hügel), abgekürzt RTLM.

Das Studio des kleinen Senders war für ruandische Verhältnisse technisch gut ausgestattet. RTLM mit einem Mix aus ruandischer und westlicher Musik, losen Sprüchen zum politischen Geschehen und Talkrunden mit Prominenten aus allen Bereichen des dicht besiedelten Landes war äußerst populär.

Bekanntmachung an alle Kakerlaken, die uns hören. Ruanda gehört denen, die es derzeit verteidigen. Und ihr Kakerlaken, ihr seid keine Ruander.
Radio-Moderatoren Valérie Bemeriki und Kantano Habimana über Minderheit der Tutsi

Und Valérie Bemeriki, einzige Frau hinterm Mikro, war neben ihrem Kollegen Kantano Habimana der Star im Ensemble von RTLM. Es begann mit Frotzeleien über die kleine aber zumeist wohlhabendere Minderheit der Tutsi. Doch die Starmoderatoren Bemeriki und Habimana steigerten sich wortgewandt zu immer zotigeren, boshafteren Witzen über die Menschen, die etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. Im Frühjahr 1994 war dann nur noch von Kakerlaken die Rede.

„Bekanntmachung an alle Kakerlaken, die uns hören. Ruanda gehört denen, die es derzeit verteidigen. Und ihr Kakerlaken, ihr seid keine Ruander“, rappten die Moderatoren zwischen Songs wie „I Like to Move It“ von Reel 2 Real oder „Rape Me“ von Nirvana ins Mikro.

Mit Falschaussagen über angeblich verübte Grausamkeiten der Tutsi und den Hetzreden gegen die „Kakerlaken“ peitschte RTLM die Stimmung im Land gegen die Tutsi auf, die sich dann binnen weniger Wochen in einem Völkermord entlud, dem zwischen 800.000 und eine Million Angehörige der Tutsi-Minderheit, aber auch Tausende gemäßigte Hutu zum Opfer fielen.

Natürlich waren die Ursachen für den Genozid in Ruanda vielschichtig. Und der Weg vom „Hate Radio“ zu Zuckerbers Meta oder Musks X ist zugegeben ziemlich weit. Doch das Beispiel verdeutlicht auf drastische Weise, was mediale Resonanzräume auslösen können, wenn es ihren Entscheidern an dem fehlt, was im antiken Athen mit „glaubwürdige Beziehung zur Wahrheit“ gemeint war.