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Applaus, ApplausDie Kleinen sind die ganz großen Helden der Corona-Krise

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Bücher lesen, mit den eigenen Stofftieren Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen. Die Langeweile zwingt Kinder, sich was einfallen lassen.

  1. In Deutschland leben mehr als elf Millionen Kinder bis 14 Jahre und knapp neun Millionen Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren.
  2. Deren liebste Freizeitbeschäftigung ist: Freunde treffen. Gefolgt von: draußen spielen. Geht jetzt aber gerade nicht so gut. Könnte es sein, dass die Kleinen gerade die großen Helden der Corona-Krise sind?
  3. Unsere Kölner Autorin schildert ihre Beobachtungen im Freundeskreis und in der eigenen Familie und hat mit Experten über die besondere Herausforderungen für Kinder gesprochen.
  4. Lesen Sie hier: eine Verneigung vor allen Söhnen und Töchtern.

Dieses Erlebnis hat sich eingebrannt. Geschehen während des ersten Interviews per Videotelefonie zu einer Zeit, in der man sich noch feuertrunken auf die digitalen Möglichkeiten der Kommunikation stürzte. Zoom, wie cool. Damals, vor knapp vier Wochen. Da kam während des Gesprächs ein Junge ins Bild gelaufen, der in vollendeter Höflichkeit ankündigte, dass sein Vater nebenan gleich anfangen werde zu bohren. Wegen des Vogelhäuschens. Die Mutter bedankte sich und der Sohn verschwand. Der Vater bohrte. Das Interview lief weiter.

Die Szene war so eindrucksvoll, weil sie viele Fragen aufwarf. Wie viele Vogelhäuschen wohl derzeit gebaut werden, wie rasant die Zahl der Haushaltsunfälle dabei steigt – und wie viele Kinder sich bereits mit ihren Eltern im Pandemie-Alltag eingerichtet hatten. Die irgendwie mitmachen bei den wechselnden Standards in der erzwungenen Familienzusammenführung. Nicht, dass man zur Betonung der Herausforderung eine Studie bräuchte, aber bitte: In Deutschland leben mehr als elf Millionen Kinder bis 14 Jahre und knapp neun Millionen Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren. Deren liebste Freizeitbeschäftigung ist: Freunde treffen. Gefolgt von: draußen spielen. Geht jetzt aber gerade nicht so gut.

Ballettunterricht in der Gruppe, Fußballtraining, Schwimmen – viele Sportarten fallen gerade flach. Lucia turnt deshalb vor dem Fernseher.

Keine Stock-Kämpfchen auf dem Bolzplatz, kein gemeinschaftliches Spucken auf der Rutsche, kein Abhängen mit der Clique, kein Flaschenkreisen, kein Knutschen. Stattdessen Begegnungen im Flur bei Tageslicht mit dem Vater. Gestatten, ich wohne jetzt häufiger hier.

Applaus, Applaus

Wenn es nur das wäre. Eltern bauen ihr Büro zuhause auf und die Schule zieht auch mit ein. Leise sein, Launen ertragen, Leistung bringen. Keine Ahnung, wie unsere Söhne und Töchter das hinkriegen. Aber viele kriegen es hin. Stichproben im Bekanntenkreis legen wenig überraschend nahe, dass bei den Eltern die Nerven blank liegen. „Mit den Kindern läuft’s aber eher unspektakulär, was soll man da sagen?“ Was man da sagen soll? Unspektakuläres ist doch das Beste, was einem derzeit passieren kann. Eltern, die das behaupten können, dürfen sich freuen. Oder können sich einfach mal bedanken. Dafür, „dass wir so schön zusammen leben und zusammen alles ein bisschen erträglicher ist, auch wenn wir anstrengend sein können“, schlägt die 15-jährige Paula in einer Nachricht an uns vor. Recht hat sie. Kinder, ihr macht das toll!

Isolation für Fortgeschrittene

Mein Applaus geht stellvertretend an die achtjährige Lucia aus Köln. Sie gehört zu den Fortgeschrittenen unter den Isolierten. Sie war eine der ersten, die einen Regenbogen ans Fenster malte, um zu zeigen, hier wohnt auch ein Kind, das eigentlich lieber mit seinen Freunden spielen würde, als Scheiben zu kolorieren. Die Mutter arbeitet in der Apotheke, der Vater ist Physiotherapeut mit eigener Praxis, da gingen Freunde lieber früh auf Distanz. Verständlicherweise, leider. Keine Geschwister, kein Garten, der Vater kämpft gegen den Bankrott, die Mutter gegen ihre Ängste um ihren Mann und vor der Krankheit. Es gab einen Moment der Verzweiflung, den die Mutter nicht mehr verbergen konnte. Sie brach in Tränen aus, das sei doch nicht ihr Leben. „Doch. Natürlich ist das jetzt unser Leben“, sagte Lucia und tätschelte das Mutterhaupt.

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Das ist genau das, wovor sich viele Eltern fürchten: die Rollenumkehr. Will keiner. Passiert aber nun mal, und ist, wenn man Psychologen fragt, verzeihlich. Es ist dann nicht weiter schlimm, wenn die Eltern erklären, was hier gerade passiert, ihre Kinder in den Arm nehmen und zu verstehen geben: Die Basis ist stabil, es wackelt hier und da, aber es besteht keine Einsturzgefahr. So könnte es gehen.

Die ersten Wochen

Eine mögliche Bestätigung dafür liefert Lucia nach zwei Wochen ohne Kinderkontakt. Wer sie fragt, wie es ihr geht, erhält ein vergnügtes Lächeln. Ganz okay. Es sei langweilig und schade das Ganze. „Aber guck mal.“ Sie hält das Puzzle mit den Delfinen in die Kamera, das sie gefühlt hunderte Male zusammengelegt hat. Sie macht sich jetzt gerne schön, hat das Schminkzeug ihrer Mutter entdeckt, versinkt in der Lektüre der „Schule der magischen Tiere“, hört Hörspiele. Manchmal geht sie mit der Mama spazieren und zählt die Hundehaufen auf dem Weg, von denen mehr als 20 in der Siedlung verteilt sind (echt jetzt?). Sie hat ihrer Lehrerin ein Bild gemalt und einen Brief geschrieben. Mit ihrer Freundin nebenan schreibt sie sich auch hin und her. „Was da drinsteht, ist aber geheim.“

Kein Vergleich

Man fragt sich unweigerlich, wie prägend so eine Trennung der Kinder von ihresgleichen sein kann. Sören Petermann, Soziologe und Professor an der Ruhr-Universität Bochum, winkt sofort ab, wenn die Sprache auf eine mögliche Corona-Generation kommt. Niemand kann seriöse Vorhersagen treffen. Erstens, weil niemand weiß, wie lange der Ausnahmezustand dauert. Und zweitens, weil es keinen Vergleich gibt: „Wir Soziologen haben für das massenhafte Phänomen der Isolation kein gesichertes Wissen.“ So etwas hat es schlicht noch nicht gegeben. Weder die Spanische Grippe, die Tschernobyl-Katastrophe, noch die Verbreitung von AIDS: Nichts hatte die Abschottung inklusive einem öffentlichen Rückbau des gesellschaftlichen Lebens mit Rücksicht auf andere zur Folge.

Petermann hat sich in eigenen Studien damit beschäftigt, wann und unter welchen Bedingungen sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen und kam zunächst zu dem Schluss, dass es ihnen in den untersuchten Städten relativ gut geht. Es gibt zwei herausragende Komponenten, die dieses Wohlbefinden beeinträchtigen: Wenn Heranwachsende von Gleichaltrigen ausgegrenzt werden. Und wenn der Bewegungsdrang unterbunden wird, der auch immer mit Erkenntnisgewinn einhergeht. Deshalb sei die abrupte Häuslichkeit derzeit schon problematisch. „Nicht, wenn es wenige Wochen dauert, wohl aber, wenn es Monate so weitergeht.“

Widerstandskraft ist gelernt

Wie leicht es einem Kind fällt, mit der Situation umzugehen, hängt davon ab, welche Bewältigungsstrategien es bereits erlernt hat und jetzt erfolgreich anwenden kann. „Es kann sogar sein, dass eine schwierige Situation ein Anlass ist, aus dem das Kind gestärkt hervorgeht, weil es in der Not nun für sich herausfinden muss, was ihm gerade guttut“, sagt Lena Scheel, Schulpsychologin in Köln. „Wie viel Hilfe das Kind benötigt, ist unterschiedlich.“ Klar allerdings ist, dass elterliche Liebe, Vertrauen und Geborgenheit die Resilienz begünstigen können – und es ist wunderbar zu sehen, dass bei Familien wie der von Lucia das alles vorhanden ist.

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Lucia aus Köln liest, turnt, puzzelt und pflanzt – und dann wieder von vorn.

Kinder fahren tatsächlich eindrucksvolle Manöver, um sich nicht unterkriegen zu lassen. Der zehnjährige Luis zum Beispiel hatte es satt, immer wieder vor lauter Langeweile an den Kühlschrank zu gehen. So wie es die Erwachsenen tun, die selbst nicht mehr wissen, wonach sie da eigentlich suchen. Die die Tür immer wieder aufmachen, als ob nicht doch noch eine Exit-Strategie zwischen all den abgelaufenen Grill-Soßen rumliegt.

Luis nahm sich stattdessen ein spanisches Kochbuch und kochte für seine Familie und die Nachbarn freitagabends unter dem Motto „Hoch die Hände, Wochenende“. Er kocht jetzt häufiger. Zur Verblüffung seiner Mutter, die außerdem freudig darauf hinweist, dass Eltern völlig neue Seiten an ihren Kindern kennenlernen. Ihr Jüngster, der fünfjährige Florin, ist unter den ganzen Zerstreuungsmitmachvideos ausgerechnet auf die Darbietungen des Berliner Staatsballetts angesprungen und dreht jetzt Pirouetten. Die achtjährige Paula bastelt Geschenke für ihre beste Freundin und legt sie ihr vor die Tür. Kinder schicken sich Rätsel, lesen einander Geschichten über Skype vor, verabreden sich per Walkie-Talkie, stellen sich Rechenaufgaben und müssen das Ergebnis hüpfen. Spielen mit ihren Stofftieren Mensch-ärgere-Dich-nicht und finden es okay, wenn sie dabei verlieren. Sie sprechen mit ihren Hunden, den echten. Sie backen Kuchen, mähen Rasen, spielen auf der Blockflöte die „Ode an die Freude“ auf dem Balkon, fordern von ihren Eltern sogar Zeugnisse ein. Sie nehmen sich, was sie brauchen. Sagen, was sie wollen. Sie tun was. Ist das nicht großartig?

Struktur heißt Schutz

Kinder sind anpassungsfähig und offen, wie wir es nur noch selten sind. Deswegen ist es wenig verwunderlich, dass Kinder, die ihre Musikschule jetzt digital besuchen, in den Bildschirm flöten, als wäre es ganz normal. Ist es ja jetzt auch. Der Digitalisierung sei dank, dass zumindest die Illusion einiger Alltags-Strukturen aufrechterhalten werden kann. Was alles möglich gewesen wäre, wenn man die Digitalisierung früher ernst genommen hätte? Und ja, die Struktur. Sie wird angemahnt, zu Recht. Interessant aber ist, dass viele sofort diese eine bürgerliche Variante im Kopf haben. Also die mit den drei Mahlzeiten, die man möglichst angezogen zu sich nimmt. Morgens Arbeit, nachmittags Federball, abends Kniffel und das Kind addiert alle Augen. Die Versuche, einer festen Ordnung konsequent zu folgen, sind allerdings schon gescheitert, aus Tageszielen werden Wochenziele, die Arbeit zerfällt in Fragmente. Es gibt Kinder, die ihre ganz eigene Ordnung festgelegt haben. Luis beschloss, seine Hausaufgaben noch vor dem Frühstück zu machen. Die achtjährige Sophia schläft manchmal bis elf und sitzt nachmittags freudig über ihren Aufgaben. Falsch kann das nicht sein, wenn die Kinder ausgeglichen scheinen, oder?

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Ihr tausendteiliges Puzzle hat Lucia schon lange fertig. Auch der Balkon ist mit Vergissmeinnicht bepflanzt.

Es geht nicht um starre Vorgaben. Eltern müssen gucken, was geht. Sich nicht fertig machen, wenn es nicht so läuft, wie Experten raten. Psychologin Scheel betont, worum es bei Struktur geht. „Dass sie ein Gefühl von Sicherheit schafft, weil sie Vorhersehbarkeit vermittelt und uns damit ein Gefühl von Kontrolle gibt.“ Und dies ist eben umso wichtiger, wenn gerade Dinge passieren, die wir als unbeherrschbar empfinden. „Deshalb brauchen Kinder im Moment mehr noch als sonst Aufgaben, kleine Verantwortungen und das Gefühl, wichtig zu sein.“

Kein Geld für Minusaufgaben

Jugendliche müssen aber auch große Aufgaben bewältigen. Sie legen ihr Abitur ab, obwohl im Geschichtsleistungskurs noch 30 Jahre fehlen und in Religion die Apokalypse nicht abschließend behandelt werden konnte. Sie sollen professionell abliefern, wo derzeit mit vermeintlich neuen Unterrichtsformen dilettiert wird. Jüngere sollen irgendwie im Schulstoff drinbleiben. Ebenfalls eine vielfach verbürgte Beobachtung: Wenn das Kind alleine über dem Arbeitsblatt sitzt, dauert es nicht länger als fünf Minuten, bis es Hunger hat. Oder müde ist. Den Kopf auf den Tisch legt. Früher war Boden Lava. Heute ist er ein schwarzes Loch. Woher soll die Motivation auch kommen? Für wen macht man das? Wozu? Es gibt nicht einmal Geld dafür, beschwert sich Annika, 8. Sie fragt sich, warum von uns allen, die jetzt gerade zu Hause arbeiten, nur der Vater Geld kriegt. Fürs Telefonieren! Es gibt nichts fürs Staubsaugen und schon gar nichts für Minusaufgaben. Ja, wie konnte das passieren? Die Evolution der Erwerbstätigkeit in modernen Gesellschaften zu erklären, kommt vielleicht noch zu früh. Aber solche Einlassungen jenseits des Regelbetriebs fachen die Hoffnung an, dass hier eine Generation heranwächst, die ein paar Systemfehler korrigieren könnte. Kinder stellen infrage. Ist doch ein schöner Nebeneffekt.

Also: Ohne Rückmeldung, wenig Motivation. Anerkennung wäre noch besser. Schön, wenn der Smiley von den Eltern kommt. Noch besser wären Lehrkräfte, die nicht nur mit Schul-, sondern auch mit Herzensbildung reagierten. Ein Hoch an dieser Stelle auf Lucias Lehrerin, die einen zweiseitigen Brief zurückschrieb. Der Inhalt ist geheim. „Das Papier war bis in die letzte Lücke vollgeschrieben“, verrät Lucia und ist in diesem Moment sehr glücklich.

Diffuse Ängste

„Für Kinder sind ihre Ängste gerade noch diffuser, als es für uns Erwachsene schon der Fall ist“, betont Scheel. Sie spürten vor allem die Ängste ihrer Eltern, und das kann deshalb so bedrohlich für ein Kind sein, weil der Erwachsene der sichere Hafen ist. „In der jetzigen Situation ist jedes Verhalten ein Versuch, mit ihr umzugehen, und in Ordnung.“ Es kann sein, dass zum Beispiel ein Kind, das längst im eigenen Bett schläft, wieder bei den Eltern schlafen möchte. Das ist nicht prinzipiell Anlass zur Sorge. Wer sich Rat holen will, kann beim Schulpsychologischen Dienst der Stadt anrufen.

Wie lange noch?

Die Frage lautet trotz aller verzweifelten Lockerungsübungen: Wie viele Vogelhäuschen noch? Keiner weiß es. Und keiner ist besser darin, von Tag zu Tag zu leben als ein Kind, ohne sich in der Gegenwart gefangen zu fühlen. Die Zukunft fällt jetzt eben auf die Nachmittage. Fragen wir noch mal Lucia. Wie läuft’s nach fünf Wochen, oder sind es sechs? Das tausendteilige Puzzle ist fertig, der Balkon bepflanzt, mit Vergissmeinnicht. „Dazu passen Margeriten.“ Sonst noch einen Tipp für uns alle? „Die Kochshow mit Tim Mälzer. Die liebe ich, weil er so krasse Schimpfwörter sagt. Darf ich mal eines sagen?“ Ja, sag mal (bleibt geheim). Danke, das tat gut, liebe Lucia.