Eirik Kristoffersen spricht über die Auswirkungen an Norwegens Grenzen und die Sorge der Nato vor einer erneuten Präsidentschaft von Trump.
„Wir haben nicht mehr viel Zeit“Norwegens Armeechef im Interview über die Bedrohung durch Russland
Eirik Kristoffersen ist seit 2020 Oberbefehlshaber der norwegischen Streitkräfte. Im RND-Interview spricht er über die Verteidigung gegen einen russischen Angriff, die Zusammenarbeit mit Russland und die Sorge der Nato vor einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump.
Herr Kristofferson, welche Auswirkungen hat der Krieg in Russland auf Norwegens Grenze?
Die Zahl der russischen Truppen an unserer Grenze ist stark zurückgegangen. Früher hatte Russland zwei Brigaden auf der Kola-Halbinsel und eine Brigade an der finnischen Grenze. Diese Streitkräfte wurden auf die Größe einer Kompanie reduziert, und die meisten Landstreitkräfte von der Kola-Halbinsel in die Ukraine verlegt. Ein Großteil der militärischen Ausrüstung, die sich in Grenznähe befand, wurde in die Ukraine gebracht und ist nun zerstört. Jetzt hat Russland keine Möglichkeit mehr, offensive Militäroperationen in unserer Nachbarschaft durchzuführen.
Das klingt positiv.
Ja, das sind gute Nachrichten für die Sicherheit im Norden. Nach meiner Einschätzung ist die Bedrohung durch Russland in unserer Region jetzt etwas geringer geworden, aber nur vorübergehend. Das eröffnet uns ein Zeitfenster, in dem wir unsere militärischen Ressourcen und Fähigkeiten verbessern müssen. Russland hat zwar die Zahl seiner Panzer nicht erhöht, weil es die meisten in die Ukraine geschickt hat. Aber wir gehen davon aus, dass es mit der Modernisierung und dem Wiederaufbau seiner Armee beginnen wird, sobald die Kämpfe aufhören. Die entscheidende Frage für Norwegen ist: Wie lange wird es dauern, bis Russland seine Streitkräfte neu aufgestellt hat?
Norwegen wappnet sich für den Ernstfall
Und was schätzen Sie?
Wir sehen jetzt, dass die russische Rüstungsproduktion stärker ist, als wir letztes Jahr gedacht haben. Zu Kriegsbeginn hatte ich noch gesagt, dass es mindestens drei bis fünf Jahre dauern würde, bis Russland sein Militär wieder aufgebaut hat. Das war vor zwei Jahren. Heute würde ich sagen, dass es wohl drei Jahre dauern wird, um die verlorenen Kräfte zu ersetzen und die Armee wieder aufzubauen. Wir müssen uns auf diese Situation vorbereiten und für den Ernstfall gewappnet sein. Wenn die Gefahr eines Angriffs auf Norwegen jetzt unmittelbar wäre, könnten wir nicht so viele Waffen in die Ukraine liefern. Doch im Moment ist die Gefahr eines Angriffs auf Norwegen nicht akut. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit, das möchte ich betonen.
Russland könnte Norwegen nicht nur zu Lande, sondern auch auf See bedrohen. Wie beurteilen Sie Russlands Ambitionen und Aktivitäten in der Arktis?
Wenn man sich Russland auf der Landkarte ansieht, kann man leicht verstehen, warum Russland sich selbst als Arktismacht bezeichnet. Die Arktis ist für Russland vor allem deshalb wichtig, weil sie reich an Ressourcen ist. Mit der Öffnung des nördlichen Seeweges durch die Eisschmelze gewinnt die Arktis noch mehr an Bedeutung. Die Verluste in der Ukraine haben Russland geschwächt, sodass die Bedeutung der nuklearen Abschreckung und der Atomflotte in der Arktis für Moskau nur noch größer geworden ist. Wir beobachten sehr genau, was die russische Atomflotte tut.
Russland und Norwegen teilen sich sgemeinsame Grenze
Haben Sie russische Provokationen bemerkt?
Von 2016 bis zum Beginn des Krieges in der Ukraine haben wir verstärkte Aktivitäten russischer Schiffe in der Arktis beobachtet, darunter auch große Manöver. Aber mit Beginn des Krieges haben wir kein aggressives Verhalten mehr gesehen. Nicht nur, weil sich Russland jetzt auf die Ukraine konzentriert. Sondern auch, weil Norwegen und Russland seit mehreren Hundert Jahren eine gemeinsame Grenze haben, ohne dass es zu feindlichen Aktionen gegeneinander gekommen wäre. Norwegische Soldaten, Schiffe und Flugzeuge patrouillieren regelmäßig in den Gebieten nahe der russischen Grenze. Wir haben unsere Zusammenarbeit mit Russland auf ein Minimum reduziert, aber wir müssen immer noch zusammenarbeiten, zum Beispiel bei Such- und Rettungsaktionen. Wir treffen uns weiterhin mit dem russischen Grenzschutz und unterhalten eine Hotline zwischen unserem Hauptquartier und dem Kommandeur der russischen Nordflotte, um Missverständnisse zu vermeiden.
Wenn Sie mit dem Grenzschutz und dem Kommandeur in Kontakt stehen, hat sich an der Kommunikation seit dem Krieg in der Ukraine etwas geändert?
Nein, wenn wir uns anschauen, wie die Russen auf Überflüge reagieren, wenn wir uns den Grenzschutz oder auch die Küstenwache bei der Zusammenarbeit in der Fischerei ansehen, dann verhalten sie sich immer noch so professionell wie vor dem 24. Februar 2022.
Kaum Verluste an Flugzeugen und U-Booten in der Ukraine
Sie haben eine fast 200 Kilometer lange Grenze zu Russland und beobachten die militärischen Aktivitäten in Grenznähe sehr genau. Was können Sie uns über die russischen Aktivitäten sagen?
Die Russen bilden zurzeit viele neue Wehrpflichtige aus und sichern ihre Stützpunkte nur noch mit einem Minimum an Kräften. Die Landstreitkräfte auf der Halbinsel Kola konzentrieren sich auf die Ausbildung neuer Truppen für die Ukraine, die dort andere Russen ersetzen sollen. Im Gegensatz dazu sind die russischen Luft- und Seestreitkräfte in einem sehr guten Zustand. Die Russen haben in der Ukraine kaum Flugzeuge und U-Boote verloren, sodass sie immer noch eine beträchtliche Anzahl in unserer Umgebung stationiert haben. Auch wenn Russland in der Ukraine viel militärisches Gerät verloren hat, verfügt es hier im Norden immer noch über eine ganze Menge. Wir dürfen Russland nicht unterschätzen.
Im März findet unter norwegischer Führung das Großmanöver Nordic Response statt, an dem auch deutsche Soldaten teilnehmen. Welche Rolle spielt dabei die veränderte Sicherheitslage?
Norwegen ist seit Langem Gastgeber für große Nato-Manöver mit deutscher Beteiligung, und es ist großartig, deutsche Soldaten hier bei uns zu haben. An der Art der Übungsszenarien hat sich nichts geändert. Was sich geändert hat, ist, dass Finnland jetzt Mitglied der Nato ist und Schweden einen Antrag gestellt hat und auf die Entscheidung wartet. Deshalb werden wir diese Übung nutzen, um die Integration Finnlands und Schwedens in die Nato voranzutreiben. Auch wenn Schweden noch auf die finale Aufnahme in die Nato wartet, wollen wir bei dieser Übung mit einem sehr engen Partner den Ernstfall proben. Außerdem beginnen wir mit der Ausbildung in größeren Verbänden und kombinieren Nordic Response mit einer U-Boot-Übung. Beide Übungen sind mit der gerade begonnenen Nato-Großübung Steadfast Defender verbunden, sodass wir in diesem Frühjahr viel zu tun haben werden.
Keine militärische Provokationen erwartet
Rechnen Sie mit einer Reaktion Russlands?
Es gibt immer irgendeine Reaktion von russischer Seite auf Manöver in Norwegen. Ich erwarte keine militärischen Provokationen von den Russen, aber sie werden genau beobachten, was wir tun. Sie wissen von der Übung und haben keinen Grund zu provozieren. Denn wir haben ihnen im Vorfeld klar gesagt, dass wir nur eine Übung wenige Hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt durchführen. Ich glaube aber, dass Russland Steadfast Defender nutzen wird, um Propaganda gegen die Nato zu verbreiten.
Der Krieg gegen Russland hat die Sicherheitslage in Europa grundlegend verändert. Welche zukünftigen Herausforderungen sehen Sie für die Nato-Armeen?
Alle Nato-Länder intensivieren jetzt ihre Verteidigungsbemühungen und geben wesentlich mehr aus als zu der Zeit, als das Zwei-Prozent-Ziel festgelegt wurde. Die Nato spricht jetzt von 2 Prozent als Minimum und nicht mehr als Maximum. Außerdem hat die Nato die neuen regionalen Pläne angepasst und sich auf die kollektive Verteidigung konzentriert. Jetzt ist es an uns, den militärischen Führern, dafür zu sorgen, dass diese Pläne funktionieren.
Was bedeutet das für Norwegen und seine Armee?
Für Norwegen heißt das, dass Schweden und Finnland in die Planungen einbezogen werden. Der Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands hat für die norwegische Armee zur Folge, dass wir unsere Streitkräfte weiter verstärken und sie von einem Bataillon auf fast eine Brigade mit rund 5.000 Soldaten aufstocken werden. Wir haben weitere Luftverteidigungssysteme angeschafft und werden in den nächsten Jahren noch mehr in die Luftverteidigung investieren. Wir müssen auch unsere Vorräte aufstocken und mehr Munition und Ersatzteile lagern. Darüber hinaus müssen wir die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich weiter ausbauen, um die Integration und Interoperabilität zu verbessern, aber auch um die Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit bei der Beschaffung von Rüstungsgütern zu prüfen.
Mehr Standardisierung in der Nato notwendig
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Wir haben zum Beispiel unsere Zusammenarbeit mit Deutschland intensiviert. Eines der wichtigsten Projekte, das wir derzeit durchführen, ist das U-Boot-Projekt, bei dem wir baugleiche U-Boote kaufen. Das ist auch die Zukunft der Nato. Wir brauchen mehr Standardisierung, wir brauchen mehr Interoperabilität und auch mehr Ausrüstung, die wir gemeinsam nutzen und gemeinsam kaufen. Und Norwegen und Deutschland gehen bei der Beschaffung von U-Booten mit gutem Beispiel voran.
Wie bereitet sich die Nato darauf vor, dass Donald Trump vielleicht erneut US-Präsident wird?
Zunächst einmal handelt es sich in den USA um eine demokratische Wahl, und das amerikanische Volk kann den Präsidenten wählen, den es für den besten hält. Aber es ist sowohl im Interesse Europas als auch der USA, eine starke Nato zu haben. Trumps Hauptkritik an den europäischen Ländern war, dass sie nicht genug für die Verteidigung ausgeben würden. Auch Präsident Barack Obama sagte, dass die Europäer in der Nato einen größeren Anteil an den Verteidigungskosten übernehmen müssten. Inzwischen hat sich die Situation völlig verändert, alle Länder haben ihre Verteidigungsausgaben erhöht.
Ist also die Botschaft an Trump, dass sich Europa bereits geändert habe?
Ich denke, Trump hat das verstanden. Aber wie Obama schon sagte, müssen die europäischen Länder in Zukunft eine größere Verantwortung in der Nato und in Europa in Sicherheitsfragen übernehmen.