Zwang oder SpleenMein Kind hat komische Marotten – ist das normal?
Köln – Jeden Tag die gleiche Nummer: Vor dem Einschlafen wird sortiert und geräumt, das Kind will erst alle seine Schuhe schön nebeneinander aufstellen, bevor überhaupt an Nachtruhe zu denken ist. Ein anderes serviert immer erst dem eingebildeten Freund das Essen, bevor auch nur ein Bissen vom Abendbrot verputzt wird. Und vor dem Mittagsschlaf müssen sowieso die Haare fünfmal um den Finger gezwirbelt werden.
Viele Kinder haben solche Angewohnheiten, Spleens oder Marotten, die uns Eltern zuweilen köstlich amüsieren, im Alltag nerven und ab und zu ganz schön seltsam vorkommen. Denn wenn der Kleine mal wieder schreiend auf dem Boden liegt, weil Mama es gewagt hat, die Zahnpasta zu früh aufzuschrauben oder ihm die Zahnbürste in die rechte statt die linke Hand zu geben, dann liegt die Frage in der Luft: Ist das wirklich noch normal?
Kinder strukturieren mit kleinen Ritualen die Welt
„Absolut, das kommt im Entwicklungsverlauf von Kindern sehr häufig vor,“ sagt Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Stephan Bender von der Uniklinik Köln, „diese kleinen Rituale geben ihnen Sicherheit und Struktur.“ Kinder ordneten mit solchen regelmäßigen Handlungen einfach ihre Umwelt.
Was ist ein Tic?
Im Sprachgebrauch sagen wir oft „Mein Kind hat einen Tick“, wenn es schräge Angewohnheiten zeigt. Das Wort „Tic“ bedeutet allerdings im wörtlichen Sinne etwas anderes: Tics sind eine neurologische Störung, bei der plötzlich einschießende Bewegungen „von alleine“ ablaufen und nicht als selbst beabsichtigte Handlungen wahrgenommen werden. Zum Beispiel ein Blinzeln, Räuspern, Schulterzucken o.ä. Nicht selten treten Tics zusammen mit Zwangsstörungen auf.
Dass das Lebensumfeld für ein kleines Kind ganz schön aufregend oder gar überfordernd sein kann, ist leicht vorstellbar. Täglich warten neue Reize, Erlebnisse und Lernprozesse. Nicht zu vergessen die inneren und äußeren Entwicklungsprozesse und Wachstumsschübe, denen es ausgesetzt ist. Besonders in Phasen, in denen sich das Leben der Kinder stark verändert – zum Beispiel rund um den Kita-Start - und in denen sie sich besonders schnell entwickeln – etwa zu Beginn der Pubertät -, sind Marotten deshalb nicht selten.
Feste Familien-Abläufe können Struktur geben
Kinder brauchen also Struktur und Regelmäßigkeit. Und da können selbstverständlich auch die Eltern helfen. Feste Bettgeh- oder Spielrituale, die sie täglich gemeinsam mit ihren Sprösslingen zelebrieren, sind deshalb förderlich. „Wenn es eine äußere Struktur gibt“, sagt Prof. Bender, „haben die Kinder mehr Handlungsspielräume und müssen sich nicht selbst strukturieren, indem sie sich Marotten ausdenken.“
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Dass die Wahrscheinlichkeit, Marotten zu entwickeln nur etwas mit dem Grad elterlicher Zuwendung zu tun hat, sei aber falsch, sagt Bender. Denn ob ein Kind solche kleinen Rituale entwickelt oder dazu neigt, hänge von vielen Faktoren ab. Auch die Persönlichkeit spiele dabei natürlich eine Rolle. Manche Kinder seien von Grund auf stabiler und halten Unordnung aus, andere reagierten eben sensibler. Manche Kinder mögen und brauchen mehr Regelhaftigkeit.
Soll und kann ich Marotten abgewöhnen?
Und wie sollten Eltern mit den Angewohnheiten des Kindes umgehen? „In der Regel hören solche Rituale nach ein paar Monaten von selbst wieder auf“, sagt der Kinderpsychiater. Eltern sollten ihren Kindern die Zeit geben. Das gelte auch bei „schrägen“ Dingen wie eingebildeten Freunden. Ein guter Orientierungspunkt könne hier sein, ob die jeweilige Marotte auch zum Entwicklungsstand des Kindes passt. Magische Vorstellungen seien bis zum Grundschulalter völlig okay.
Möchten Eltern dem Kind solch ein Verhalten dennoch gerne abgewöhnen, dann sollten sie sich zunächst fragen: Welche Funktion erfüllt das jeweilige Ritual für mein Kind? Danach könne man gezielter auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen und funktionale Alternativen suchen, die die Marotte möglicherweise ersetzen, sagt Stephan Bender. Ganz vereinfacht ausgedrückt: Merkt man, dass das Kind ständig mit sämtlichen Stofftieren dauerkuschelt, könnte man sich einfach selbst öfter als Kuschelpartner anbieten. Ob die Tiere dann nicht trotzdem angesagt bleiben, ist natürlich offen.
Wenn leichte Rituale zum echten Zwang werden
Was bedeutet Zwangsstörung?
Bei einer Zwangsstörung zeigen sich im Unterschied zu kleinen Marotten nachweisbare biologische Veränderungen im Gehirn der Patienten. Genetische Ursachen können mit eine Rolle spielen. Bei einer Zwangsstörung ist eine psychotherapeutische Behandlung und/oder eine medikamentöse Behandlung notwendig, da dieses Störungsbild sehr hartnäckig ist.
Und ab wann sind die kleinen Rituale bei Kindern nicht mehr harmlos, sondern gefährlich? „Aufmerksam werden sollten Eltern dann, wenn die Marotten des Kindes den Alltag erheblich einschränken und die Kinder mit flexiblen Änderungen gar nicht mehr umgehen können“, sagt Bender. Genießt das Kind den Urlaub überhaupt nicht mehr, weil es dort sein Ritual nicht wie gewohnt ausführen kann oder will es sich ständig waschen, statt weiterzuspielen, ist Vorsicht geboten.
Neben kleinen Marotten, die Unsicherheit kompensieren sollen, gibt es nämlich auch echte Zwangshandlungen, die durch Ängste ausgelöst werden. „Das Kind denkt dann zum Beispiel, es passiert ihm etwas Schlimmes, wenn es sein Ritual nicht ausführt“, erklärt Kinderpsychiater Bender. In Zweifelsfällen ist ein Besuch beim Kinderarzt zu empfehlen, der zum Kinder- und Jugendpsychiater überweist. Dieser kann durch genaue Befragung den Ursachen einer Zwangsstörung diagnostizieren und gegebenenfalls den Ursachen auf den Grund gehen.