Generationen-Konflikte„Meine Mutter fragt meinen Vater bis heute um Erlaubnis”
- Die Autorin Michaela Seul hat ein Buch über ihre alternden Eltern geschrieben, insbesondere aber über ihre Mütter.
- Im Interview plädiert sie dafür, auch in einer Ehe immer ein eigenständiger Mensch zu bleiben. Denn diesen Fehler haben vor allem Frauen in den früheren Generationen falsch gemacht – mit traurigen Folgen.
- Ihr Tipp an alle erwachsenen Kinder: Schaut euch eure Mütter genauer an. Intensiviert den Kontakt, lernt sie kennen – solange ihr noch könnt.
Frau Seul, warum war es Ihnen ein Bedürfnis, ein Buch über die Emanzipation von Frauen und Müttern im Alter von 70plus zu schreiben?
In meinem Freundinnenkreis wurden unsere Mütter immer öfter Thema. Während der Pubertät haben wir uns noch aufgeregt über sie, danach wurde es ruhig. Doch irgendwann in den vergangenen Jahren habe ich gemerkt, dass es nicht reicht zu sagen: „Mama ist halt so. Da kann man eben nichts machen.“
Was kann man denn machen, Ihrer Meinung nach?
Diese Zeit, wenn die Mutter älter wird, bietet die große Chance, ihr noch einmal näher zu kommen. Ich weiß heute, dass wir uns alle bis zu unserem letzten Atemzug verändern können. Nicht nur unsere Eltern, sondern auch wir erwachsenen Kinder. In den vergangenen Jahren habe ich meine Mutter plötzlich in einem neuen Licht gesehen. Ich habe Sachen erfahren, von denen ich bislang nichts wusste.
Das klingt spannend. Welche Sachen sind das denn zum Beispiel?
Dass sie damals einen Mannequin-Kurs gemacht hat und über Laufstege gelaufen ist. Und dass sie sich durchgesetzt hat und in den 70er Jahren heimlich den Führerschein gemacht hat. Obwohl mein Vater das eigentlich gar nicht wollte.
Aber das allein reicht doch nicht für ein neues Gefühl von Nähe. Wie gelingt das?
Ich habe versucht, meine Mutter als eigenständigen Menschen zu sehen, nicht festzuhalten an dem, was früher war und an den alten Eindrücken. Ich habe feststellen müssen: Ich tendiere viel mehr dazu, meine Mutter zu erziehen als dass sie mich erzieht. Sie war mir gegenüber immer ziemlich tolerant. Ich war dagegen in den letzten Jahren oft diejenige, die ihr gesagt hat, wie die Dinge zu laufen haben.
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Wie nutzt Ihnen diese neue Verbundenheit heute?
Es ist ein gutes Gefühl, es nochmal versucht zu haben, auf sie zuzugehen. Schöner als wenn man später bereut: Das und das hätte ich ihr gerne noch gesagt oder das und das hätte ich noch gerne von ihr gewusst. Die Demenz meines Vaters verhalf ihr zu mehr Selbstbewusstsein. Aber das Ganze war ein langer Prozess.
Es bringt also nichts, die Eltern dazu zu
drängen: Mach dies oder mach jenes?
Na ja, beim Radfahren lernen zum Beispiel habe ich das schon gemacht. Ich wollte einfach, dass es ihr gut geht, dass sie sich durch das Radfahren eine neue Welt erobert. Und wenn sie einmal über der Hürde war, dann hat sie auch mitgemacht. Ich habe da schon ein Stück weit die Vaterrolle eingenommen. Weil ich wusste, sie kann davon profitieren.
Ihr aktuelles Buch „Lieber spät als nie“ ist sehr persönlich. Was hat ihre Mutter dazu gesagt, dass Sie Ihre eigene Familiengeschichte aufgeschrieben haben? Sie hat es doch bestimmt gelesen.
Natürlich. Am Anfang des Schreibens hab ich gedacht: Darf ich das eigentlich? Ich gehe ja schon sehr nah ran an das Verhältnis Mutter-Tochter, was per se ein sehr besonderes ist. Ich habe ihr von dem Buch erzählt und sie hat zum Glück begeistert reagiert. Sie hat das Buch nicht als Angriff verstanden, sondern als Anerkennung ihrer Leistung der „Ehemannzipation“, wie ich es nenne. Als sie das Manuskript gelesen hatte, wollte sie nur einen einzigen Satz daraus streichen.
Sie selbst haben bereits rund 100 Bücher geschrieben und sagen, dass in dieses sehr viel Herzblut geflossen ist. Warum?
Weil es darin um ein wichtiges gesellschaftliches Thema geht, das bisher noch nicht wirklich öffentlich behandelt wurde. Ja, es wurde viel geschrieben über die Kriegs- und Nachkriegskinder und über pflegebedürftige Eltern, aber mir geht es um die Zeitspanne davor, die Zeit, in der man noch etwas verändern kann an der gemeinsamen Beziehung. Meinen Lesern möchte ich sagen: Schau dich und deine Mutter an. Bist du zufrieden, so wie es ist oder gibt es noch etwas zu verbessern im Kontakt? Was ist sie für ein Mensch, und was bist du für ein Mensch? Das hängt ja alles zusammen.
Warum fällt unseren Müttern dieses Freischwimmen, das Erobern eigener und neuer Freiheiten im Alter so schwer?
Weil sie in einer ganz anderen Zeit und Gesellschaft aufgewachsen sind. Bis in die 70er Jahre hinein konnten sie kein eigenes Bankkonto eröffnen und brauchten die Zustimmung ihres Ehemannes, um arbeiten zu gehen. Das können wir uns heute gar nicht mehr vorstellen. Wahrscheinlich so wie uns unsere Kinder und Enkelkinder in 30 Jahren sagen werden: Warum habt ihr beim Thema Umwelt damals denn nicht mehr getan?
Ihr Vater war jahrzentelang der Chef im Haus – bis er irgendwann dement geworden ist.
Das stimmt. Und meine Mutter fragt ihn bis heute um Erlaubnis. Wenn man 60 Jahre lang unter einem Familienvorstand gedient hat, kann man das nicht einfach ablegen. Sie fragt ihn zum Beispiel heute noch: „Gehen wir spazieren?“ und er sagt dann meistens nein. Und dann geht sie nicht. Wenn mein Vater sagt: „Ich esse jetzt ein Käsebrot“, springt meine Mutter auf und schmiert es ihm. Das hat mich schon zu meinen Pubertätszeiten aufgeregt.
Keine Beziehung auf Augenhöhe also.
Nein, sicher nicht. Und das, obwohl die Frauen dieser Generation an ihren Töchtern sehen, dass Beziehungen auf Augenhöhe funktionieren. Aber wer sich ihre Herkunft vor Augen hält, sieht ihr Verhalten mit anderen Augen. Meine Mutter ist ein Kind ihrer Zeit, so wie viele andere Frauen auch.
Ihr Buch ist demnach ein Appell, ein eigenständiger Mensch zu bleiben. Auch in einer Ehe oder Beziehung.
Wenn man immer nur das tut, was der andere vermeintlich will, kann man sich auch täuschen. Es geht darum, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Ich möchte nicht irgendwann im Schaukelstuhl sitzen und darüber sinnieren, was ich alles nicht gemacht habe. Wenn beide tun können, was sie möchten, ist es definitiv besser.
Was möchten Sie anders machen als Ihre Mutter?
Im Alter nicht so zurückgezogen leben. Und eigene Freundschaften haben. Meine Eltern haben immer nur andere Paare getroffen, meine Mutter also so gut wie nie Frauen alleine. Das wäre für mich undenkbar. Ich fände es furchtbar, alles immer nur zu zweit zu machen. Aber ich habe in den letzten Jahren auch gelernt: Wenn jemand es nicht gewöhnt ist, etwas alleine zu machen, macht es ihm auch keinen Spaß. Zum Beispiel sich alleine ins Café zu setzen.
Sie schreiben auch über das Thema Autofahren. Ihr Vater wollte den Schlüssel nicht abgeben und ihre Mutter wollte nicht fahren. Ihre Mission war es, Ihre Mutter mobil zu machen.
Genau, denn die Frage war: Wenn sie nicht selbst fährt, wer fährt sie dann? Ich etwa? Heute ist sie mir dankbar dafür. Das Autofahren ist ein großes Thema und ich habe dazu schon unglaubliche Geschichten gehört. Der Vater von meinem Bekannten kriecht förmlich zu seinem Auto, weil er nicht mehr wirklich gehen kann, und mein Freund macht sich jedes Mal darauf gefasst: „Dies ist das letzte Mal, dass ich meinen Vater sehe.“
Warum klammern die Männer Ihrer Eltern-Generation so an ihren Fahrzeugen?
Das Auto ist für sie überfrachtet mit Bedeutungen. Sie denken an ihren ersten Wagen, an Status, an die lang ersehnte Mobilität, an das Gefühl von Macht und Freiheit in den Nachkriegsjahren. Dieses Auto irgendwann loszulassen, fällt ihnen unheimlich schwer.
Was hat Sie die Beschäftigung mit dem Thema Alter gelehrt?
Die Analyse der Situation allein hilft nicht. Es geht darum, das eigene Herz für das Alter, die Vergänglichkeit zu öffnen. Dabei reicht es nicht aus, nur hin und wieder sonntags zu den Eltern zum Kaffee und Kuchen zu fahren. Viele wenden sich ihren alten Eltern erst zu, wenn diese sehr pflegebedürftig werden. Doch es lohnt sich, den engeren Kontakt schon früher zu suchen. Auch wenn das Zeit kostet und wir alle nicht viel Zeit haben.
Die Situation ist aber oft nicht so einfach. Zum Beispiel wenn die Kinder mitbekommen, dass den Eltern das eigene Haus über den Kopf wächst, dass sie vieles gar nicht mehr allein bewältigen können. Wie soll man Ihrer Erfahrung nach damit umgehen?
Auch bei diesem Thema habe ich viel gelernt. Kinder sind zu übergriffig, wenn sie sagen: „Ihr müsst da jetzt mal ausziehen.“ Was ist denn wirklich so schlimm daran, wenn die Eltern ein Haus mit mehreren Zimmern bewohnen und nur zwei davon nutzen? Besser ist es, kleine sinnvolle Veränderungen für die Eltern zu machen. Den Telefonanschluss zum Beispiel in das Zimmer zu legen, in dem sie sich am meisten aufhalten.
Unsere Eltern wollen so lange wie es geht in ihrem gewohnten Zuhause bleiben.
Und zwar weil sie wissen: Was danach kommt, ist die Endstation. Manche Eltern trauen sich auch nicht zu sagen, dass sie ihr Haus eigentlich verkaufen wollen. Weil die Kinder dann empört sind: „Ihr könnt doch nicht das Zuhause meiner Kindheit verscherbeln.“ Viele wollen im großen Haus bleiben, weil hier wenigstens an Weihnachten die ganze Familie hier zusammenkommt. Und sie haben schlichtweg Angst, dass das nicht mehr passiert, wenn das Haus irgendwann nicht mehr da ist.