Bezahlbares Wohnen macht von der Leyen jetzt zur Chefinnensache und will die bisher nationale Wohnungsbaupolitik auf EU‑Ebene heben.
„Keine Ware“EU-Chefin von der Leyen packt Bauplan für Wohnungskrise aus – Sofortmaßnahmen angekündigt
„Wohnraum ist keine Ware“ steht mit roter Farbe auf einem weißen Plakat bei einer Demonstration in Berlin, „Touristen raus“ auf einem Pappschild bei einem Protestzug in Barcelona. In vielen Städten Europas gingen in diesem Sommer Tausende auf die Straße, um für bezahlbare Wohnungen zu demonstrieren. Allein in Berlin kamen zu einer der größten Demonstrationen seit Jahren gegen hohe Mieten mehr als 12.000 Menschen. In 50 Städten und Gemeinden nahmen viele weitere an einem deutschlandweiten Aktionstag teil, unterstützt von Gewerkschaften, Mieterschutz- und Sozialverbänden.
Mehr als 1000 Euro (kalt) kostet eine 60-Quadratmeter-Wohnung im Schnitt in Berlin, Frankfurt und Freiburg, einigen der teuersten Städte zum Wohnen in Deutschland. Leisten können sich das inzwischen immer weniger Menschen. Dabei liegt der Mietpreis in vielen europäischen Großstädten, etwa Barcelona und Paris, noch deutlich darüber. „Europa befindet sich in einer Wohnungskrise, von der Menschen jeden Alters und Familien jeder Größe betroffen sind“, räumte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel ein. „Die Menschen haben Mühe, eine bezahlbare Wohnung zu finden.“ Sie will das Thema jetzt zur Chefinnensache machen und hat Sofortmaßnahmen angekündigt.
Ein Novum in der Geschichte der EU
Dass sich Brüssel jetzt auch um günstige Wohnungen kümmern will, ist ein Novum in der Geschichte der EU. Bisher lag der Wohnungsbau in den Händen der Mitgliedstaaten. Einer der Gründe dafür sind die großen Unterschiede auf den Wohnungsmärkten in den EU‑Staaten. Ein Beispiel: Nur in Deutschland wohnt die Mehrheit der Menschen zur Miete, in allen anderen EU‑Ländern besitzen die meisten ein Haus oder eine Wohnung. In Rumänien wohnen 95 Prozent in den eigenen vier Wänden, in Polen 87 Prozent und den Niederlanden 70 Prozent. Dort treiben die Menschen oft nicht hohe Mieten, sondern andere Probleme um – in den Niederlanden etwa stark gestiegene Kaufpreise, in Osteuropa häufig hohe Energiekosten sanierungsbedürftiger Häuser. Wie kann die EU auf die vielen Probleme reagieren?
Für die Mammutaufgaben will von der Leyen erstmals einen Wohnungskommissar einsetzen. Er soll mit viel Geld das schaffen, was die Staaten bisher nicht geschafft haben: wohnen bezahlbar machen. „Wir werden einen europäischen Plan für erschwinglichen Wohnraum entwickeln, um alle Ursachen der Krise zu untersuchen“, kündigte die EU‑Chefin an.
Vor allem in deutschen Ballungsgebieten ist bezahlbarer Wohnraum rar. Vielerorts übersteigt die Nachfrage das verfügbare Angebot an Wohnungen. Werden neue Häuser gebaut, dann liegen die Mietpreise häufig am oberen Ende der örtlichen Durchschnittsmiete. Gleichzeitig ist die Zahl der Sozialwohnungen deutlich gesunken. 1990 gab es noch mehr als 2,8 Millionen Wohnungen mit sozialer Bindung, heute sind es nur noch rund eine Million. Denn nach 25 oder 30 Jahren fallen viele Wohnungen aus der Zweckbindung.
Zum Vergleich: Nicht einmal 3 Prozent aller Mietwohnungen in Deutschland sind noch Sozialwohnungen, in den Niederlanden sind es dagegen 34 Prozent. Anzeichen dafür, dass es bald wieder mehr Sozialwohnungen gibt, sind nicht zu erkennen – im Gegenteil. Es gebe eine „noch weiter wachsende Investitionslücke bei Sozialwohnungen und erschwinglichem Wohnraum“, heißt es in Brüssel. Erst durch EU-Mittel könnten wieder mehr Sozialwohnungen gebaut werden, als aus der Zweckbindung fallen.
„Liquiditätsspritze“ als Soforthilfe
Mindestens 100.000 neue Sozialwohnungen pro Jahr und damit viermal so viele wie bisher hält die Initiative Mietenstopp für nötig, die den deutschlandweiten Aktionstag organisiert. Dies ist auch das Ziel der Bundesregierung, das aber nie erreicht wurde. Bund, Länder und Kommunen müssten zudem mehr Wohnungen aufkaufen, kommunale Wohnungsunternehmen stärken – und mehr bezahlbare Mietwohnungen bauen.
EU-Chefin von der Leyen will als Erstes mit mehr Geld helfen. Als Sofortmaßnahme hat sie den EU-Staaten nun eine „Liquiditätsspritze“ versprochen, damit sie die Investitionen in bezahlbaren Wohnraum verdoppeln können. Wie viele Wohnungen in Deutschland zusätzlich gebaut werden können, ist noch unklar. Dagegen fehlen der EU für ein eigenes Wohnungsbauprogramm die Mittel, sagt EU‑Politiker René Repasi (SPD). „Wir könnten mit EU-Geldern zwar Wohnhäuser bauen, aber das wäre nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.“ Viel mehr könne die EU mit einer Kofinanzierung der Bauprojekte ausrichten. Attraktiv daran sei, dass die Mitgliedstaaten EU-kofinanzierte Projekte bei der Berechnung ihrer Schuldenquote außer Acht lassen dürfen. „Die Staaten können also einen großen Ausgabeposten in ihrem Haushalt schaffen, der nicht den EU-Schuldenregeln unterliegt“, so Repasi im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.
Es sind viele Leitplanken, die Brüssel neu justieren und so den EU-Staaten mehr Möglichkeiten an die Hand geben will. Dies beginnt bereits bei der Frage, inwiefern der Staat überhaupt in den Wohnungsmarkt eingreifen darf, wenn es immer weniger Wohnungen gibt und die Mieten drastisch steigen. In vielen Fällen tun Landesregierungen dies bereits. In mehr als der Hälfte der Bundesländer gibt es ein Zweckentfremdungsverbot, das die Vermietung von Wohnungen ohne Genehmigung über Plattformen wie Airbnb verbietet. Dies gilt beispielsweise (in Teilen) von Berlin, Niedersachsen, Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.
Gericht prüft Zweckentfremdungsverbot
Das Problem: Die Vermietung von Ferienwohnungen ist eine Dienstleistung und diese muss eigentlich jeder in der EU anbieten dürfen. Sonst liegt ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit vor, eine der europäischen Grundfreiheiten. Ob das zulässig ist, darüber verhandelt gerade der Europäische Gerichtshof wegen des Zweckentfremdungsverbots in Berlin. Die EU könnte aber Ausnahmen zulassen, um mehr Wohnraum für alle und weniger Ferienwohnungen für Airbnb zu ermöglichen.
In Florenz dürfen bereits keine neuen Wohnungen mehr für die Vermietung angemeldet werden, in Wien ist eine Genehmigung nötig. Aber nirgendwo sind bisher so drastische Maßnahmen ergriffen worden wie in Barcelona. Dort ist die Vermietung privater Wohnungen an Touristen ab 2029 komplett verboten. SPD-Politiker Repasi hat Sympathien für das Barcelona-Modell.
Das Parlament könnte sich nun dafür einsetzen, dass dieses Modell auch andere Städte nutzen können. Ob sich aber die Wohnraumkrise allein dadurch lösen lässt, bezweifelt er. „Kurzzeitvermietung ist eine so attraktive Einnahmequelle, dass die Unternehmen andere Wege finden werden“, sagt er. Schon jetzt befürchten manche in Barcelona, dass die vielen Apartments einfach zu einem Aparthotel werden. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel.
Von der Leyen kündigt vereinfachte staatliche Förderung an
Eine größere Wirkung verspricht sich die EU von anderen Stellschrauben, um die Wohnungsnot zu bekämpfen. Bei Ausschreibungen für kommunale Wohnungsbauprojekte könnte die EU vorschreiben, wie groß der Anteil an Sozialwohnungen sein muss oder dass die Miete eine bestimmte Höhe nicht übersteigen darf.
Von der Leyen hat zudem angekündigt, dass die Kommission staatliche Förderungen für günstigen Wohnraum vereinfachen will. „Wenn ein Staat Geld in die Hand nimmt, um den Bau günstiger Wohnungen zu unterstützen, soll er das schnell und unbürokratisch tun können“, meint auch Repasi. Die EU‑Kommission solle daher nicht jahrelang prüfen, ob diese Förderung auch erlaubt oder eine zulässige Subvention ist.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund freut sich, dass Wohnungsbau künftig zu den Top-Prioritäten zählt. „Allein durch die Schaffung neuer EU‑Bürokratie ist jedoch noch keine einzige Wohnung gebaut“, warnt Geschäftsführer André Berghegger. „Die aktuellen Hemmnisse beim Wohnungsbau liegen insbesondere an extrem hohen Baukosten, überlangen Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie an fehlenden Flächen zur Realisierung von Wohnungsbauprojekten.“ Diese Probleme könne man nicht durch neue EU‑Strukturen lösen. Vielmehr seien eine hinreichende Finanzierung und mehr Vorkaufsrechte der Kommunen für Grundstücke nötig.
Wären Bauunternehmen angesichts von Rohstoff- und Personalmangel überhaupt bereit für einen Bauboom? Tim-Oliver Müller, Geschäftsführer der Deutschen Bauindustrie, hat keine Zweifel. In Deutschland gebe es kein Wohnungsbauprojekt, das aufgrund mangelnder Kapazitäten nicht gebaut würde. „Im Gegenteil: Aufgrund der derzeitigen Auftragsschwäche suchen die Unternehmen nach Möglichkeiten, ihre Beschäftigten auszulasten“, sagt er.
Wer aber gehofft hat, von der EU bald eine günstige Wohnung zu bekommen, den muss EU‑Politiker Repasi enttäuschen. Denn letztlich liegt es an den Mitgliedstaaten, dass sie die vielen Möglichkeiten auch nutzen. Am Ende müssen Bürgerinnen und Bürger in Europa wieder auf die Straße gehen, um bezahlbare Wohnungen einzufordern. (rnd)