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„Viele fühlen sich überfahren“Wie das Baltikum mit der Aussetzung der US-Hilfe für die Ukraine umgeht

Lesezeit 6 Minuten
Das lettische Verteidigungsministerium wirbt mit einer Soldatin an einer Bushaltestelle in Riga für einen höheren Wehretat.

Das lettische Verteidigungsministerium wirbt mit einer Soldatin an einer Bushaltestelle in Riga für einen höheren Wehretat.

Litauen, Lettland und Estland gehörten bisher zu den stärksten Unterstützern der Ukraine. Ohne US-Unterstützung herrscht jedoch Verunsicherung.

Die baltischen Länder verstehen die Welt nicht mehr. Noch vor wenigen Wochen sahen sie sich Schulter an Schulter mit der neuen US-Administration unter Donald Trump.

Die Forderung des US-Präsidenten, die Nato-Staaten sollten jeweils fünf Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Verteidigung ausgeben, griffen sie sofort auf: Mitte Januar gab der litauische Präsident Gitanas Nauseda bekannt, dass sein Land die historische Entscheidung gefällt habe, den Rüstungsetat von derzeit gut drei Prozent des BIP auf sechs Prozent knapp zu verdoppeln.

Litauen unterstützte schnelle Erweiterung der Verteidigung

Kurz darauf erklärte der estnische Ministerpräsident Kristen Michal: „Der neue amerikanische Präsident Donald Trump hat deutlich gemacht, dass er eine Erhöhung der Nato-Verteidigungsausgaben auf 5 Prozent für notwendig hält. Die Leute fragen, was ich davon halte – ich unterstütze eine schnellere Erweiterung der Verteidigungsfähigkeiten“, sagte er im estnischen Rundfunk.

Und im Februar teilte auch Lettland mit, seine Verteidigungsausgaben weiter zu erhöhen. Im kommenden Jahr sollen 4 Prozent und in den darauffolgenden Jahren 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die Bewaffnung des Landes ausgegeben werden, verkündeten Regierungschefin Evika Silina und Verteidigungsminister Andris Spruds nach einer Kabinettssitzung in der lettischen Hauptstadt Riga.

Balten fragen sich, auf wessen Seite die USA stehen

Doch nun fühlen sich die Balten von der jüngsten Entfremdung zwischen den USA und der Ukraine überrumpelt. Der Eklat im Weißen Haus zwischen US-Präsident Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Ende vergangener Woche und die Aussetzung der Militärhilfe für die Ukraine Anfang dieser Woche lösen in den drei Ländern unterschiedliche Reaktionen aus. Diese reichen vom Schock über einen scheinbaren Neustart freundlicher Beziehungen zwischen den USA und Russland bis hin zu der Hoffnung, dass sich die aufgeheizten Spannungen zwischen Trump und Selenskyj in naher Zukunft beruhigen könnten.

„Viele Menschen im Baltikum fühlen sich von der drastischen Änderung der Rhetorik aus Washington in Bezug auf Russland und den Krieg in der Ukraine überfahren“, sagte Linas Kojala, Direktor des Zentrums für Geopolitik und Sicherheitsstudien (GSSC) in der litauischen Hauptstadt Vilnius, dem US-Hörfunksender „Radio Frei Europe/Radio Liberty“ (RFE/RL). „Die Menschen sind sehr überrascht, dass die Vereinigten Staaten plötzlich zu einem geopolitischen Akteur werden, der ähnliche Positionen wie der Kreml vertritt, zumindest in einem narrativen Sinne.“

Die jüngsten Schalmeienklänge zwischen den USA und Russland passen nicht zu der lang bestehenden Logik in den baltischen Ländern, vor den Russen zu warnen und die Nato dazu zu animieren, mehr für Rüstung und die Sicherheit des Baltikums zu investieren. Die kleinen Länder haben schon lange mit dem Druck und der Einmischung Russlands zu kämpfen und gehören zu den stärksten Unterstützern der Ukrainer in ihrem Kampf gegen den seit drei Jahren anhaltenden Angriff Russlands auf ihr Land.

Hoffnung, dass sich alles wieder einrenkt

Denn sie begreifen die Ukraine als ein Bollwerk gegen mögliche Militärinterventionen des großen russischen Nachbars in Bezug auf ihr eigenes Territorium: „Litauen räumt den Interessen der Ukraine Vorrang ein, weil das Land im Augenblick die Sicherheit Europas schützt und eine Bedrohung abwehrt“, sagt der litauische Parlamentarier Tomas Tomilinas. @media (prefers-color-scheme:dark) { #light { display: none; } .flourish-credit {background-color: #293845;} body {background-color: #293845;} } @media (prefers-color-scheme:light) { #dark { display: none; } }

Vor diesem Hintergrund setzen sich baltische Staats- und Regierungsvertreter jetzt für eine diplomatische Lösung ein, die die Ukraine nicht ins Abseits drängt und die Kluft zu den Vereinigten Staaten überbrücken würde: „Die Ukraine ist entschlossen, Frieden zu schaffen, aber es muss ein dauerhafter Frieden sein und nicht nur eine Pause, in der Russland Kräfte für weitere Aggressionen sammeln kann“, schrieb der estnische Außenminister Margus Tsahkna auf „X“, nachdem er mit seinem ukrainischen Amtskollegen Andrij Sybhia telefoniert hatte.

Der litauische Präsident Nauseda mahnte in Bezug auf die erkalteten amerikanisch-ukrainischen Beziehungen: „Das Wichtigste ist jetzt, dass die Verhandlungen nicht abbrechen und die Kontakte, die schon viel früher geknüpft wurden, nicht von Emotionen überschattet werden.“ Das bahne sich seinem Eindruck nach allerdings schon an: „Ich kann bestätigen, dass die Ukraine und Präsident Wolodymyr Selenskyj alles tun, um die Ende letzter Woche aufgekommenen Gefühlsausbrüche beiseitezuschieben und sehr konstruktiv mit der US-Regierung zusammenarbeiten“, sagte Nausėda laut des litauischen Staatssenders LRT.

Dies werde nicht nur durch den Brief bestätigt, den Selenskyj Trump geschrieben und sich zu Friedensverhandlungen bereit erklärt habe, meinte er weiter: „Sondern auch sehr intensive Kontakte – nicht unbedingt auf höchster Ebene, sondern zu Spezialisten der US-Regierung – bringen mich zu der Überzeugung, dass sich die Haltung des Teams von Präsident Donald Trump gegenüber der Ukraine in naher Zukunft zum Besseren wenden wird.“

Kritisch abhängig von bisheriger Sicherheitsstrategie

Eine Abwendung des wichtigsten Nato-Mitgliedslandes USA von der Ukraine und das damit verbundene Signal würden die bisherige Sicherheitsstrategie der baltischen Länder denn auch sehr infrage stellen. Denn sie beruht in einem hohen Ausmaß auf den Nato-Truppen in Europa, wie Tobias Fella, Experte für Rüstungskontrolle beim Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), ausführt: „Nach bisheriger Logik der USA soll Deutschland – und daneben Polen – als Logistik-Hub, gewissermaßen als unsinkbarer Flugzeugträger, fungieren, von dem aus im Kriegsfall Gerät und Truppen nach Osten verschoben werden“, sagte er kürzlich dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Sollte die Trump-Regierung beschließen, die Zahl der auf dem Kontinent stationierten US-Truppen zu reduzieren, müsste die Lücke durch die Europäer rasch gefüllt werden, damit dieses Konzept noch aufgeht. Und von diesem sind die Balten kritisch abhängig.

Rüstungsetat seit 2014 hochgefahren

Denn ihre Verteidigungsausgaben sind gemessen am BIP zwar hoch, in realen Größenordnungen aber kaum in einer Dimension, um im Ernstfall einem russischen Angriff standhalten zu können. „Die baltischen Armeen sind ja wirklich klein“, verdeutlicht Fella. „Keine Kampfflugzeuge, keine Kampfpanzer.“

Litauen verfüge als stärkstes Militär der baltischen Staaten gerade mal über 25.000 Mann aktives Personal. Das Land habe seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 begonnen, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, die Wehrpflicht wieder einzuführen und die Armee zu modernisieren. Vilnius investiere nun in selbstfahrende Artillerie, in Schützenpanzer, Kurz- und Mittelstrecken-Flugabwehr-Systeme, in Helikopter und Panzer-Abwehrwaffen und wolle nun auch Leopard-Kampfpanzer anschaffen.

Doch nach wie vor seien die litauischen Verteidigungsausgaben mit 2,3 Milliarden Euro verschwindend gering, wenn man sie im US-amerikanischen oder auch nur im deutschen Kontext betrachte. „Für die Balten sind sechs Helikopter viel“, sagt Fella, „aber es ihnen auch klar, dass das im Kriegsfall nichts ist.“