Jana Crämer ist 39 und ungeküsst. Sie nahm 100 Kilo ab und wurde vom Mobbingopfer zur Mutmacherin für Millionen. Jetzt spricht sie darüber.
Autorin spricht übers Anderssein„Ich bin über 39 Jahre alt und habe noch nie jemanden geküsst“

Erster Kuss, erster Freund, erstes Mal – all das habe Jana Crämer noch nicht erlebt. (Symbolbild)
Copyright: Mohssen Assanimoghaddam/dpa
Bodyshaming, Selbstzweifel, Sexualität, Essstörungen, Mobbing, Einsamkeit: Jana Crämer nimmt sich in ihrem Buch (Jana, 39, ungeküsst; Knaur Verlag, 13 Euro) gnadenlos selbst auseinander und spricht Themen an, die in der heutigen Gesellschaft noch oft tabuisiert werden. Mutig schreibt die Autorin über 39 Jahre Singledasein, über die Diagnose Lipödem, über ihren durch Diäten gezeichneten Körper und über ihre Erkrankung an Multipler Sklerose. „Der Schreibprozess war so emotional für mich, dass ich meinen Psychologen anrufen musste, obwohl meine letzte Therapiesitzung schon eine Ewigkeit her ist“, erzählt Jana Crämer im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.
Frau Crämer, Sie schreiben in Ihrem Buch über das Anderssein – ein meist unangenehmer Zustand, den viele Erwachsene kennen werden. Als Kinder gehen wir noch unbedarfter durch die Welt. Wann haben Sie das Gefühl gehabt, dass es nicht mehr in Ordnung ist, anders zu sein?
Das war mit etwa neun Jahren auf einem Kindergeburtstag. Es gab dort einen sehr leckeren Kuchen und ich habe voller Freude ein zweites Stück gegessen. Als das Geburtstagskind auch ein zweites Kuchenstück nehmen wollte, kniff sich dessen Mutter mit zwei Fingern in eine nicht vorhandene Speckfalte über ihrem Hosenbund und sagte: „Lass das mal lieber. Du willst doch nicht so aussehen wie Jana, oder?“ Bis zu diesem Moment war ich eigentlich ein sehr glückliches Kind und fand mich ziemlich gut. Aber danach hatte ich das Gefühl, dass mein Bauch falsch ist. Das war das erste Mal, dass ich mir anders vorkam – aber nicht das einzige Mal.
In welchen Momenten unterscheiden Sie sich noch vom vermeintlichen Idealbild unserer heutigen Gesellschaft?
Zum Beispiel beim ersten Kuss, dem ersten Freund und dem ersten Mal – all das habe ich nicht erlebt. Ich bin jetzt über 39 Jahre alt und habe noch nie jemanden geküsst, ich habe noch nie Händchen gehalten. Ich habe auch keinen Führerschein und ich lebe mit meiner siebzigjährigen Mutter zusammen, damit bin ich sicherlich auch „anders“.
Haben Sie sich denn je gewünscht, diese Erfahrungen zu machen?
In manchen Situationen schon – aber häufig vor allem dann, wenn mir in meinem Umfeld eingeredet wurde, dass ich so, wie ich bin, nicht richtig bin. Oft wirkt es so, als ob eine Mängelliste von dir erstellt wird: Zu dick, zu dünn, zu laut, zu leise, zu erfolgreich ... Die Gesellschaft hat so viele Erwartungen an uns. Aber bevor wir versuchen dieser Gesellschaft zu gefallen, sollten wir erstmal schauen, ob uns die Gesellschaft gefällt. In den Augen vieler Menschen darf ich als ungeküsste Singlefrau nicht glücklich sein. Aber wenn wir verstehen würden, dass unsere Lebenswege nicht alle genau gleich aussehen müssen, dann wäre das Leben für viele von uns wesentlich entspannter.
Das klingt nach einem enormen Druck, den Sie gerade beschreiben. Wie hat sich dieser Druck damals bei Ihnen geäußert?
Vor allem in einem gestörten Essverhalten. Bei mir hat eine Diät die nächste gejagt, ich hatte mein Essverhalten immer so lange unter Kontrolle bis die nächste Fressattacke kam. Dabei habe ich auch mal 10.000 bis 15.000 Kalorien gegessen. Ich habe an der Kasse im Supermarkt immer ein Telefonat vorgetäuscht und so getan, als ob ich für eine Party einkaufe – damit niemand denkt, dass diese Unmengen an Lebensmitteln für mich allein sind. Und immer habe ich mir gesagt: „Heute ist es das allerletzte Mal, ab morgen ernähre ich mich gesund und bin schlank und glücklich.“ Dieses Hochgefühl hielt genauso lange an, bis ich wieder umgeben von unzähligen Lebensmittelverpackungen voller Scham und voller Schmerz irgendwo saß und mich nicht daran erinnern konnte, dass ich all das gerade gegessen hatte. Heute weiß ich, dass ich die Binge-Eating-Störung hatte. Eine Essstörung, die deutlich mehr Menschen in Deutschland betrifft als die weitaus bekannteren Erkrankungsformen Bulimie und Magersucht.
Wie haben Sie es geschafft, das hinter sich zu lassen?
Ich habe mich in die Hände von Ärzten und Psychologen begeben. Aber wenn die mir etwas von Heilung erzählt haben, habe ich immer die Augen verdreht. Ich wollte mein Essverhalten einfach nur unter Kontrolle bekommen und nicht mehr so unfassbar viel Gewicht zunehmen. Ich habe ja 180 Kilo gewogen, als die Waage aufgegeben hat. Heute habe ich mein Essverhalten auch nicht immer im Griff. Aber es ist einfach kein Thema mehr. Inzwischen ist Essen für mich purer Genuss und ich liebe es, in Restaurants zu gehen oder etwas Leckeres zu kochen. Aber jede Essstörung ist anders, die lassen sich nicht in eine Schublade stecken.
Auf Social-Media-Plattformen wie Tiktok folgen Ihnen über eine halbe Million Menschen und auch bei Ihren Konzertlesungen tauschen Sie sich mit Ihrer Community aus: Wie nehmen Sie den Druck wahr, der heute auf den Jugendlichen lastet?
Ich empfinde ihn als deutlich größer. Die Jugendlichen von heute sind mit meinem jugendlichen Ich nicht zu vergleichen. Sie denken viel reflektierter, aber auch komplizierter. Im Austausch erlebe ich immer wieder eine riesige Angst etwas falsch zu machen und eine große Scham, denn sie vergleichen sich mit unrealistischen Bildern, Verhaltensweisen und durchgeskripteten Videos, die als echt verkauft werden. Wir müssten über unsere Körper und über unsere Sexualität viel offener sprechen, aber diese Themen sind auch bei der älteren Generation mit sehr viel Scham behaftet.
Verschlimmern die sozialen Medien diese Problematik nicht sogar noch?
Das kommt ganz darauf an, wie man sie nutzt. Genau wie im echten Leben können wir auch in den sozialen Medien jeden Tag entscheiden, wem wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Ich sage immer: Bringt euren Müll raus und guckt ganz genau, wem ihr folgt. Ich persönlich folge nur Accounts, die mir guttun. Ich setze mich nicht mit Menschen auseinander, die mir ein schlechtes Gefühl geben. Ich bin das so leid. Dieser ständige Kampf gegen sich selbst und die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, nur um irgendwie dazuzugehören und auf keinen Fall anders zu sein, als es von der Familie, den Klassenkameraden, den Kollegen, ja, von der gesamten Gesellschaft erwartet wird, kostet uns alle unfassbar viel Zeit und Energie.
Da spricht jetzt aber eindeutig die erwachsene Jana aus Ihnen. Wie sieht Ihr erwachsenes Ich sich selbst heute eigentlich im Spiegel?
Wenn ich mich heute bewusst anschaue, betrachte ich mich zu 95 Prozent mit einem Lächeln. Ich würde nichts ändern wollen an mir, auch wenn mir das häufig empfohlen und sogar angeboten wird. Aber ich bin nicht bereit, etwas an mir machen zu lassen. Ich habe meinen Körper lange genug gequält, jetzt habe ich ihn einfach nur noch gern und fertig.
Ist das die Botschaft, die Sie jungen Menschen mitgeben möchten?
Ja. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man niemanden hat, der einem sagt: Du bist richtig, so wie du bist – niemand, dem man glaubt. Ich möchte heute der Mensch sein, den ich früher gebraucht hätte. Wir dürfen bei diesen Themen nicht locker lassen. Das, was ich zu erzählen habe, muss bestimmt nicht jeder hören. Aber so lange es die richtigen Menschen hören, reicht mir das.