Wünschen sich Eltern in Deutschland eher ein Mädchen oder einen Jungen? Ein Kölner Soziologe gibt Einblick in seine Forschung.
Kölner Soziologe„Es scheint für Eltern attraktiver geworden zu sein, Mädchen zu kriegen“
Wenn ein Baby unterwegs ist, werden Eltern oft gefragt: „Und, was wünschst du dir – Junge oder Mädchen?“ Darauf klar und laut zu antworten, ist vielen eher unangenehm. Schließlich möchte man ja nicht den Eindruck erwecken, ein Geschlecht zu bevorzugen. Zumal auch Geschlechtergrenzen heute ohnehin viel fließender geworden sind. Eine Präferenz für Junge oder Mädchen haben Eltern insgeheim aber oft sehr wohl. Soziologieprofessor Karsten Hank von der Universität Köln hat dazu geforscht. Ein Gespräch.
„Egal ob Junge oder Mädchen, Hauptsache ein Kind!“, heißt es oft. Spielt das Geschlecht ihres Babys für Eltern heute noch eine große Rolle?
Karsten Hank: Auch heute ist es natürlich das Wichtigste für Eltern, überhaupt ein gesundes Kind zu bekommen. Doch was die Geschlechterpräferenz angeht, konnten wir in Studien zwei interessante Entwicklungen feststellen, sowohl für Deutschland als auch für andere Länder. In erster Linie wünschen sich Eltern eine Geschlechtermischung, also einen Jungen und ein Mädchen. Das ist wirklich das dominierende Muster. Darüber hinaus gibt es aber inzwischen auch eine Präferenz für Mädchen.
Wie zeigt sich diese Mädchenpräferenz genau?
Wir konnten bei Familien mit mehreren Kindern beobachten, dass die Geschlechterzusammensetzung der Kinder, die schon auf der Welt sind, die Entscheidung für oder gegen weitere Kinder beeinflusst. Wenn Eltern bisher nur Jungs haben, führt der Wunsch nach einem Mädchen eher dazu, dass sie sich noch für ein weiteres Kind entscheiden. Umgekehrt ist es nicht so – wenn Eltern schon Mädchen haben, wollen sie nicht unbedingt noch einen Jungen.
Wie bewerten Sie diese Ergebnisse?
Ich finde es sehr faszinierend, dass das Ziel, den Wunschgeschlechtermix zu bekommen, immerhin so stark ausgeprägt ist, dass die Eltern, die nicht die Lieblingskombination haben, es deshalb nochmal probieren wollen. Das ist schon ein starker Schritt.
Gibt es auch kulturelle Unterschiede, was den Geschlechterwunsch betrifft?
Wir hatten das vor einigen Jahren bei in Deutschland lebenden polnischen und türkischen Migranten untersucht. Bei türkischen Familien mit mehreren Kindern konnten wir eine Präferenz für Jungen erkennen. Bei den polnischen Familien gab es nur den Wunsch nach einem Geschlechtermix. Das einzige nordeuropäische Land, in dem es neben dem Wunsch nach einem Geschlechtermix eine Jungenpräferenz gibt, ist übrigens Finnland. Man geht davon aus, dass sich in diesem eher konservativen Land traditionelle Vorstellungen noch länger gehalten haben.
Von wegen Tradition – früher gab es auch hierzulande bei Eltern grundsätzlich andere Geschlechtervorlieben, oder?
Schon, früher wollte man eben den Stammhalter oder Erben für den Familienbetrieb bekommen. Dazu fällt mir eine private Anekdote ein: Meine Mutter hat mir zu meinem 50. Geburtstag einen Brief geschenkt, den sie von ihrer Mutter damals zu meiner Geburt ins Krankenhaus geschickt bekommen hatte. Ich war der erste männliche Nachkomme nach vielen Enkeltöchtern. Und meine Großmutter hat tatsächlich geschrieben: „Endlich ein Junge!“ Aber auch heute würden wohl viele davon ausgehen, dass es noch eine Jungenpräferenz gibt.
Ich hätte eher vermutet, die Bedeutung des Geschlechts löst sich zunehmend auf…
Ja, man hätte wirklich erwarten können, dass die Bedeutung des Geschlechts zumindest in unseren westlichen, liberalen, offenen Gesellschaften abnimmt. Aber wir konnten zeigen, dass die früheren Geschlechterpräferenzen nicht verschwunden sind, sondern sich sogar umgekehrt haben. Das hat uns selbst irritiert und überrascht.
Warum wünschen sich Eltern eher ein Mädchen?
Wir können durch unsere Zahlen zwar Tendenzen erkennen, aber natürlich nicht ergründen, was die treibenden Mechanismen innerhalb der Familien sind. Wir erklären uns die Mädchenpräferenz so, dass Töchter heute durchaus Rollen übernehmen, die früher den Söhnen vorbehalten waren. Weil Frauen inzwischen häufig berufstätig sind und Geld verdienen, können sie nun ihre Eltern zum Beispiel auch finanziell im Alter unterstützen. Zum anderen behalten sie aber gleichzeitig ihre alte „traditionelle“ Rolle als fürsorgliche Familienmitglieder. Es scheint deshalb für Eltern noch attraktiver geworden zu sein, Mädchen zu kriegen. Dass sich diese Mädchenpräferenz erst entwickelt hat, ist aus soziologischer Sicht spannend. Man könnte das als Indikator für sozialen Wandel und die Veränderung der Frauenrolle sehen.
Und der Wandel zeigt sich nur bei den Frauen?
Insgesamt beobachten wir eine erstaunliche Beständigkeit bei den Rollen innerhalb der Familien. Rollenbilder lösen sich nicht so stark auf wie vermutet. Auch heute leisten noch vor allem Frauen die Pflegetätigkeiten und gehen nach der Geburt der Kinder in Teilzeit arbeiten. Und es wird oft spontan davon ausgegangen, dass eben die Mutter oder Tochter Familienaufgaben übernehmen. Gleichzeitig sind Männer oft noch die Hauptverdiener und nehmen nur selten länger Elternzeit. Dennoch ändern sich die Rollen der Frauen und Mädchen viel stärker als das Rollenverständnis der Männer und Jungen. Von den Söhnen wird heute oft noch das Gleiche erwartet oder sie haben den Eltern noch das Gleiche zu bieten wie vor 50 Jahren. Bei den Töchtern ist etwas dazugekommen.
Söhne sollten also auch mal andere Felder besetzen?
Genau. Wenn Männer mehr Pflegetätigkeiten übernehmen würden oder ihre Zähne auseinander kriegen würden und über ihre Gefühle und die der Menschen in ihrem Umfeld sprechen könnten, würde sich einiges ändern.
Um nochmal zurück zu kommen zu den Babys: Behandeln Eltern ihr Kind anders, wenn es nicht das Wunschgeschlecht hat?
Auf keinen Fall würde ich das so interpretieren. Eltern, die doch wieder einen Jungen bekommen, werden diesen nicht weniger lieben oder vernachlässigen. In anderen Gesellschaften kann man die Folgen einer Geschlechterbevorzugung allerdings leider beobachten. In Indien werden weibliche Föten abgetrieben oder Mädchen dürfen zum Beispiel weniger an Ressourcen des Haushalts teilhaben. Davon sind wir zum Glück weit entfernt.