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RollenbilderWie sich sexistische Werbung auf Kinder auswirkt

Lesezeit 4 Minuten

Werbeplakat eines Reiseportals aus dem vergangenen Jahr in Berlin-Mitte: Aus Protest hat jemand „sexistischer Mist“ darunter geschrieben.

„Ride me all day for 3 pounds“, also etwa „Nimm mich den ganzen Tag für drei Pfund“ - nackte weibliche aber auch männliche Models halten Schilder mit diesem Schriftzug hoch. Überlebensgroß sind sie im walisischen Cardiff auf Bussen abgebildet. Eindeutig zweideutig ist die Werbung, mit dem ein Busunternehmen im Frühjahr nach eigenen Angaben um „junge Kundschaft“ buhlt. Auch die Kreishandwerkerschaft Südniedersachsen ist gerade erst durch Plakate aufgefallen, die mit Sprüchen wie „Geile Kurven? Kann man formen“ Nachwuchs sucht, wie das Göttinger Tageblatt berichtet. Auf dem Plakat steht unter Ton formenden Händen „Kennen Lernen. Näher Kommen. Hand anlegen“.

Mit sexistischen Inhalten junge Menschen ansprechen

Werbeagenturen glauben anscheinend noch im Jahr 2015, dass sie mit sexistischen Inhalten wie in den fünfziger Jahren Erfolg haben und damit gerade junge Menschen ansprechen können. Doch was lösen diese Anzeigen in Kindern und Jugendlichen aus? Der Medienpädagogik-Professor Sven Kommer von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen sieht das Phänomen kritisch. „Es geht natürlich nicht um ein einzelnes Plakat, das junge Menschen nachhaltig negativ prägt“, sagt der Medienexperte. Doch jede sexistische Werbung - ob nun im Netz oder an der Straßenecke - sei schließlich Teil der Welt, in der sich Kinder und Jugendliche bewegen.

Anzeigen haben Anteil an Sozialisation

„Die Anzeigen haben Anteil an der Erschaffung des Weltbildes der Jugend, an ihrer Sozialisation“, sagt Kommer. Werbung sei mit ihren - seit dem Vormarsch der neuen Medien allgegenwärtigen - Bildern beteiligt an der Konstruktion von Wirklichkeit. „Sie hat somit auch die Macht, peu à peu die Wirklichkeit zu verschieben und das, was Mann- und Frau-Sein heute bedeutet.“ Soll heißen: Nicht nur die Szene auf dem Plakat ist reaktionär. Irgendwann verhält sich auch das Kind so, das ständig daran vorbei läuft. Werbung könne Geschlechterrollen bereits in einem sehr frühen Stadium beeinflussen und langfristig prägen.

Jugendliche spiegeln sexistische Werbung auf Facebook-Profilen

Kommer nennt als Beispiele die vielen Profilbilder von Jugendlichen, die sich auf ihren Facebook- und Instagram-Accounts als sexuelles Objekt inszenieren oder anderweitig degradieren, weil sie es bereits als „normal“ empfinden. „Kinder und Jugendliche sind durch die neuen Medien heute viel stärker mit sexualisierter und sexistischer Werbung konfrontiert als früher“, sagt Kommer, „und sie spiegeln häufig, was sie sehen“. Hinzu kommt: „Eltern hatten beim "Steinzeitmedium Fernsehen" zumindest noch die Kontrolle, was die Kinder konsumieren, heute haben viele Eltern das Gefühl, dies nicht mehr beeinflussen zu können.“

Kann man also überhaupt gegensteuern? Ja, sagt Kommer. Schließlich hätten Eltern an der Sozialisation ihrer Kinder einen immensen Anteil. Eltern sollten sexistische Inhalte im Netz, aber auch anderswo, immer wieder thematisieren und ihren Kindern sagen, was sie selbst davon halten. Auch mit Fragen, die die Kinder direkt ansprechen, könne man eine Diskussion zu diesem Thema anstoßen etwa, indem man frage: „Was würdest du davon halten, wenn man dich oder deine Freunde so darstellen würde? Würdest du das gut finden?“

Nicht nur kritisieren - Selbstbewusstsein vorleben

„Gleichzeitig ist es natürlich wichtig, Selbstrespekt und Selbstbewusstsein tatsächlich auch vorzuleben“, so Kommer. Wer sexistische Werbung kritisiere, dann aber beim Shoppen mit den Kindern selbst ständig über den vermeintlich zu großen Po oder den Bauchansatz stöhne, verhalte sich nicht nur widersprüchlich, sondern sorge auch bei seinen Kindern für ein negatives Körperbewusstsein.

Wer seine Stärken kennt, postet keine Bikinibilder

Auch Familientherapeut Dr. Björn Enno Hermans sagt, es komme sehr darauf an, den Selbstwert der Kinder und Jugendlichen zu stärken, der sich eben nicht hauptsächlich aus Äußerlichkeiten speisen dürfe. „In einer zunehmend sexualisierten Gesellschaft wollen junge Frauen und Männer mit entsprechenden Profilbildern Aufmerksamkeit und Wertschätzung erzielen.“

Junge Menschen, die sich ihrer Stärken jenseits des äußeren Erscheinungsbilds bewusst seien, würden wahrscheinlich keine Bikinifotos oder Bilder in Badehose auf Facebook hochladen, um „Likes“ aus ihrer Peergroup zu ernten, so der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF).

Verbot der neuen Medien ist unangemessen

Medienexperte Kommer empfiehlt Eltern, zumindest hin und wieder einen Blick auf die Facebook- und Instagram-Profile ihrer Kinder zu werfen und sie auf kritische Bilder direkt anzusprechen. Ein Verbot der sozialen Netzwerke oder der neuen Medien hält Kommer aber nicht nur für nicht praktikabel, sondern auch für unangemessen. „Ein Verbot sorgt dafür, dass Kinder den Umgang mit Medien überhaupt nicht lernen.“ Medienkompetenz sei aber heute ein unverzichtbarer Teil von Bildung, so Kommer.

Soziale Netzwerke als Multiplikator des gesellschaftlichen Aufschreis

Und: Soziale Netzwerke und neue Medien fungieren inzwischen schließlich auch als gesellschaftliche Kontrollinstanz, als Multiplikator einzelner Gegenreaktionen. Der Aufschrei in sozialen Netzwerken über die Buswerbung in Cardiff war so groß, dass das Busunternehmen sich entschuldigte und ankündigte, sie „innerhalb von 24 Stunden“ von allen Fahrzeugen zu entfernen.