Manche Dinge werden in Familien über Generationen geheim gehalten. Wie sich das auf die Betroffenen auswirkt, weiß Personensucherin Susanne Panter.
Verleugnete Kinder, verschwiegene ToteWarum es oft viel besser ist, Familiengeheimnisse früh zu lüften
Liebe und Verlust, Wendungen und Schicksalsschläge: Jede Familie birgt einen Schatz an Geschichten. Nicht alle werden aber in die nachfolgenden Generationen weitergetragen. Manches wird sogar bewusst vertuscht, verleugnet oder ganz tief in der Erinnerung vergraben. Nicht wenige Familiengeheimnisse bahnen sich dann aber doch irgendwie ihren Weg an die Oberfläche, sagt Susanne Panter. Sie betreibt seit Jahren eine Herkunftsberatung und kennt sich aus mit versteckten „Leichen“ im Familienkeller. Ein Gespräch.
Was wurde früher in Familien geheim gehalten?
Susanne Panter: Manche Themen und Ereignisse wurden häufig unter Verschluss gehalten. Verschwiegen hat man zum Beispiel große Lieben, die gesellschaftlich nicht als angemessen betrachtet wurden. Stattdessen heiratete die Frau dann einfach den Nachbarsjungen. Und dem unehelichen Kind aus der ersten Verbindung wurde verheimlicht, wer der leibliche Vater ist. Nicht erzählt wurde auch vieles, was mit Wohlstand und Verlust zu tun hatte, also wenn jemand viel Geld der Familie verloren hatte. Krankheiten, Unfruchtbarkeit oder Konflikte mit dem Gesetz wurden ebenso gerne vertuscht. Welche Ereignisse unter den Teppich gekehrt werden, hat auch immer etwas mit der Gesellschaft einer Zeit zu tun. Denn die Frage, was ein Problem darstellt, ist für verschiedene Generationen unterschiedlich.
Weil es sich verändert, was in einer Zeit als anständig gilt?
Ja, genau. Aber auch, weil die Menschen anders mit Situationen umgehen. Frühere Generationen haben den Dingen häufig nicht nachgespürt und sie verarbeitet, sondern weitergemacht – auch weil sie oft keine Wahl hatten. Wenn ein Kind im Krieg gestorben ist, konnte die Mutter oft gar nicht trauern, weil sie den Rest der Familie durchbringen musste. Und dann wurde nicht mehr darüber geredet.
Wie wirkt sich solch ein Geheimnis auf eine Familie aus?
Ich bin keine Psychologin, kann aber berichten, was ich über die Jahre bei meiner Arbeit als Herkunftsberaterin und im Gespräch mit Familien erfahren habe. Solch ein einschneidendes Ereignis macht etwas mit einem Familiensystem. Der Tod eines Kindes – erst recht, wenn er verschwiegen wird –, bleibt im Familienverlauf oft eine Art Leerstelle und hinterlässt Spuren, vor allem bei der Mutter. Er beeinflusst, wie sie zum Leben steht und wie sie mit ihren anderen Kindern umgeht. So können auch Nachkommen unter einem Ereignis leiden, von dem sie gar nichts wissen. Manche Psychologen sagen auch, Traumata setzten sich über Generationen hinweg fort.
Spüren manche Familienmitglieder, dass etwas verschwiegen wird?
Von meinen Klienten haben das viele berichtet. Einem Mann wurde zum Beispiel immer erzählt, seine Mutter habe Suizid begangen, weil sie depressiv und Alkoholikerin gewesen sein soll. Er konnte sich das aber nie vorstellen und spürte, dass an der Geschichte irgendetwas nicht stimmte. Durch den Kontakt zu seiner Tante fand er heraus, dass seine Mutter total lebensfroh gewesen ist und es ganz andere Ursachen für ihren Tod gegeben hat. Der Blick des Sohnes auf die tote Mutter hat sich dadurch nachträglich nochmal ganz verändert.
Wie kommen Familiengeheimnisse denn in der Regel ans Licht?
Manche Menschen werden aktiv und möchten gezielt Dinge aufklären und Klarheit schaffen. Viele gehen einem Verdacht aber nicht bewusst nach, sondern ein Geheimnis bahnt sich langsam seinen Weg. Man erfährt vielleicht etwas aus der Vergangenheit und beginnt daraufhin, beim Familienfest bestimmte Fragen zu stellen. Andere Menschen trifft eine Enthüllung aber auch völlig ahnungslos. Eine Frau hat im Nachlass ihrer Mutter zum Beispiel Indizien gefunden, dass ihre Oma länger gelebt hat, als bekannt war. Alle dachten, sie wäre bei der Geburt der Mutter gestorben, dabei lebte sie danach noch lange Zeit in einer Heilanstalt. Das wurde komplett geheim gehalten.
Warum kann es helfen, heute zu wissen, was damals passiert ist?
Die Nachkommen haben dadurch den Rahmen zum Bild, in dem sie selbst vorkommen. Sie können Dinge besser einordnen und Motive verstehen. Wenn sich ein Familiensystem neu sortiert, gibt es eine neue Klarheit und Ordnung. Ein Mann sagte einmal zu mir: „Es ist wie ein Stein im Fundament, der jetzt gerade gerückt ist.“ Plötzlich bekommt der vorher tot geschwiegene oder als Teufel bezichtigte Opa eine sympathische Komponente – und dann fühlt man sich auch gleich wohler mit den eigenen Genen.
Durch die neuen Erkenntnisse werden den Nachkommen auch oft Schuldgefühle genommen. Eine Frau bekam zum Beispiel immer von ihrer Mutter zu hören, dass sie der Grund gewesen sei, warum der Vater gegangen war – bis sie mit dessen Familie in Kontakt trat und erfuhr, dass es ganz anders gewesen ist. Das hat sie als Tochter natürlich sehr entlastet.
Gibt es nicht auch Dinge aus der Vergangenheit, die man lieber nicht erfahren sollte?
Es kommt darauf an, wie man ein Geheimnis erfährt. Will man aus eigenem Antrieb herausfinden, was passiert ist und entscheidet selbst, wie viel man wissen möchte, kann das einen positiven Effekt haben. Wenn aber jemand für eine andere Person ein Geheimnis lüften möchte, sollte das kritisch hinterfragt werden. Vielleicht ist bei dieser anderen Person eine hinter dem Tabu liegende Wunde ganz gut abgekapselt und es ist gesünder für sie, wenn nicht daran herumgebohrt wird.
Und wenn Sie auf Geheimnisse bei Ihrer Arbeit stoßen – woher wissen Sie, ob der Klient davon erfahren sollte oder nicht?
Ich hatte tatsächlich schon zwei, drei Mal die Situation, dass Klienten ihre leibliche Mutter finden wollten und sich im Kontakt mit ihr herausstellte, dass sie das Kind einer Vergewaltigung waren. In solchen Fällen muss ich sehr genau hinhören, ob mein Klient wirklich wissen möchte, was die Geschichte der Zeugung ist. Wenn jemand sagt „Es ist okay für mich, wenn meine Mutter den Kontakt nicht möchte“ und nicht nach dem Grund dafür fragt, spiele ich kein Schicksal und dränge ihm dieses Detail nicht auf. Wird jedoch nach den Gründen gefragt, sage ich, was ist. Denn dann ist es wichtig für den Klienten.
Sollte man sich mit schlimmen Geschehnissen grundsätzlich zeitnah auseinandersetzen?
Auf jeden Fall, dann würde uns vieles erspart bleiben. Denn keine Wahrheit kann so schlimm sein wie eine Lüge. Diejenigen, die etwas verbergen, sagen oft „es ist besser, wenn er oder sie das nicht erfährt“. Was eine Wahrheit jedoch auslöst, kann man niemals vorher wissen. Häufig bricht nach der Enthüllung nämlich nicht die Welt zusammen, sondern viele sind erleichtert, weil sie endlich wissen, was passiert ist.
Haben eigentlich viele Familien Geheimnisse?
Dazu existieren natürlich keine Zahlen. Ich vermute aber stark, es gibt keine Familie ohne Geheimnisse. Denn immer wieder werden Wahrheiten von den direkt Betroffenen nicht aufgearbeitet, sondern lieber vergraben und verschwiegen.
Auch heute noch in unserer offenen Gesellschaft?
Auf jeden Fall. Es gibt Familien, die auch heute noch darauf bedacht sind, ein bestimmtes Bild nach außen zu wahren. Will ein Familienmitglied ein Geheimnis preisgeben, wird es verstoßen oder enterbt. Und wird es schließlich aufgelöst, kommen nicht selten noch ganz viele andere Wahrheiten ans Licht.
Und auch wenn wir heute viel mehr und offener über Dinge sprechen als frühere Generationen, werden bestimmte Themen wie Mobbing, Depressionen oder Fehl- und Totgeburten nach wie vor oft verschwiegen. Was weitergegeben wird, hat immer auch damit zu tun, wie transparent jemand mit seinen eigenen Gefühlen umgeht.
Buchtipp: Susanne Panter: „Ich spüre das, was ihr nicht sagt – Wunden in der eigenen Familiengeschichte erkennen und Heilung finden“, Kösel Verlag, 176 Seiten, 20 Euro