Letzter AuswegWas passiert mit den ausgesetzten Kindern aus der Babyklappe?
Köln – Es ist nur ein schlichtes Fenster – für den elfjährigen Jungen aber hat es große Bedeutung. „Er wollte unbedingt den Ort sehen, wo er vor Jahren als Baby abgelegt worden war“, erzählt Corinna Berenfänger, die ihn damals begleitet und schließlich in seine heutige Adoptivfamilie vermittelt hat. „Ganz offen und neugierig hat er sich das angeschaut. Das Fenster ist eben Teil seiner Geschichte.“Der Junge, der hier natürlich anonym bleibt, ist eines von insgesamt 32 Babys, die in den letzten 21 Jahren in der Babyklappe des „Haus Adelheid“ an der Eltern-Kind-Einrichtung des „Sozialdiensts katholischer Frauen“ (SkF) in Köln-Bilderstöckchen abgelegt worden sind. Jedes dieser Kinder hat seine ganz eigene Geschichte. Wie ihr Leben begonnen hat, bleibt oft im Dunklen. Ihnen aber in eine erfüllte Zukunft zu verhelfen, das war und ist die Aufgabe von Menschen wie Corinna Berenfänger, die die Betreuung der Moses-Kinder organisiert. Sie haben wir gefragt: Was passiert eigentlich ab dem Moment, wenn ein Baby gefunden wird?
Wenn das Babyfenster-Alarm-Telefon klingelt, muss es schnell gehen
Ein kleines Kind, das in eine Klappe gesteckt wird, diese Vorstellung ist zurecht verstörend. Tatsächlich aber ist die Babyrettungsstation am „Haus Adelheid“ keine Klappe im wörtlichen Sinne, sondern ein großes Fenster, das von außen geöffnet werden kann – dahinter liegt ein warmer, geschützter Platz mit Schaffellchen und Decke. Und sie heißt auch ganz anders, nämlich „Moses Fenster“ – in Anlehnung an die bekannte Bibelerzählung, bei der der neugeborene Moses in der Hoffnung auf ein besseres Leben ausgesetzt wird. Das Kölner Fenster selbst befindet sich am hinteren Teil der Eltern-Kind-Einrichtung, hat einen Sichtschutz und keine Kameraüberwachung, um Anonymität gewährleisten zu können.
Sobald das Fenster geöffnet wird, geht im „Haus Adelheid“ ein Alarm los. Rund um die Uhr tragen die Beschäftigten deshalb ein spezielles Telefon bei sich. Und wenn das klingelt, muss es schnell gehen. Über ein kleines Fensterchen im Innenraum schauen die Mitarbeiter zunächst, welche Situation sie erwartet. Liegt dort wirklich ein Baby, wird es sofort herausgenommen und mit allem versorgt, was es braucht. Polizei, Jugendamt und Gericht werden informiert. Ein Kinderarzt wird gerufen, der das Kind intensiv untersucht.
Fälle wie die des toten Elias sind selten
„Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Kinder erst wenige Stunden bis zu zwei Tage alt sind, wenn sie ins Fenster gelegt werden“, berichtet Corinna Berenfänger. Viele seien nachts oder in den frühen Morgenstunden abgegeben worden. „Die meisten Babys sind gesund und gut versorgt.“ In seltenen Fällen sei ein Kind auch unterkühlt oder verstorben gefunden worden. Zuletzt erregte im Jahr 2021 der Fall des kleinen Elias für Aufsehen, der tot vor der Babyklappe lag. „Für die Mitarbeiterinnen, die ein Kind in so einem Zustand finden, ist das eine Katastrophe.“ Die Regel sei das zum Glück nicht.
Im Gegenteil, viele Kinder seien angemessen gekleidet oder zumindest warm eingewickelt. „Trägt das Neugeborene ein Mützchen, hat jemand gewusst, dass ein Baby vor allem am Kopf warmgehalten werden muss.“ Manchmal gäben Eltern ihrem Kind auch ein Erinnerungsstück mit. „Auf solche Fundstücke achten wir besonders, weil sie für die Kinder später wahnsinnig wichtig sind.“ Manche dieser Mitgaben deuteten an, in welcher Lage sich die Frau befunden habe. „Ich erinnere mich an den Brief einer Mutter an ihr Kind. Sie schrieb, dass sie bis zuletzt noch gehofft hatte, dass sich an ihrer Situation noch etwas ändert.“
„Die Frauen sind in einer Ausnahmesituation“
In welcher Lage eine Frau oder Eltern gewesen sein müssen, dass sie sich für einen so drastischen Schritt entschieden haben, das lässt sich oft nur vermuten. Durch Gespräche mit Betroffenen habe sie aber eine Ahnung bekommen, sagt Berenfänger. „Eine Mutter, die sich nachträglich gemeldet hat, erzählte mir, unter welchen schwierigen Bedingungen sie das Kind entbunden hat. Ich spürte, unter welchem Druck sie stand und wie alleine sie war“, erzählt sie. „Man kann sich nicht vorstellen, in welchen Ausnahmesituationen diese Frauen sind.“ Viele seien komplett überfordert oder lebten in materieller Notlage. „Manche Frauen verleugnen ihre Schwangerschaft bis zum Ende und wissen dann keinen Ausweg mehr“, ergänzt SkF-Vorstand Monika Kleine. Durch ein niederschwelliges Angebot wie die Babyklappe hätten solche Frauen die Möglichkeit, erst einmal aus der Krisensituation herauszukommen.
Trotzdem stecke auch immer ein Mindestmaß an Planung dahinter, schließlich müssten die Frauen das Fenster erst einmal finden. „Ich glaube, es ist eine bewusste Entscheidung, ein Kind dort abzulegen“, sagt Corinna Berenfänger, „die Frauen, mit denen ich sprechen konnte, waren sich bewusst, was sie tun.“
Eine halbe bis eineinhalb Stunden bleibt ein neues Baby noch im „Haus Adelheid“, dann kommt es in die Kinderklinik. „Wir sorgen erst einmal dafür, dass Ehrenamtliche das Kind liebevoll begleiten“, erzählt Berenfänger, „und wir kümmern uns in der Zwischenzeit um die organisatorischen Abläufe.“ Der SkF beantragt für das Kind die Inobhutnahme-Erlaubnis und darüber hinaus beim Amtsgericht die Einrichtung einer Amtsvormundschaft, damit liegt die rechtliche Sorge erst einmal beim Jugendamt.
Manche Eltern melden sich – meistens innerhalb der ersten neun Tage
Und dann geht das große Warten los. „Wir sind nach einem Fund alle in Alarmbereitschaft, ob sich die Eltern noch einmal melden“, sagt Berenfänger. Neben dem „Moses Fenster“ liegt Infomaterial in verschiedenen Sprachen aus, damit die Eltern immer wissen: Es gibt einen Weg zurück. Etwa 30 Prozent der Eltern seien nachträglich noch einmal per Mail oder Telefon mit ihnen in Kontakt getreten, alle innerhalb der ersten neun Tage nach Abgabe. „Manche Mütter kamen auch direkt zum Haus Adelheid.“ Die einen hätten einfach nur wissen wollen, wie es dem Kind gehe, andere auch eine Beratung angenommen und sich teilweise für eine Adoption entschieden.
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„In wenigen Fällen ändern Eltern ihre Meinung und wollen dann doch eine Rolle im Leben ihres Kindes spielen“, sagt Corinna Berenfänger. „Ein Paar hat sich nach wenigen Stunden gemeldet und sagte: Das war eine Kurzschlussreaktion!“ Diese Familie habe noch einen gemeinsamen Weg gefunden, die Mutter sei mit dem Baby in eine Eltern-Kind-Einrichtung gegangen. „Erfahren Eltern, welche Hilfsangebote es gibt, sind manche eher bereit, das Leben mit dem Kind doch zu erproben“, sagt Monika Kleine. Entsprechende erzieherische und finanzielle Hilfen würden dann eingeleitet.
Bei 70 Prozent der Babys erfährt man nie, woher sie kommen
Mehr über Baybklappen
„Moses Fenster“ und „Vertrauliche Geburt“– Informationen und Kontaktdaten beim SkF unter www.skf-koeln.de/angebote/kinder-familie/schwangerschaft-geburt/SkF
Ergebnisse der Studie „Anonyme Geburt und Babyklappen in Deutschland“ des Deutschen Jugendinstituts (DJI) unter www.dji.de/Projekt_Babyklappen
„Natürlich geben wir das Kind nicht einfach so zurück in unklare Verhältnisse“, so Corinna Berenfänger. Zunächst wird durch einen DNA-Test die biologische Elternschaft bestätigt, danach gibt es eine Kindeswohlprüfung durch das Jugendamt. Eltern müssten begründen können, was sich an ihrer Situation geändert habe. „Erst wenn alle überzeugt sind, dass keine Gefahr für das Kind besteht, wird mit dem Jugendamt eine Rückführung eingeleitet.“
„Bei 70 Prozent der abgegebenen Babys haben wir jedoch nie erfahren, woher sie kamen und welche Beweggründe die Frauen hatten, sie abzulegen“, berichtet Monika Kleine. Und aktiv gesucht werde nach den Eltern nicht. „Früher haben wir immer noch einen Aufruf gemacht“, erzählt sie, „das hatte aber zur Folge, dass kurz danach wieder Kinder abgegeben wurden.“
„Kinder haben oft eine lebenslange Sehnsucht, ihre leiblichen Eltern kennenzulernen“
Um einem gefundenen Kind schnell stabile Verhältnisse zu bieten, geht direkt im Krankenhaus die Suche nach einer Adoptivfamilie los. „Wir wählen gezielt Adoptionsbewerber aus, die das Risiko tragen, dass die Eltern sich vielleicht noch melden“, sagt Corinna Berenfänger. Je länger das Kind aber bei den neuen Eltern bleibe, desto wahrscheinlicher sei es auch, dass sie es behalten könnten. Nach ungefähr einem Jahr kommt es in der Regel zum Abschluss der Adoption.
Aber auch Eltern, die sich später noch meldeten, versuche man Kontakt mit dem Kind zu ermöglichen. „Die Kinder haben oft eine lebenslange Sehnsucht, ihre leiblichen Eltern kennenzulernen“, sagt Monika Kleine. „Mit ihnen in Kontakt zu treten, kann für die Kinder heilend und für die Adoptiveltern erleichternd sein.“ Spätestens wenn das Kind 16 ist, hat es den Rechtsanspruch, seine Herkunft zu erfahren, falls die leiblichen Eltern ihre Daten hinterlegt haben.
Jedes Kind bekommt ein persönliches Büchlein über den Tag seiner Ankunft
Selbst wenn die leiblichen Eltern für immer unbekannt blieben, sei die Frage „Wo bin ich hergekommen?“ für die Moses-Babys sehr wichtig, sagt Corinna Berenfänger. Aufgabe der Betreuer und Vermittler sei es, die Kinder dabei zu unterstützen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, in der Welt willkommen zu sein. „Wir versuchen, für die Kinder von Beginn an eine Biografie zu schaffen.“ Jedes gefundene Kind bekomme von ihnen einen Namen, der auch in die Unterlagen eingetragen wird, damit das Baby nicht namenlos in die Klinik kommt. „Die Person, die das Kind findet, dokumentiert alles und fertigt ein Büchlein für es an, in dem sie ausführlich beschreibt, was genau an dem Tag passiert ist und wie besonders es für sie war, das Kind zu finden.“ Dahinter stehe die Botschaft: „Du bist klasse, so wie du bist!“ Auch das sei dann Teil seiner Biografie.
„Alle kleinen Dinge, die wir über die Herkunft des Kindes wissen, erzählen wir den aufnehmenden Eltern, damit sie das weitergeben können.“ Ein Anliegen sei ihnen dabei immer, den Kindern und den Adoptiveltern zu vermitteln: „Die Handlung der leiblichen Eltern ist letztlich auch ein liebevoller Akt. Denn sie wünschten sich etwas für ihr Kind, was sie ihm selbst nicht geben konnten und sorgten dafür, dass es eine neue Familie findet.“ Das sei doch viel besser, als wenn ein Kind in schwierigen Verhältnissen aufwachsen oder einfach im Gebüsch abgelegt werden würde. „Ich wünsche mir da mehr Anerkennung für die abgebenden Eltern.“
Manche Moses-Kinder können mit der Person sprechen, die sie gefunden hat
Viele Adoptivfamilien erzählten dem Kind schon früh von seinem besonderen Start ins Leben. Einige Moses-Kinder wollten sich dann den Ort anschauen, wo sie abgelegt worden sind. „Ich finde es ganz wichtig, dass sie dorthin kommen können und diese Verbindung weiterhin besteht.“ Ab und zu könnten sie sogar mit der Person sprechen, die sie damals gefunden habe. Wie im Fall des heute elfjährigen Jungen. „Wir saßen alle zusammen an einem Tisch: er und seine Adoptivfamilie, Karen Horst vom „Haus Adelheid“, die ihn als Baby damals aufgenommen hat und ich. Das war ein ganz besonderes Treffen“, erzählt Corinna Berenfänger.
Für sie als Mitarbeiterinnen sei es wunderbar, verfolgen zu können, wie sich die Kinder entwickelten. „Ein Baby zu finden, hinterlässt natürlich auch bei uns emotional Spuren und wir fragen uns, was aus dem Kind wird.“ Aber das gebe auch besonders viel Motivation. „Für die Moses-Kinder setzen sich alle mit besonderem Engagement ein. Sie zu versorgen, betreuen und vermitteln ist eben eine besondere Verantwortung.“