Hochsensible Mamas und Papas„Eltern schaffen es nicht, den Kindern Grenzen zu setzen“
- Rund 20 Prozent der Bevölkerung ist hochsensibel. Der angeborene Wesenszug bedeutet, ohne eine Art Schutzschild unterwegs zu sein, erklärt Sozialpädagogin Julia-Teresa Lumpp.
- Laute Geräusche, grelles Licht, Gefühle von anderen Menschen – all das kommt bei Hochsensiblen ungefiltert an. Für die Elternschaft bedeutet das besondere Herausforderungen aber auch Vorteile.
- Zwei hochsensible Mütter berichten über ihren Alltag. Hilfreiche Tipps für Eltern mit diesem Wesenzug, lesen Sie hier.
Köln – „Es ist immer sehr schön mitanzusehen, wie hochsensible Eltern einfach ganz genau spüren, was ihr Kind benötigt. Sie merken, wenn es ihm nicht gut geht und können sich ganz empathisch verhalten. Diese Bindung zwischen Eltern und Kindern ist so innig, liebevoll und eng, weil die Mütter und Väter wissen, was mit ihren Kindern los ist“, sagt Julia-Teresa Lumpp. Die Sozialpädagogin berät in Karlsruhe hochsensible Eltern, Familien, Kinder und Jugendliche. Julia-Teresa Lumpp ist selbst hochsensibel. Es ist ein angeborener Wesenszug, der dazu führt, dass Reize intensiver wahrgenommen werden und Informationen stärker verarbeitet werden. Hochsensibel sind rund 20 Prozent der Bevölkerung (weitere Informationen siehe Kasten). Für Eltern ist das im Alltag eine besondere Herausforderung. Der Wesenszug hat aber auch einige Vorteile.
Was es bedeutet hochsensibel zu sein, erklärt Julia-Teresa Lumpp so: „Jemand der nicht hochsensibel ist, kann sich vorstellen, ein Nudelsieb auf dem Kopf zu haben, das dafür sorgt, dass der Lärm, das grelle Licht, die Gerüche und die Gefühle der anderen von ihm abprallen – ein imaginäres Schutzschild sozusagen. Ich als hochsensible Person habe ihn nicht – in mich dringen alle Gefühle, Lärm und Reize von außen ungefiltert ein. Ich habe kein Schutzschild, um das abzuwehren.“ Nicht jede hochsensible Person weiß, dass sie diesen Charakterzug hat und denkt ihr Verhalten sei eine Macke oder sie fühlt sich, wie Julia-Teresa Lumpp einst, „falsch auf dieser Welt“.
Grenzen zu setzen, fällt Hochsensiblen schwer
In ihrer Beratung bemerkt die Sozialpädagogin oft, dass Mütter und Väter diesen Wesenszug durch ihre Kinder an sich feststellen und es ein Wendepunkt für sie ist. Gerade für Eltern bedeute es nämlich, ein Dasein zwischen Empathie und Reizüberflutung zu führen. Zum Beispiel noch tagelang an einem dummen Spruch eines anderen Autofahrers zu knabbern, einen Blick für Feinheiten zu haben und gut auf das eigene Kind eingehen zu können, erläutert die Expertin.
Doch der Wesenszug bringt für Mütter und Väter Herausforderungen mit sich: „Hochsensible Menschen achten oft nicht auf ihre Grenzen – sie denken daran sehr wenig, gehen häufig darüber hinaus. Und viele Eltern schaffen es nicht, den Kindern Grenzen zu setzen“, sagt Julia-Teresa Lumpp.
Susanne Jung schildert, wie sie gemerkt hat, dass sie hochsensibel ist
Die 50-jährige Susanne Jung ist Mutter einer 14-jährigen Tochter. Erst durch sie hat Jung vor etwa drei Jahren selbst gemerkt, dass nicht nur ihr Kind, sondern auch sie selbst hochsensibel ist. „Wir befinden uns jetzt auf einer gemeinsamen Reise“, beschreibt es Jung. Dass sie einfühlsamer ist und auch offen über sensible Themen sprechen kann, helfe ihr als Mutter. „Es ist gut, dass ich meine Tochter verstehen kann, mich in sie hineinversetzen kann.“ Jung kann ihrer Tochter mit Beispielen aus ihrer Jugend helfen. Sie kann nachvollziehen, wenn es Schwierigkeiten gibt, beispielsweise beim Einschlafen, wenn am Abend die ganzen Gedanken und Erlebnisse auf ihre Tochter einprasseln.
Nicht so einfach war es dagegen für die Mutter, Wutanfälle ihres Kindes nicht auf sich zu beziehen. „Besonders schwer ist es für mich, nicht immer von mir auszugehen und zu denken, dass es so sein muss, wie ich es denke. Einfach zu akzeptieren, dass andere Menschen anders ticken. Gelassener zu werden und zu akzeptieren, dass mein Tochter eine andere Lösung braucht.“
Hochsensibilität
Der Begriff Hochsensibel ist sehr offen gehalten, weil es sich nicht um eine Krankheit handelt. Stattdessen gibt es Indikatoren, wie ein sehr guter Geruchs- und Geschmakssinn oder eine stärkere Emotionalität, die darauf hinweisen. Festgestellt werden kann dieser Wesenszug nur durch Selbstbeschreibungen in einem psychologischen Fragebogen. In der Wissenschaft ist allerdings umstritten, ob es Hochsensibilität tatsächlich gibt. Bekannt ist aber, dass Menschen Reize unterschiedlich wahrnehmen und verarbeiten. Die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron hat den Begriff in den 1990ern geprägt.
In ihrem Alltag erkennt Susanne Jung ihre Hochsensibilität mitunter daran, dass sie extrem gut riechen und schmecken kann. „Wir wohnen im fünften Stock, wenn es im Aufzug streng riecht, kann ich nicht mit ihm fahren“, erzählt sie. Auch im Rückblick sieht sie Momente in ihrer eigenen Kindheit, die durch den Wesenszug entstanden sind: „In der Grundschule saß ich anfangs beim Sportunterricht auf der Bank und habe geweint, weil mich die vielen lauten Geräusche und Gerüche überfordert haben.“ Susanne Jung wurde als Kind für schüchtern gehalten, um ihren Charakterzug wusste niemand. Sie ist froh, dass sie ihn nun kennt und zusammen mit ihrer Tochter die Vorteile nutzen kann.
Mit den Kindern in den Gefühlen verloren
Die drei Kinder von Sandra Meier, die eigentlich anders heißt, sind schon in ihren Zwanzigern. Als die Kinder klein waren, wusste Meier nicht, dass sie hochsensibel ist. „Das Wissen um die Hochsensibilität hätte mir in meiner Zeit als Mutter sehr geholfen. Ich merke, wie ich heute im Rückblick oft mein Verhalten oder das meiner Kinder einordnen kann.“ Es hätte sie beispielsweise weiter gebracht, zu wissen, dass es hochsensiblen Eltern schwer fällt, sich abzugrenzen.
„Ich bin häufig zu sehr mit meinen Kindern verschmolzen, weil ich ihre Emotionen so stark gespürt habe – so sehr mit ihnen mitgelitten habe. Ich verstehe nun in der Rückschau, dass ich dadurch nicht immer eine Hilfe für meine Kinder war. Es hat nämlich manchmal dazu geführt, dass die Kinder sich sehr in ihren Gefühlen verloren haben und nicht gut rauskamen.“ Auch bei ihren erwachsenen Kindern falle es ihr heute noch schwer, nicht sofort auf ihre Gefühle zu reagieren. Sandra Meier beschreibt, dass Treffen mit ihren Kindern für sie manchmal schwierig seien, wenn sie spüre, was mit ihnen los sei, sie es aber nicht erzählen wollen.
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Fürsorge, Empathie und Aufmerksamkeit als Stärke
Die Kinder hätten bedauert, dass sie nicht oft mit ihnen verreist sei. Heute weiß Sandra Meier, dass sie durch ihre Hochsensibilität nicht gerne verreist, weil es zu viele neue Reize sind, die sie verarbeiten muss. Dagegen sei sie bei Trubel zu Hause mit den Kindern absolut stressresistent gewesen.
„Meine große Stärke als Mutter war, dass meine Kinder in ihren ersten Lebensjahren in mir eine Bezugsperson hatten, bei der sie sich aufgehoben und verstanden gefühlt haben. Ich habe bei meinen Töchtern und meinem Sohn sehr viel aus dem Bauch heraus gemacht, als sie klein waren – ihnen viel Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt.“ Für die Partnerschaft sei die Hochsensibilität manchmal eine Herausforderung, weil der Partner nicht alles nachvollziehen könne.
Tipps für hochsensible Eltern
Susanne Jung und Sandra Meier können heute ihr Wissen über die Hochsensibilität gut anwenden. Jungs wichtigster Tipp deshalb: „Geht raus, informiert euch, tauscht euch aus!“ Sandra Meier, sagt, dass es wichtig sei, sich selbst kennen zu lernen, zu schauen, was gut gelingt, was einem schwer fällt und sich gut um sich selbst zu kümmern.
Die Psychologin Elaine N. Aron hat einen Test entwickelt, der erste Anzeichen liefert, ob man hochsensibel sein könnte. In ihrem Buch „Hochsensible Eltern“ gibt sie Tipps und Ratschläge, wie Mütter und Väter gut mit ihrem Wesenszug umgehen können:
- Um eine Überreizung zu vermeiden, sei es wichtig, regelmäßige Pausen zu machen, um den eigenen Energievorrat aufzufüllen.
- Eltern sollten wissen, wann jemand aus der Familie mit Überreizung reagieren könnte. Beispielsweise, wenn alle Kinder wild durcheinander reden und wollen, dass Mutter oder Vater ihnen zuhören. Es sei dann zum Beispiel gut, wenn Eltern die Kinder auffordern, sich erstmal still zu beschäftigen und danach mit ihnen zu sprechen.
- Im Alltag sollten Mütter und Väter darauf achten, dass ihre Kinder kein zu volles Programm hätten, weil dies die Kinder überreizen und überfordern könne und problematische Situationen wahrscheinlicher sind.
- Gerade bei kleinen Kindern sei ausreichend Essen, Schlaf und Wasser ein Garant für Wohlbefinden.
- Für Schreiphasen gibt Elaine Aron den Tipp, Ohrenstöpsel zu nutzen – so hören Eltern das Kind noch, aber die Lautstärke ist reduziert.
- Der wichtigste Rat der Psychologin: Hilfe suchen, wenn man sie für Haushalt oder Betreuung braucht und sich nicht mit anderen Eltern vergleichen.