Der AbwesendeWas macht es mit Kindern, wenn sie ohne den Vater aufwachsen?
Köln – Meine Eltern trennen sich, als ich in die zweite Klasse gehe. In meiner Erinnerung gab es keinen großen Knall, keinen Tag X mit gepackten Koffern und Türenknallen. Eher schleichend werde ich vor 22 Jahren, was heute etwa 2,4 Millionen Kinder in Deutschland sind: ein Trennungskind. Neun von zehn wachsen, wie ich, bei der Mutter auf. Das Phänomen ist nicht neu. Vor 70 Jahren traf es Soldatenkinder, deren Väter nicht aus dem Krieg zurückkamen, heute stammen wir aus Beziehungen, die nicht mehr für die Ewigkeit sind.
Trotzdem wissen Psychologen keine eindeutige Antwort auf die Frage, was es mit uns macht, ohne Vater aufzuwachsen. Einige Experten sprechen von einer lebenslangen Traumatisierung, andere warnen vor solchen Pauschalurteilen. Welche Faktoren bestimmen, ob die Psyche Schaden nimmt? Dies ist der Versuch einer persönlichen Antwort – und gewissermaßen einer Versöhnung.
Ich weiß nicht einmal mehr genau, wie ich mich damals gefühlt habe. Furchtbar vermutlich. Aber rückblickend erscheint mir die Trennung meiner Eltern irgendwie natürlich, nicht verhandelbar. Es war halt so, Papa zieht aus, richtig erklärt hat es mir keiner. Ich mache meiner Mutter keinen Vorwurf. Die gemeinsame Firma, das frisch bezogene Traumhaus, die Kränkung, nachdem er sie klischeehaft für eine zehn Jahre jüngere Frau verlässt und mit ihr schamlos, frisch verliebt durch unsere Kleinstadt läuft – das ist in dem Moment drängender.
„Die Mutter muss erkennen, dass das Kind den Vater braucht“
Unser Alltag ändert sich kaum, den hat sie ohnehin alleine bestritten. Er war auch vor der Trennung mehr ab- als anwesend, brachte mir von Geschäftsreisen Berge von Kuscheltieren mit. Um die 50 habe ich irgendwann, zwischen denen ich stolz thronte, wenn sie mir jeden Abend vor dem Einschlafen vorlas. Trotzdem hat sie nie schlecht über ihn gesprochen, mich jahrelang bestärkt, den Kontakt zu ihm zu suchen und zu halten.
Das alles erzähle ich Ramona Herczeg an einem verregneten Donnerstagmittag, wir sitzen in einem halb leeren italienischen Restaurant in einer tristen Einkaufspassage im Kölner Süden. Wir versinken in tiefen grünen Sesseln, vor uns schwarzer Kaffee und Latte Macchiato. Herczeg arbeitet als Psychotherapeutin in Bonn seit vielen Jahren mit Scheidungskindern. Sie rät den Müttern in ihrer Praxis, was meine instinktiv richtig gemacht hat: „Die Mutter muss erkennen, dass das Kind den Vater braucht. Auch wenn sie selbst tief verletzt wurde.“
Denn der Wunsch nach beiden Elternteilen ist in uns verankert, sind sich Psychologen einig. Spricht die Mutter schlecht über den abwesenden Vater, stürzt sie das Kind in einen schweren Interessenskonflikt. „Du bist wie dein Vater“ sei ein grausamer Ausdruck des Missfallens. Herczeg erinnert die Mütter dann regelmäßig: „Sie haben diesen Menschen einmal geheiratet, waren mit ihm zusammen. Er muss also auch gute Seiten haben.“
Der Vater ermutigt das Kind, furchtlos in die Welt zu treten
Aber wofür braucht man ihn nun eigentlich, den Vater? Anruf bei Matthias Franz, Professor für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Düsseldorf. Er beschäftigt sich in seiner Forschung seit 30 Jahren mit den psychischen Langzeitfolgen von abwesenden Vätern. Der Vater sei in der Familie tendenziell derjenige, der im Kind Neugier und Spielfreude weckt, erklärt er. Er ermutigt das Kind eher, furchtlos in die Welt zu treten, Risiken einzugehen, sich vielleicht weh zu tun und trotzdem weiterzulaufen. Er unterstützt das Kind dabei, sich spielerisch von der Mutter zu trennen. Das ist seine Rolle in der Familie. So will es auch die Gesellschaft von ihm.
„Wenn die Kleinfamilie als letzter übrig gebliebener Zellkern der Großfamilie auch noch zerbricht, ist diese Kernspaltung – also die Trennung der Eltern – besonders für kleine Kinder ein halber Weltuntergang“, fasst Franz zusammen. Das gelte besonders, wenn es den Eltern nicht im gegenseitigen Respekt gelingt, ihre Beziehung zum Kind zu halten.
In meinem Fall folgen auf den halben Weltuntergang viele mühsame Jahre, die andere Hälfte der Welt zu erhalten. Mein Vater bekommt mit der anderen Frau noch ein Kind, verlässt auch sie, noch ein vaterloses Kind, zieht viel um, hat neue Beziehungen, mal bin ich am Wochenende willkommen, mal eher nicht. Er hinterlässt dort, wo er war, verbrannte Erde, gekränkte Menschen, Schulden, trinkt nach jedem gescheiterten Neuanfang zu viel. Und ich werde parallel langsam erwachsen, will meine Wochenenden irgendwann lieber mit meinen Freundinnen auf dem Schützenfest, anstatt auf seinem nach kaltem Rauch riechenden Chesterfield-Sofa vor dem Fernseher verbringen.
Besonders Jungen brauchen Väter als Rollenvorbild
Wir entfremden uns, ganz klassisch, wie viele Teenager und ihre Eltern. Es gelingt ihm seltener, ein glaubhaftes Interesse an mir und meinem Leben vorzuheucheln und ich gebe ihm seltener die Gelegenheit dazu. In welche Klasse ich gerade gehe, weiß er nicht, was ich studieren will, ist irrelevant. Ich zahle es ihm mit derselben Gleichgültigkeit heim.
„Es ist nicht die Aufgabe des Kindes, den Weg zum Vater zu finden“, sagt Herczeg, als ich davon erzähle. Aber sie sagt auch: Männer, die zu viel trinken, sind oft schwache, liebe Menschen, die dem Druck der Gesellschaft nicht gewachsen sind. Männer müssten immer die Starken sein, dürften nicht über ihre Gefühle reden. Viele abwesende Väter hätten selbst kein gutes Verhältnis zu ihrem eigenen Vater und deshalb nie gelernt, wie sie diese Rolle ausfüllen können. Als Frau zu suggerieren, dass Männer prinzipiell die Bösen sind, sei falsch, sagt Herczeg. „Überlegen Sie sich, was das mit einem Kind macht, besonders mit einem Sohn.“
Auch laut Franz leiden Jungen generell noch mehr unter einer konflikthaften elterlichen Trennung. Ihnen fehlt häufig der Vater als Rollenvorbild, als Identifikationsfigur. Jungen brauchen Väter, sagt der Psychoanalytiker, um selbst zu empathischen und selbstbewussten Männern zu werden.
Unsere Begegnungen sind kurz und oberflächlich
Gerade für ihre psychosexuelle Entwicklung sind noch mehr als bei Mädchen beide Elternteile wichtig. Aus der Bindungsforschung sei bekannt, dass ein Vater einen Sohn instinktiv anders behandelt als eine Tochter. „Jungen werden höher in die Luft geworfen“, sagt Franz. „Kleine Mutproben sind ein exquisit väterliches Funktionsfeld.“ Das könne eine Mutter nur bedingt ersetzen. Wird der Vater von dieser zusätzlich als Paradebeispiel für schlechtes männliches Verhalten angeführt, gerät der Junge in einen schweren Loyalitätskonflikt. Viele sähen sich außerdem gezwungen, viel zu früh eine väterliche Rolle in der Familie zu übernehmen, um die Leerstelle zu füllen.
Diese Einwände können für mich nichts entschuldigen, aber rückblickend viel erklären. Auch mein Vater wuchs ohne Vater auf. Vor zehn Jahren sehe ich den Zusammenhang noch nicht. Während ich studiere, arbeite und reise, bewege ich mich von ihm weg, schäme mich für sein Leben, das mir ziellos und vergeudet erscheint. Nach einer Trennung zieht er für einige Jahre ins Ausland, ich erinnere mich an einen Streit am Telefon, in dem ich ihm Vorwürfe mache.
Danach haben wir uns endgültig nichts mehr zusagen, eine Telefonnummer von ihm habe ich nicht. Anderen gegenüber erwähne ich ihn selten, bestenfalls ironisch. Heute sprechen wir uns manchmal zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Länger als zehn Minuten dauert ein Telefonat nicht. Unsere seltenen Begegnungen sind kurz und oberflächlich – tun weh, aber nicht lange. Er ist mittlerweile sehr krank, wohnt in einem betreuten Heim.
Kinder ohne Vater haben ein höheres Risiko, depressiv oder verhaltensauffällig zu sein
Was ergibt sich aus dieser Nicht-Beziehung für mich als Erwachsene – und für uns Millionen Scheidungskinder? „Der Vater ist nie abwesend. Er bleibt eine Projektionsfläche für kindliche Wünsche“, sagt Franz. Er war Anfang der 90er Jahre an der Mannheimer Kohorten-Studie beteiligt, in der er an Kriegskindern erstmalig die psychischen Langzeitfolgen eines Aufwachsens ohne Vater untersuchte.
Das Ergebnis: Auch 50 bis 60 Jahre nach Verlust war das Risiko, psychosomatisch zu erkranken, bei den Halbwaisen stark erhöht. Sie litten deutlich häufiger unter Angststörungen und Depressionen. „Das hat viele damals sehr erstaunt. In der klinischen Psychotherapie galt aus den Jahrzehnten zuvor noch das Stereotyp: Meist ist die Mutter schuld.“ Die Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung sei erst relativ spät erkannt worden.
Weitere Studien, an denen Franz im Laufe seiner Karriere beteiligt ist, konzentrieren sich nicht mehr auf den verstorbenen, sondern auf den „trennungsbedingt abwesenden“ Vater. Sie kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Eine etwa 20 Jahre zurückliegende Studie zeigt: Alleinerziehende Mütter sind zwei- bis dreimal stärker psychisch belastet. Zusammen mit dem Fehlen des Vaters erhöht das auch bei den Kindern das Risiko depressiv oder verhaltensauffällig zu werden. Jungen aus Scheidungsfamilien haben ein vier Mal höheres Risiko drogenabhängig zu werden, zeigt eine Studie aus Schweden.
Bindungsängste haben andere auch
Bei Mädchen liegt das Risiko etwa drei Mal höher als bei Mädchen aus Paarfamilien. Auch eine geringere Lebenserwartung bescheinigt Franz Trennungskindern. Eine groß angelegte Studie kommt zu dem drastischen Ergebnis, dass Kinder mit schweren Gewalt- und Trennungserfahrungen in Gefahr sind, 20 Jahre früher zu sterben. Aus kindlicher Sicht sei eine konflikthafte elterliche Trennung häufig mit emotionaler Gewalt oder Vernachlässigung verknüpft, erklärt Franz.
Das kommt mir alles zu heftig vor, zu pauschal. Lässt doch irgendwie außer Acht, dass man Halt und Bestätigung auch in anderen Beziehungen finden kann. Früher zur Mutter, zu den Großeltern, später zu engen Freunden und einem Partner. Soll den ausgerechnet dieser eine Mensch so entscheidend für eine gesunde Psyche sein? Klar fehlt etwas. Aber ich komme eben ohne Vater klar, wie viele andere Menschen. Den Umzug mache ich eben ohne Vater, der hinten am Transporter bestimmt, in welcher Reihenfolge die Kartons gestapelt werden. Bei Problemen mit der Steuererklärung rufe ich halt meine Mutter an, die ohnehin immer alles für mich sein musste, Spielgefährtin und Chauffeurin früher, Freundin und Lebensberaterin später.
Auch Bindungsängste diagnostiziert Matthias Franz, denn Scheidungskinder haben die elterlichen Beziehungskonflikte verinnerlicht. Ihre spätere Scheidungsquote sei deshalb deutlich erhöht. Aber wenn ich mich umschaue: Bindungsängste haben viele, nicht nur Scheidungskinder. Wer will sich den im Jahrhundert der Hyper-Individualisten mit Ende 20, Anfang 30 auf einen Lebensentwurf und einen Partner festlegen? Zumindest unter urbanen Akademikern ist das die Minderheit.
Viele scheitern an Leistung, Liebe und Selbstverwirklichung
„Die meisten von uns sind zuweilen neurotisch“, sagt Franz und meint damit: kindlich. Auch als Erwachsene verhalten wir uns wie Kinder, wenn wir in emotionalen Stresssituationen an unsere ungelösten Kindheitskonflikte erinnert werden. Zum Beispiel wenn wir uns streiten, mit dem Partner oder mit dem Chef. Laut Herczeg gilt es das zu erkennen, zu reflektieren und sich bewusst zu machen: Du bist jetzt erwachsen, du kannst ganz anders reagieren als im Streit mit deinen Eltern. Das gilt aber nicht nur für vaterlose, sondern für alle Menschen, passend zum nächsten Stigma: Frauen ohne Väter müssen sich ständig beweisen. Sie haben ständig Angst, nicht zu genügen. Aber begegnet uns diese Angst im Turbokapitalismus nicht auch an jeder Ecke? Auch meine Freunde aus der vermeintlichen Bilderbuchfamilie scheitern am modernen Psycho-Dreieck aus Leistung, Liebe und Selbstverwirklichung.
Ich habe mich viele Jahre eher als abgehärtet gesehen, mit der Fähigkeit ausgestattet, Rückschläge gut zu verarbeiten. Resilient sagt der Psychologe dazu. Oder bin ich einfach nur eine Meisterin der Verdrängung geworden? Wird die Lücke, die mein Vater hinterlassen hat, nicht kleiner, sondern ich einfach nur geschickter darin, sie zu überspringen? Ja, sagt Herczeg. Und dagegen helfe nur eins: Verzeihen. Der sicherste Weg, um nicht lebenslang unter der besagten Lücke zu leiden.
Verzeihen in Abwesenheit
Aber wie verzeiht man in Abwesenheit? Es fehlt doch der Streit, die Auseinandersetzung, die mögliche Versöhnung. Glaubt man Herczeg, findet der Akt des Verzeihens ohnehin im eigenen Kopf statt. Ein erster Schritt: „Lassen Sie den Gedanken zu, dass ihr Vater auch gute Eigenschaften hat!“ Dann der nächste, noch härtere Schritt: „Erkennen Sie, welche Seiten Ihres Vater Sie in sich tragen – die Guten und die Schlechten!“ Die panische Angst, so zu werden wie die eigenen Eltern, kennen viele. Die erschreckende Erkenntnis, die irgendwann durchsickert, nämlich dass sich das kaum verhindern lässt, ebenfalls.
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Herczeg schlägt zum Abschied ein Gedankenexperiment vor: „Wenn Sie diesen Menschen irgendwo auf der Welt treffen würden und nicht wüssten, dass er Ihr Vater ist, was würden Sie über ihn denken?“ Schwierig. Ich drücke mich vor der Antwort, denke auf dem Heimweg noch lange über die Frage nach. Würde ich sein junges, mir gleichaltriges Ich treffen, hätte ich ihn wohl gemocht. Er war mal reiselustig, humorvoll, einnehmend. Bestimmt kein schlechter Mensch. Nur kein guter Vater.