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Lesen in der Corona-Zeit„Bücher helfen, die eigene Situation auszuloten“

Lesezeit 10 Minuten
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Gemeinsam ein Buch zu lesen ist nicht nur eine gute Beschäftigung – es gibt auch Struktur.

  1. Gerade ist viel Zeit zum Lesen. Deshalb sollten wir uns und unsere Kinder unbedingt dazu motivieren.
  2. Denn Lesen ist nicht nur ein guter Zeitvertreib, es hilft uns auch, gut durch die Krise zu kommen.
  3. Ines Dettmann, Leiterin des Jungen Literaturhauses Köln, erklärt im Gespräch, wie das klappt und gibt exklusive Büchertipps für diese Zeit.

Köln – Kinos, Theater, Restaurants, alles hat geschlossen, jeder soll zu Hause bleiben. Da hat man eigentlich viel Zeit zu lesen. Und das sollte man auch tun! Denn Geschichten können Erwachsenen und Kindern durch diese schwierige Zeit helfen - sie können sogar Therapie sein. Wie das funktioniert und was man jetzt am besten lesen sollte - darüber haben wir mit Ines Dettmann, der Leiterin des Jungen Literaturhauses Köln, gesprochen.

Frau Dettmann, gerade wäre eine gute Zeit, um endlich mal mit dem dicken Schinken anzufangen, der seit Monaten im Regal liegt. Wie motiviert man sich dazu?

Ines Dettmann: Ich persönlich muss mich dafür erstmal von den sozialen Medien abschotten. Denn obwohl total viel nicht stattfindet, funktioniert die soziale Kommunikation immer noch gut – über WhatsApp, Facebook oder das Telefon. Das heißt, ich versuche erstmal, mir einen leeren Raum zu schaffen, so wie man den im Urlaub hat. Man sollte sich also wirklich Ruhe nehmen, einen schönen Ort suchen, sich gemütlich hinsetzen, was Leckeres zu trinken mitnehmen und sich dann in dieses Buch schmeißen. Wobei ich auch betonen möchte: Wenn man nach einer Weile feststellt, dass man mit dem dicken Schinken gerade nicht zurechtkommt, dann sollte man ihn wieder zur Seite legen. Es ist auch das Recht des Lesers zu sagen: Das Buch und ich, wir verstehen uns gerade nicht. So wie man sich auch mit Freunden mal nicht so gut versteht.

Zur Person

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Ines Dettmann

Ines Dettmann (41) ist Leiterin des Jungen Literaturhauses Köln und Mitglied der Kritikerjury „Die besten 7 Bücher für junge Leser“. Dettmann lebt in Köln und hat vier Kinder.

Auch Kinder hätten jetzt viel Zeit zu lesen. Wie motiviert man die denn dazu?

Ich persönlich bin in der Luxussituation, vier Kinder zu haben, die total gerne lesen. Ich glaube, dass es generell zwei Wege gibt, Kinder fürs Lesen zu begeistern: Meine Mutter zum Beispiel ist in einem Haushalt aufgewachsen, in dem Lesen überhaupt nicht en vogue war. Dass sie das Lesen für sich entdeckt hat, war eine Form der Rebellion. Wenn man als Elternteil selbst gerne liest, die Kinder aber nicht, sollte man sich fragen: Wie oft sehen die Kinder mich denn eigentlich lesen? Da hat sich in den vergangenen 15 Jahren ganz viel geändert. Wir Erwachsenen lesen heute ja ganz viel auf dem Tablet oder Handy – Zeitungen und Bücher. Für ein Kind ist das Handy aber gleichgesetzt mit dem, was sie damit machen: kommunizieren oder Youtube-Videos gucken. Andererseits hat meine Tochter eine Freundin, die auf dem Tablet besser lesen kann. Und wenn man auf diese Weise Lese-Anreize schaffen kann, finde ich es überhaupt nicht schlimm, auch Kinder E-Books lesen zu lassen.

Wie kann man weitere Anreize setzen?

Die Lehrerin meiner Tochter hat die Kinder gebeten, zusätzlich zu den Aufgaben jeden Tag eine halbe Stunde zu lesen und darüber Lesetagebuch zu führen. Das finde ich eine schöne Möglichkeit, Lesen mit etwas Aktivem zu verbinden – vor allem, wenn das Kind sich das Buch selbst aussuchen darf. Man kann sich aber auch einfach mal als Familie eine Auszeit nehmen, sich gemeinsam an einen schönen Ort setzen – und jeder liest eine halbe Stunde in seinem Buch. Anschließend spricht man darüber. Oder Kind und Elternteil lesen sich abwechselnd was vor.

Büchertipps für Kinder

Bilderbücher

Gegen Angst hilft:

Francesca Sanna: Ich und meine Angst. NordSüd 2019.

Benji Davies: Quappi. Aladin 2020.

Gegen den Lagerkoller & alle anderen Missverständnisse:

Davide Cali/ Benjamin Chaud: So was tun Erwachsene nie. Thienemann 2020.

Johanna Thydell/ Emma Abbage: Blödes Bild! Kunstmann 2019.

Annikea Leone/ Bettina Johansson: Überall Popos. Klett Kinderbuch 2020.

Kinderbücher

Vom Kranksein und Gesundwerden:

Anna Woltz: Gips. Carlsen 2018.

Espen Dekko: Sommer ist trotzdem. Thienemann 2020.

Gegen die Angst:

Tuutuki Tolonen: Monsternanny. Eine ungeheure Überraschung. Hanser 2018.

Elias & Angnes Vahlund: Handbuch für Superhelden. Jacoby & Stuart 2019.

Auf der Suche nach dem Glück:

Anne Fleming: Ziegen bringen Glück. Carlsen 2017.

Gegen Familienmissverständnisse:

Bob Konrad/ Daniele Kulot: Der Knäckebrotkrach. Bei Oma und Opa fliegen die Fetzen. Arena 2019.

Anke Kuhl: Manno. alles genau so in echt passiert. Klett 2020.

Eine Portion Alltag

Jasmins Schaudinn: Edda aus dem Moospfad. Oetinger 2020.

Jugendbücher

Für alle, die an die Zukunft denken:

Katrin Bongard. Es war die Nachtigall. Hanser 2020.

Für alle, die sich allen fühlen:

Erin Entrada Kelly: Vier Wünsche an das Universum. dtv 2019.

Für alle, die sich nicht unterkriegen lassen:

Christoph Scheuring: Sturm. Magellan 2020.

Für alle, die ganz normale Probleme haben:

Katja Klengel: Girlsplaining. Reprodukt 2018.

Mariko Tamaki: Ein Sommer am See. Reprodukt 2014.

Für alle, die Sehnsucht nach Normalität haben:

Katrin Schrocke: Immer kommt mir das Leben dazwischen. Mixtvision 2019.

Karen Foxlee: Alles was wir träumten. Beltz 2020.

Apropos Vorlesen: Ist das in dieser Zeit besonders wichtig?

Mit der ganzen Familie zusammenzukommen und gemeinsam was zu machen, ist jetzt wichtig. Wir dürfen ja nicht vergessen: Nicht nur das Leben von uns Erwachsenen hat sich total verändert, sondern auch das der Kinder. Die hatten ja sonst auch ihre Freiräume im Kindergarten und in der Schule, wo sie ganz anders sein konnten als zu Hause, oder die Zeit mit Freunden. Ich finde zusammen Lesen ist eine besonders gute Beschäftigung, weil man eine klare Aufgabe – aber auch ein festes Ziel – vor Augen hat: Nämlich das Buch fertig zu lesen. Für mich ist das eine besonders schöne Form der Zuwendung. Und es ist auch für uns Erwachsene ein gutes Ritual, um runterzufahren.

Welche Wirkung hat es denn auf einen selbst, wenn man jetzt mehr liest als sonst?

Ein Roman, der einem gut gefällt, auf den man sich richtig einlässt, der nimmt einen schnell gefangen. Aber wenn man viel liest, stellt sich irgendwann diese Urlaubsproblematik ein: Denn wenn man ein Buch gelesen hat, das einen so richtig mitgenommen hat, dann ist es umso schwerer, das nächste gute Buch zu finden beziehungsweise sich darauf einzulassen. Ich persönlich brauche dann immer ein bisschen Zeit, um das sacken zu lassen. In der Zeit lese ich dann lieber Zeitung oder gucke Fernsehen. Zuletzt habe ich zum Beispiel das Jugendbuch „Sommer ist trotzdem“ gelesen, da geht es um ein Mädchen, das den ersten Sommer ohne seinen Vater erlebt. Bei der Lektüre musste ich total heulen. Meine vierjährige Tochter hat das gesehen und sich erschreckt, aber ich finde es gut, wenn die Kinder auch mal sehen, dass uns Erwachsene fiktive Dinge emotional so bewegen können.

Wie kann Lesen denn jetzt während der Corona-Krise konkret helfen?

Geschichten sind ja Orte, an die man sich flüchten kann. Für jüngere Kinder wäre das zurzeit zum Beispiel die Reihe „Die Kinder aus dem Möwenweg“ von Kirsten Boie. Das sind Bücher, die den ganz normalen Alltag beschreiben, den Kinder kennen und den wir ja auch versuchen aufrecht zu erhalten – der aber zum Teil gerade einfach nicht stattfindet. Das kann helfen. Dann merke ich bei unseren Kindern auch, dass Lesen sie auf neue Ideen bringt: Das, was die Figur da in dem Buch macht – könnte ich das nicht auch ausprobieren? Und für mich selbst ist Lesen einfach ein gutes Ventil. Ich merke, dass ich angestrengt, genervt und traurig bin, aber ich bin kein Mensch, der sich hinsetzen und einfach heulen kann. Wenn ich aber bei „Sommer ist trotzdem“ weinen muss, dann lasse ich auch die anderen Gefühle mit raus. Und meistens ist es doch so: Wenn man eine Runde geheult hat, geht’s einem besser.

Büchertipps für Erwachsene

von Ines Dettmann

Für alle, die Angst haben und Realismus brauchen:

David Graeber: Schulden. Die ersten 500 Jahre. Goldmann 2014.

Für alle, die auf der Suche sind:

Jan Brandt: Ein Haus auf dem Land. Eine Wohnung in der Stadt. Dumont 2019.

Für alle, die Angst haben und mal richtig heulen möchten:

Hans Fallada: Kleiner Mann was nun. Aufbau 2017.

von Bettina Fischer (Literaturhaus Köln)

Zum Abtauchen in Zeit und Raum

Hilary Mantel, Spiegel und Licht, DuMont Buchverlag, 2020.

Wem beste Gedächtnisliteratur ein Trost sein kann

Annie Ernaux, Die Jahre. Suhrkamp 2017.

Endlich Zeit für das Verhältnis von Sprache, interkulturellem Verstehen und verschiedene Perspektiven auf die Welt

Xiaolu Guo, Kleines Wörterbuch für Liebende. Pinguin 2017.

Text und Musik als „Fluchthelfer aus dem schrundigen Alltag“ der Corona-Quarantäne:

Anja Rützel über Take That. Kiepenheuer & Witsch, 2019.

Um zu lachen und um zu weinen:

Jasmin Schreiber, Marianengraben. Eichborn 2020.

von Sonja Herrmann

Öffnet die Augen für die Macht der Worte und dafür, wie schnell Lügen und Fake News gefährlich werden können:

Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin. Kein & Aber 2017 / 2019.

Schreiben hilft und beruhigt!

Doris Dörrie: "Leben, schreiben, atmen. Eine Einladung zum Schreiben. Diogenes 2019.

von Ulrike Schulte-Richtering

Wie andere durch die Tage der Isolation kommen, liest man hier:

Amor Towles: Ein Gentleman in Moskau. List 2017.

Wenn man von verlorenen Paradiesen träumen will, dann nicht ohne dieses Buch:

Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. Rowohlt 1964.

Durch die Prärie reiten und auf Büffeljagd gehen, wenigstens hier:

John Williams: Butcher's Crossing. dtv 2015.

Sie und Ihre Kolleginnen aus dem Jungen Literaturhaus und dem Literaturhaus Köln haben exklusiv für uns eine Liste mit Empfehlungen für die Corona-Zeit zusammengestellt. Einige der Bücher beschäftigen sich mit Krankheit, Krise und Quarantäne – also Themen, die uns zurzeit sowieso ständig umgeben. Warum glauben Sie, dass gerade solche Bücher helfen können?

Schon lange vor dieser Pandemie haben sich Autoren immer wieder mit solchen Szenarien beschäftigt und Dystopien geschrieben über Endzeit oder große Krisen – aus der aber auch immer neue Gesellschaftsformen entstanden sind. Ich finde, von so etwas zu lesen, das theoretisch stattfindet, hilft einem, die eigene Situation nochmal ganz anders zu beurteilen. Klar, ich finde es nicht einfach, im Homeoffice zu sein mit vier Kindern zu Hause, die Veranstaltungen im Jungen Literaturhaus finden nicht statt, ich frage mich: Was ist mit unseren Plänen für die Sommerferien? Aber wenn ich dann ein Buch lese, in dem ein Elternteil gestorben ist, dann komme ich an den Punkt, an dem ich denke: Im Rahmen der Möglichkeiten geht es mir doch noch ziemlich gut. Wenn man es schafft, durch eine Handlung, die so ähnlich ist wie die Realität, seine eigene Situation noch mal auszuloten, kann das helfen. Genauso rede ich ja auch mit anderen Müttern über Probleme mit den Kindern. Und danach denke ich: Ach, die streiten sich also auch übers Aufräumen.

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Ich persönlich lese eigentlich viel realistische Literatur, habe aber in dieser Zeit gemerkt, dass mir fantastische Erzählungen gerade gut tun, also Handlungen, mit denen ich aus der Realität flüchten kann.

Das kann ich mir gut vorstellen. Das ist ja das Coole am Lesen: dass man sich das selbst aussuchen kann. Ich glaube, Fantasy zu mögen, ist generell Typsache. Genauso wie es Leute gibt, die gerne Krimis lesen oder realistische Prosa oder Groschenromane, die immer gut ausgehen. Ich glaube, dass jetzt schon ein guter Zeitpunkt ist, um mal Neues auszuprobieren. Krisen können ja auch dazu führen, dass man Dinge neu oder anders denkt. Und vielleicht ist das jetzt der richtige Zeitpunkt, den dicken Roman, von dem Sie eingangs gesprochen haben, aus dem Regal zu nehmen. Aber andererseits: Man sollte jetzt erstmal zu dem Genre greifen, mit dem man sich wohl fühlt. Egal, ob das Fantasy oder Krimis sind. Es ist auch wichtig, dass Eltern ihren Kindern die Wahl lassen. Zurzeit sind wir Erwachsenen ja schon oft ratlos – wie muss es da erst den Kindern und Jugendlichen gehen? Wenn man ein Buch gefunden hat, in das man sich so richtig reinschmeißen kann, dann ist das wunderbar. Das Wichtigste ist doch, dass Lesen einem gut tut.