Hamburg/Köln – Um Manuela Freitags Geschichte zu erzählen, muss man sehr früh anfangen. Mit zwölf Jahren geht sie zum ersten Mal anschaffen. Sie wird missbraucht und geschlagen, arbeitet auf dem Straßenstrich, in Privatwohnungen, auf der Reeperbahn und seit 30 Jahren als Domina in der berühmten Hamburger Herbertstraße. Sie hat alles gesehen. Über ihre Erfahrungen hat sie nun ein Buch geschrieben. Am Telefon spricht sie darüber, wie sich der Job in den vergangenen Jahren verändert hat, wann es auch ihr zu viel wird und was sie sich von der Gesellschaft wünscht.
Schon als Kind ist Manuela Freitag anders als die anderen: willensstärker, sturer, wissbegieriger, mit mehr Drang zur Freiheit. Sie wächst zunächst bei Pflegeeltern in Bremen auf, über die sie als Jugendliche erfährt, dass es nicht ihre leiblichen Eltern sind. Ihre Mutter bekommt sie mit 18 und gibt sie ab, weil sie sich nicht um das kleine Mädchen kümmern kann: Sie arbeitet selbst als Prostituierte auf der Reeperbahn. Freitag wird ihr ganzes Leben lang auf der Suche nach ihrer Mutter sein und sie schließlich auf einem Hamburger Friedhof finden.
Mit zwölf Jahren vom Erzieher missbraucht und anschließend auf dem Straßenstrich
Weil ihre Pflegeeltern sich nicht gut genug um sie kümmern, kommt Freitag mit fünf Jahren in ein Kinderheim. Als sie älter wird und immer wieder aneckt, wird sie an diverse Wohngruppen weitergereicht. Als sie zwölf ist, lädt einer der Erzieher sie übers Wochenende zu sich nach Hause ein und missbraucht sie. „Es war mein erstes Mal. Ich nahm es hin, es fühlte sich für mich in dieser Situation nicht als etwas Gewalttätiges an. Ich dachte, das gehört dazu, wenn man jemanden mag. Ich wusste es nicht anders“, schreibt sie in der Rückschau.
Kurz danach beginnt sie, in ihrer Heimatstadt Bremen auf den Straßenstrich zu gehen – um eigenes Geld zu verdienen. Von da an arbeitet sie als Prostituierte in Bremen, Münster und Hamburg, auf der Straße, in Clubs, Privatwohnungen und auf der Reeperbahn. Sie hat Zuhälter und Beziehungen, wird geschlagen und missbraucht, befreit sich schließlich und arbeitet seit langem für sich allein. „Ich war für die Zuhälter einfach eine zu starke Frau. Ich habe früh erkannt, dass ich mein Geld auch für mich selbst ausgeben kann“, erzählt sie.
Ihr Ziel ist die Herbertstraße, die Königsklasse. Sie ist fasziniert von der dort ansässigen Domina und beginnt, sich für dieses Genre der Prostitution zu interessieren. „Das Dominante liegt mir.“ Da die Regeln vorsehen, dass es in der Straße nur eine „Frau auf Stiefeln“ geben darf, muss sie noch ein wenig warten, bis sie ihr eigenes Domina-Studio eröffnen kann. Das ist nun 30 Jahre her.
So sieht der Arbeitsalltag einer Domina aus
Manuela Freitag sitzt von Mitternacht bis 6 Uhr morgens in ihrem Arbeitsoutfit auf einem Barhocker im Fenster ihres Studios in der Herbertstraße und spricht die Männer an, die draußen vorüber gehen. Wenn sie mit jemandem ins Geschäft kommt, öffnet sie ihr Fenster und lässt den Gast in ihr Studio. Was dann passiert und wie viel das kostet, wird individuell besprochen. In einer guten Nacht hat sie mehrere Gäste. Wenn ihre Schicht vorbei ist, erledigt sie, was es zu erledigen gibt: geht zum Friseur, kocht, macht den Haushalt. Nachmittags schläft sie, steht spät abends wieder auf und geht zur Arbeit. Freunde treffen zu normalen Zeiten ist also schwierig.
Anders als andere Prostituierte ist sie in ihrer Rolle als Domina unberührbar. Die Gäste dürfen sie nicht anfassen und es gibt keinen Sex. Die Männer, die zu ihr kommen, wollen nicht bloß geschlagen oder gefesselt werden. Einer wird gerne in einen Käfig gesperrt und ist damit zufrieden, ein anderer liegt auf einer roten Lackdecke und ruft ständig ihren Namen. Viele mögen es, wenn sie ihnen die Hoden mit einer Flüssigkeit aufspritzt oder Nadeln in Penis und Brustwarzen sticht. Es gibt auch einen Stammkunden, den sie an einer Leine als Hund ausführt. Freitag urteilt nicht über die Wünsche ihrer Besucher: „Auch wenn ich nicht immer verstehe, was die Menschen umtreibt, warum sie diese oder jene Begierde haben – ich respektiere sie. Ich nehme sie ernst.“ Dennoch gibt es Wünsche, die selbst ihr zu heftig sind und die sie nicht erfüllt, zum Beispiel alles, „wo Blut und Näharbeiten im Spiel sind.“
Obwohl die Wünsche der Kunden in ihren Augen immer extremer werden, sei es früher einfacher gewesen, als Domina Geld zu verdienen. Auch viele normale Prostituierte böten mittlerweile Praktiken an, die eigentlich der Domina vorbehalten seien und das nicht selten zu viel zu niedrigen Preisen. Um noch genügend Männer in ihr Studio zu bekommen, hat Freitag eine entscheidende Sache verändert: „Ich muss leider ein wenig nahbarer und berührbarer sein und es auch ab und zu zulassen, dass die Gäste meinen Po oder meine Brüste berühren. Das mache ich dann als Belohnung“, erzählt sie.
Mit ihrem Job ist sie immer offen umgegangen – außer in der Schule ihres Sohnes
Seit jeher geht sie ganz offen mit ihrem Beruf um. Wenn sie einen Mann kennenlernt, der ihren Job nicht akzeptiert, muss er direkt wieder gehen. Das einzige Mal, dass sie nicht die Wahrheit über ihren Beruf sagt, ist im Kindergarten und in der Schule ihres Sohnes, der mittlerweile erwachsen ist. „Ich habe immer gesagt, dass ich in der Gastro tätig bin, weil ich Angst hatte, dass er sonst Nachteile hat“, erzählt sie.
Auch ihr Sohn weiß erst seit er zwölf ist, womit seine Mutter ihr Geld verdient. Er kommt gut damit zurecht. „Wie ist denn eine Domina als Mutter? Diese Frage habe ich oft gehört“, schreibt Freitag. Ihre Antwort: „Ja, wie soll sie schon sein? Wie jede andere Mutter auch.“
Sie akzeptiert die dunklen Gelüste, wird aber verurteilt für das, was sie tut
Als Domina akzeptiert und befriedigt sie die geheimen Bedürfnisse der Menschen, wird aber zugleich für ihre Arbeit verurteilt. „Die Neugier der Menschen ist zwar riesig, wenn sie von meinem Job hören, aber die Ablehnung ist oft nicht minder groß“, sagt sie. Besonders Frauen seien nicht gut auf sie zu sprechen: „Sie können nicht akzeptieren, was wir Prostituierte tun. Denn im Prinzip erfüllen wir die geheimen Wünsche ihrer Partner und Ehemänner. Eigentlich sollten sie uns dankbar sein, weil wir ihnen abnehmen, was sie selbst nicht bedienen können oder wollen.“
Weitere Bücher zum Thema St. Pauli und Prostitution
Huschke Mau: Entmenschlicht. Warum wir Prostitution abschaffen müssen, Edel Books, 430 Seiten, 19,95 Euro
Darum geht es: Die Autorin Huschke Mau flieht mit 17 Jahren vor ihrem gewalttätigen Stiefvater und landet bei einem Polizisten, der ihre Notlage schamlos ausnutzt: Er wird ihr erster Zuhälter. Zehn Jahre lang prostituiert sich die junge Frau und wird alkohol- und drogenabhängig. Jetzt ist ihr der Ausstieg gelungen. Sie promoviert und engagiert sich mit ihrem Netzwerk „Ella“ für die Abschaffung der Prostitution. Mit ihrem Buch möchte sie über die Missstände im Milieu aufklären.
Karl Schultz: Zwischen Kirche und Kiez. Ansichten eines Pfarrers. Mit einem Vorwort von Udo Lindenberg, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 174 Seiten, 12 Euro
Darum geht es: Karl Schultz ist Pfarrer in der Katholischen Kirche mitten auf St. Pauli. Im Klappentext heißt es: „Auf St. Pauli, wo es neben viel buntem Licht auch jede Menge Schatten gibt, finden Menschen nicht unbedingt den Weg in den Gottesdienst: also sucht Pfarrer Schultz sie da auf, wo sie sind. Und weil er Pfarrer ist und kein Polizist, vertrauen sich ihm auch jene an, die nicht allzu viel mit Kirche am Hut haben.“ Das Buch erzählt von diesen Geschichten.
Sie ist davon überzeugt, dass Männer zuhause nie erzählen würden, wonach sie sich im Geheimen sehnen. Und wenn sie es doch täten, ihnen die Frauen nie glauben würden. In gewissen Bereichen sei die Gesellschaft zwar offener geworden, aber der Großteil der Begierden bleibe ein Geheimnis. „Das ist mir auch ganz recht so, weil sonst mein Job nicht mehr funktioniert. Dann wäre ich ja überflüssig“, sagt Freitag und lacht.
Prostitution nicht verbieten
Weil sie ihren Job gern, gut und freiwillig macht, ist sie dagegen, Prostitution zu verbieten. Natürlich ist auch ihr klar, dass nicht jede Frau im Milieu freiwillig und für die eigene Tasche arbeitet und fordert, gegen Zwangsprostitution etwas zu unternehmen. Ein generelles Verbot sei aber der falsche Weg: „Es gibt auch diejenigen, die diesen Job freiwillig machen, aus welchen Gründen auch immer, und sie sollten das Recht dazu haben, ihren Weg zu gehen. Sie in die Illegalität zu drängen, würde Frauen wie mich noch mehr an den gesellschaftlichen Pranger stellen.“ Was große Veränderungen in Politik und Gesellschaft angeht, ist sie desillusioniert: „Von der Politik kann ich nichts erwarten. Denn wenn es drauf ankommt, steht keiner hinter uns.“
„Manchmal wünsche ich mir sicheres Gehalt, Urlaub und Geld auch dann, wenn ich krank bin“
Ihre Arbeit ist hart und körperlich anstrengend, sie ist ganz auf sich allein gestellt. Trotzdem kann sie sich keinen anderen Job vorstellen. Mit Anfang 20 hat sie ein halbes Jahr als Putzfrau gearbeitet und ist dann zur Prostitution zurückgekehrt. Manchmal blitzen Zweifel auf und sie wünscht sich ein sicheres Gehalt, Urlaub und eine Absicherung für Krankheit und Alter. Sie ist jetzt 58 Jahre alt und weiß nicht, wie lange sie noch als Domina arbeiten wird. Was sie weiß ist, dass sie noch nicht aufhören kann und auch nicht will: „So lange ich gefragt bin, werde ich das machen. Und ehrlich gesagt: Ich möchte ja gar nichts anderes machen. Die Herbertstraße ist mein Zuhause. Hier fühle ich mich sicher.“
Mit dem Buch hat sie sich den Wunsch erfüllt, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie sagt: „Es würde mich freuen, wenn die Leute mich auf diese Weise ein bisschen kennenlernen. Nicht die Domina Manuela, sondern Manuela, die als Domina arbeitet.“