„Nimm ihm den Schlüssel ab”Wie ich im Alter mit meinen Eltern die Rollen tauschte
- Die Autorin Michaela Seul schreibt in ihrem neuen Buch „Lieber spät als nie. Wenn Mütter flügge werden” über das Altern ihrer eigenen Eltern und die Konflikte, die das mit sich bringt.
- Wir veröffentlichen einen Auszug aus dem Buch.
Ich bin eine von sehr vielen, gehöre zu einem geburtenstarken Jahrgang. In meiner Kindheit saß der Mann am Steuer. Papa bestimmte die Route des Familienschiffs und hatte das Ruder in der Hand, Mama ordnete sich unter beziehungsweise drehte Papas Ruder mit Charme und Diplomatie in die von ihr gewünschte Richtung.
Lange wollte meine Mutter nicht wahrhaben, dass der Kapitän schwächelte, dass er vergesslich wurde. Denn das bedeutete, dass sie nun das Ruder in die Hand nehmen und Entscheidungen fällen musste. Dagegen wehrte sie sich mit einer Hartnäckigkeit und Zähigkeit, die mich verblüffte. Als es gefährlich zu werden drohte, fühlte ich mich berufen, das Ruder in die Hand zu nehmen. Denn verkehrssicher war mein Vater nicht mehr. Kein Problem, dachte ich, wie ich heute weiß, sehr naiv: Mama hat doch auch einen Führerschein.
Meine Mutter machte den Führerschein in den 1960er Jahren kurz nach ihrer Hochzeit, damit mein Vater, wenn sie hin und wieder ausgingen, Alkohol trinken konnte. Die Promillegrenze interessierte kaum jemanden, sie war auch erst 1953 eingeführt worden, und mit 1,5 Promille war Mann selbstredend noch verkehrstüchtig. Im Wirtschaftswunder-Deutschland wurde viel gefeiert: Wer hart arbeitet, will auch gut essen und trinken. Frauen tranken wenig oder gar nicht, viele begannen als Zeichen der Emanzipation zu rauchen.
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Später besaß meine Mutter ein eigenes kleines Auto. Die Limousine fuhr Papa, und wann immer die beiden zusammen unterwegs waren, saß er am Steuer. Das war so unabdingbar wie die Knödel, die zum Schweinebraten serviert wurden. So vergingen die Jahre, gute Jahre. Mit Anfang achtzig ließ Papas Gedächtnis nach. Je vergesslicher er wurde, desto mehr mutierte meine Mutter zum Navi: Vorsicht, da vorne kommt ein Fahrradfahrer. Jetzt links! Achtung, eine Ampel. Rot. Rot! Stopp!!! Betreutes Fahren.
„Ich kann es ihm nicht verbieten“, jammerte meine Mutter.
„Da wird nicht diskutiert“, sagte ich. „Du nimmst ihm einfach den Schlüssel ab.“
Einfach? Dem Chef, unter dem man seit mehr als fünfzig Jahren diente? Da war meine Mutter die falsche Ansprechpartnerin. Es gehörte also zu meinen Aufgaben, Papa das Autofahren auszureden. Um für eine entspannte Stimmung zu sorgen, fiel ich nicht mit der Tür ins Haus, sondern mit Mohnstreuselkuchen. Nach dem Kaffee fragte ich wie nebenbei: „Papa, glaubst du eigentlich nicht, dass du mittlerweile zu alt zum Autofahren bist?“
Er schaute mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er sich eine Geschlechtsumwandlung vorstellen könnte.
„Nein.“
Dann mauerte er sein Gesicht zu, und ich musste mir eingestehen, dass er in gewisser Hinsicht auch mein Chef war.
Meine Mutter wagte mit an Todesmut grenzender Beherztheit einen Vorstoß. „Weil du doch in letzter Zeit ein bisschen langsam geworden bist.“
Zur Buchautorin
Michaela Seul ist eine mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnete Schriftstellerin und Ghostwriterin. Sie lebt mit Partner und Hund in der Nähe von München
„Ich fahre ja nicht, das Auto fährt“, entgegnete mein Vater.
„Und schlecht siehst“, ließ meine Mutter nicht locker. Was hatte sie Schreckliches als Beifahrerin erlebt, dass sie zu widersprechen wagte?
„Dafür hab ich eine Brille.“
„Und überhaupt. Die Reaktionen. Die Sinne.“
„Ich sehe und höre sehr gut.“ Papa schlug die Zeitung auf, das Gespräch war beendet, Mama am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Was Papa aber nicht mitbekam, hinter der Zeitung.
Monate, wenn nicht Jahre seines Lebens verbrachte er mit der Zeitung vor dem Gesicht. Wir alle lasen aus der Art, wie seine Hände das Papier hielten, ob er ent- oder verspannt war. Heute gehört die Zeitung zu seinen Hauptbeschäftigungen. Unermüdlich fängt er von vorne an, es ist immer wieder brandaktuell für ihn.
In der Küche flüsterte meine Mutter mit mir: „Siehst du, er kann sich selbst überhaupt nicht einschätzen. Er merkt nicht, was mit ihm los ist.“
„Ich schau mir das mal an“, sagte ich.
Am nächsten Tag bat ich meinen Vater, mich zur S-Bahn zu fahren.
„Selbstverständlich“, sagte er.
Überpünktlich wie immer, also zehn Minuten vor der Zeit, schließlich ging es im weitesten Sinne darum, keinen Zug zu verpassen, fuhren sie vor; Mama kalkweiß, Papa guter Dinge. „Es war entsetzlich“, raunte sie mir zu, behielt den Rest aber für sich, obwohl mein Vater damit beschäftigt war, den bis auf Verbandskasten, Warndreieck und -westen gähnend leeren Kofferraum aufzuräumen und meine Tasche im Kofferraum zu verstauen. Wie geschmeidig er sich bewegte, und das in seinem hohen Alter. Allein den Kopf konnte er nicht mehr drehen. Aber auf solche Kleinigkeiten kann man beim Autofahren verzichten, außerdem passte Mama auf.
„Jetzt links“, sagte sie, als wir von meiner Einfahrt auf die Straße abbogen.
„Weiß ich“, knurrte er.
Seine Hände umfassten das Lenkrad, sein Blick war starr nach vorne gerichtet. Ich spürte, dass er sich anstrengte. Mein Mund wurde trocken. Meine Mutter scannte die Umgebung. Mir wurde heiß. Wir fuhren 50 km/h. Außerhalb einer geschlossenen Ortschaft auf einer Landstraße.
Hinter uns brüllte ein Traktor auf. Das interessierte meinen Vater nicht, König der Straße in seinem Mercedes, auf den er jahrelang hingearbeitet hatte, vom Käfer über R4, R6, R16 zu Citroën und dann endlich der erste. Ganz in Weiß. Samstagvormittag wurde er gewaschen, von Hand.
Obwohl Papa sehr langsam fuhr und seine Hände das Lenkrad geradezu umklammerten, war ich nach zehn Minuten Fahrt fix und fertig. Meine Mutter auch. Allein mein Vater war die Ruhe selbst.
„Und, wie war’s?“, fragte mein Mann am Abend.
„Fahren kann er noch, also mit Unterstützung meiner Mutter. Aber er könnte Bremse und Gas verwechseln. So was liest man doch manchmal. Nicht mehr wissen, wo rechts und links ist. Das kommt vor. In einem solchen Fall kann meine Mutter nicht eingreifen.“
„Aber sie hat doch selbst einen Führerschein“, sagte mein Mann.
„Theoretisch.“
„Hat sie oder hat sie nicht?“
„Beides“, sagte ich, und in diesem Moment erkannte ich, dass meine Aufgabe noch gewaltiger war als angenommen. Ich musste meinem Vater nicht nur den Autoschlüssel wegnehmen, sondern ihn meiner Mutter übergeben. Damit würde ich ihn entthronen und meine Mutter krönen. Ich befürchtete, sie würde den Kopf so heftig schütteln, dass die Krone runterfiel.
Und dann? Wäre sie an die Wohnung gefesselt und würde mich ständig anrufen, ob ich sie zum Einkaufen fahren, ob ich dies und jenes für sie erledigen könnte. Bloß weil sie nicht fahren wollte. Ich merkte, dass ich wütend wurde, schon allein theoretisch. Immer dieses: Ich kann nicht. Das bedeutete: nicht allein, nur mit Papa. Wie aber konnte ich ihr Mut machen? Wohl kaum, indem ich sie anblaffte.
Und über allem schwebte die Frage: Was tust du gern für deine Mutter, was ist deine Pflicht? Wie viel deiner Zeit widmest du ihr aus vollem Herzen und wie viel, weil sie dich zu einem höflichen Menschen erzogen hat? Und weil du in den Spiegel schauen können willst, ohne dich zu schämen? Aber wenn ich allein aus diesem Grund handelte, würde ich mich erst recht schämen.
Da es bei uns keine Fahrtauglichkeitsprüfungen wie beispielsweise in der Schweiz und in Italien gibt, raten Experten interdisziplinär, die älteren Verkehrsteilnehmer zu beobachten. Besonders deren Kinder seien aufgefordert, in unauffälligen Tests Seh-, Hör- und Reaktionsfähigkeit der Eltern zu überprüfen. Wenn es gar nicht anders gehe, weil der Senior uneinsichtig sei, solle man sich einen Termin beim Hausarzt der Eltern geben lassen und ihn bitten, das Thema anzusprechen. Na, die Frau Dr. Leitmayer würde sich freuen, denke ich. Vor der Praxis parken gediegene Mercedes-Limousinen, chauffiert von senilen Greisen und ihren Lotsinnen, die zum größten Teil im Besitz einer Fahrerlaubnis sind, nein: wären.
Aber Deutschland gehört nicht zu jenen Ländern, in denen Ärzte ihre Patienten zum Fahrtest schicken können, beziehungsweise geschieht das nur freiwillig. Rund 3300 ältere Autofahrer haben 2017 sogenannte Feedbackfahrten auf freiwilliger Basis mit Experten der Autoclubs ADAC und ACE durchgeführt. Um den Führerschein muss sich dabei niemand sorgen, der Test hat keine rechtlichen Konsequenzen. Wie viele der Teilnehmer im Anschluss ihre Fahrtüchtigkeit so stark in Frage stellten, dass sie auf öffentliche Verkehrsmittel und Taxen umstiegen, ist nicht bekannt.
Ich rief bei einer Fahrschule an und erfuhr, dass es Wiedereinsteiger-Trainings für Senioren, in erster Linie Frauen, gab.
„Und wie hoch ist die Erfolgsquote?“
„Nun“, mein Gesprächspartner räusperte sich. „Eigentlich hoch.“
„Eigentlich?“
„Es kommt leider oft vor, dass wir die Damen zwar fitmachen, doch sie können das zu Hause nicht durchsetzen. Am besten ist es, der Mann ist tot, dann haben wir keine Probleme.“
Ich stelle mir vor, mein Vater würde mit einem Kumpel über seine Eignung zum Autofahren sprechen. Also in Andeutungen. Denn mein Vater als echter Mann seiner Generation verlor nie viele Worte.
Vielleicht so: „Das mit dem Führerschein. Blöde Sache.“
Nein, das wäre, wie mit der Tür ins Haus zu fallen. Eher: „Ich kenn doch meinen Mercedes.“
Nein, viel zu persönlich. Vielleicht: „Ich bin mit meinem Wagen noch immer sehr zufrieden.“
Ja, das könnte passen. Damit hätte er alles ausgedrückt, was seiner Meinung nach zum Thema Führerschein im Alter relevant ist.
Wenn ich meinen Vater nicht lediglich auf eine Gefahr im Straßenverkehr reduzierte, wurde es kompliziert. Ich glaubte spüren zu können, wie schwer ihm der Abschied vom Autofahren fiel. Als junger Mann träumte er zuerst von einem Rennrad. Als er es erspart hatte, radelte er damit quer durch Deutschland und träumte von einem Motorrad. Er sparte weiter eisern, erfüllte sich den Traum und fuhr quer durch Europa. Und wieder sparte er eisern, und dann hatte er endlich sein eigenes Auto. Einen Fiat Topolino, den er mit acht Auspuffen ausstattete. Der war sein ganzer Stolz, und beim ersten Rendezvous mit meiner Mutter versetzte er sie drei Stunden, weil er das Auto vorher mit der Zahnbürste schrubbte und auch noch eine Motorwäsche machte.
Wenn ich meinem Vater die Notwendigkeit des Fahrverbots wenigstens hätte erklären können. Doch die Demenz war eine Sackgasse, er war manövrierunfähig. Er würde sich bestraft fühlen als Beifahrer. Das, was er mit so großer Selbstverständlichkeit und Freude sein Leben lang getan hatte – Auto fahren –, wurde ihm, ohne dass er die Notwendigkeit sah, weggenommen von den Menschen, die ihm am nächsten stehen. Wie sollte er das begreifen? Und wie sollte meine Mutter es übers Herz bringen?
Wenn ich meine Eltern besuchte, stand mein Vater manchmal schon auf der Treppe, schaute mir beim Aussteigen zu, nickte freundlich und fragte dann: „Wie viele Kilometer hat er denn drauf?“
„Knapp zweihunderttausend.“
„Und, läuft er gut?“
„Perfekt.“
Wieder nickte er zufrieden. Dann wollte er wissen: „Was braucht er denn?“
Da ich mit „Keine Ahnung“ nicht durchkam, sagte ich: „Fünf Liter.“
„Gut“, nickte mein Vater und ging wieder ins Haus. Und das Verrückte war, dass ich das Gefühl hatte, wir hätten uns gut unterhalten und erschöpfend ausgetauscht. Hatten wir nicht alles Wesentliche besprochen?
Doch neulich kehrte er auf der Treppe um und fragte abermals: „Wie viele Kilometer hat er denn drauf?“
„Achtundachtzig Jahre“, sagte ich diesmal.
„Du meinst, er gehört ins Museum?“
Überrascht schaute ich ihn an. Dann nickte ich. Manchmal hatte ich das Gefühl, er bekam mehr mit, als ich vermutete. Oder waren das helle Momente? Oder war das mein heller Moment?
Seit jenem Tag ist mein Vater nicht mehr am Steuer gesessen. Was meine Mutter mit ihm als Beifahrer durchmacht, ist eine andere Geschichte ...