Nach einem schweren Unfall eines 83-jährigen Autofahrers in Berlin fordern viele wieder Gesundheits-Checks für ältere Autofahrer. Aber wie sinnvoll sind die überhaupt?
Forderungen nach Unfall in BerlinFahrtüchtigkeits-Checks für Senioren bringen laut Studien nur wenig
Anfang März überfuhr in Berlin ein 83-jähriger Autofahrer eine Mutter mit ihrem vierjährigen Kind. Er hatte vor einer Ampel versucht, rechts auf einem Fahrradstreifen an wartenden Autos vorbeizuziehen und dabei die beiden Fußgänger erfasst. Der tödliche Unfall schürt wieder einmal die Diskussionen um die Fahrtüchtigkeit von Senioren.
So fordert Stefan Gelbhaar, der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, regelmäßige Gesundheits-Checks, um etwa Sehkraft, Hörvermögen und Reaktionsfähigkeit bei älteren Autofahrern zu überprüfen. SPD-Verkehrspolitiker Mathias Stein hingegen lehnt solche „altersbedingte Extrapflichten“ ab, und Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) spricht sich schon länger dagegen aus. Die öffentliche Meinung geht wiederum in die umgekehrte Richtung: 74 Prozent der Deutschen befürworten laut einer Verivox-Umfrage verpflichtende Fahrtests, die im Falle des Nicht-Bestehens zum Einzug des Führerscheins führen. Es gibt also keinen klaren politischen Trend zu dem Thema – dabei ist die wissenschaftliche Datenlage ziemlich klar.
„Es gibt einen positiven Effekt von Überprüfungsmaßnahmen“
„Hier zeigt sich einhellig und eindeutig, dass es keinen positiven Effekt irgendwelcher Überprüfungsmaßnahmen gibt“, berichtet Wolfgang Fastenmeier von der Psychologischen Hochschule in Berlin. Weder Fahr- noch Gesundheitstests würden die Fahrleistung der Senioren günstig beeinflussen. „Es überwiegen vielmehr die negativen Effekte“, warnt der Verkehrspsychologe. So würden viele Senioren aus Angst vor den Tests ihren Führerschein abgeben und auf Verkehrsmittel umsteigen, die für sie deutlich riskanter sind. So zeigte sich in einer US-Studie vom letzten Jahr, dass mit der Einführung verpflichtender Fahrtests für Senioren deren Unfallquoten bei Rad- und Fußgängerunfällen nach oben schnellten.
Hinzu kommen die sozialen Folgeprobleme der Strategie, angeblich fahruntüchtige Senioren aus dem Verkehr zu ziehen. „Sie sind dann nicht mehr so mobil, und das führt wiederum zur sozialen Isolation, zu Depressionen und anderen Krankheiten, und letztlich auch zu verfrühten Todesfällen“, so Fastenmeier.
„Eine Verbesserung der Verkehrssicherheit konnte durch Einführung einer solchen Maßnahme nicht nachgewiesen werden“
Bereits 2014 sprachen sich 150 Experten auf der Konferenz „Ageing and Safe Mobility“, durchgeführt von der Bundesanstalt für Straßenwesen, gegen verpflichtende Fahrprüfungen für Senioren aus. Als Grund nannte man: „Eine Verbesserung der Verkehrssicherheit konnte durch Einführung einer solchen Maßnahme nicht nachgewiesen werden.“ An dieser Einschätzung hat sich in der Fachwelt bis heute nichts geändert. „Trotzdem werden immer wieder Forderungen in diese Richtung laut, wenn es irgendwo einen tödlichen Verkehrsunfall mit Senioren-Beteiligung gibt“, wundert sich Fastenmeier. Und als Argumente würden oft Mythen statt wissenschaftlicher Fakten ausgebreitet.
Wobei es schon zu den Fakten gehört, dass mit dem Alter die Reaktionszeit sowie die Defizite in Beweglichkeit, Motorik, Wahrnehmung und Reizverarbeitung zunehmen. Das kann die Verkehrssicherheit einschränken. Wer etwa den Kopf nicht mehr weit genug drehen kann, erhöht sein Unfallrisiko, wenn er im Verkehr ausscheren, überholen oder nach rechts abbiegen will. Nicht umsonst passieren die meisten schweren Unfälle mit Seniorenbeteiligung genau in diesen Situationen. Und wer nur noch stark eingeschränkt sehen und hören kann, ist in einer unübersichtlichen Verkehrssituation schnell überfordert. „Aber da gibt es große Unterschiede“, betont Fastenmeier. „Es gibt viele Senioren, die trotz ihres Alters noch geistig und körperlich fit genug für den Straßenverkehr sind.“
Senioren fahren oft nur noch Routen, auf denen sie sich gut auskennen
Umgekehrt gibt es aber natürlich auch Ältere, die das nicht sind. Doch die verzichten dann oft von sich aus aufs Autofahren. Oder aber, sie entwickeln, vor allem im Falle von körperlichen Einschränkungen, unterschiedliche Strategien und Kompensationsmechanismen, um sich und andere im Verkehr weniger zu gefährden. So legen sie ihre Fahrten vorzugsweise auf Tageszeiten, die sie als weniger bedrohlich empfinden. Beispielsweise auf die Stunden außerhalb der Rushhour oder wenn es noch hell ist. „Bei Dunkelheit wird man kaum noch Ü-75-jährige finden, die im Straßenverkehr unterwegs sind“, berichtet Fastenmeier.
Auch in puncto Navigation greifen Senioren oft zu effektiven Kompensationsmaßnahmen: Sie fahren beispielsweise nur noch Routen, auf denen sie sich bestens auskennen. Auf der Manöver-Ebene minimieren sie das Unfallrisiko, indem sie etwa vorzugsweise auf der rechten Spur fahren und nur selten überholen. Und sie fahren insgesamt defensiver, also mit weniger Tempo und dafür mit mehr Abstand zu anderen Fahrzeugen. „Durch all diese Kompensationsstrategien gelingt es Senioren, ihr Unfallrisiko im Straßenverkehr niedrig zu halten“, weiß Fastenmeier.
Statistisch gesehen, sind Senioren nicht gefährlich für den Straßenverkehr
Dies zeigen auch die Unfallzahlen für den deutschen Straßenverkehr. Laut Statistischem Bundesamt haben im Jahre 2022 die Ü-65-Autofahrer rund 18 Prozent der Unfälle mit Personenschaden verschuldet, also weniger, als es ihrem Bevölkerungsanteil von 22 Prozent entsprechen würde. Betrachtet man das Verkehrsunfallrisiko für die verschiedenen Lebensphasen, so ist es am höchsten bei den 18- bis 20-Jährigen, um dann – mit der zunehmenden Erfahrung als Autofahrer – deutlich abzufallen und sich ab 35 auf einem niedrigen Niveau einzupendeln. Ab 75 geht es dann zwar wieder leicht bergauf. Aber nicht höher als bei einem 30- bis 35-Jährigen und weit unter dem Niveau der jüngeren Führerscheinbesitzer. „Aus der Statistik lässt sich nicht ablesen, dass die Senioren-Autofahrer besonders gefährlich für den Straßenverkehr sind“, betont Fastenmeier.
Nichtsdestoweniger kann es sinnvoll sein, an deren Fahrverhalten zu arbeiten, insofern jeder Fahrfehler, gerade wenn er im Laufe der Jahre zur Gewohnheit geworden ist, das Unfallrisiko nach oben schraubt. Aber dazu eigenen sich weniger die verängstigenden Pflicht-Tests als vielmehr freiwillige Rückmeldefahrten. Dabei fährt der Senior im eigenen Auto mit einem Begleiter – ein Verkehrspsychologe oder ein entsprechend qualifizierter Fahrlehrer – auf einer standardisierten Strecke, wo bestimmte Fahraufgaben zu bewältigen sind. Im Anschluss erhält er Rückmeldungen von seinem Begleiter zu dem, was ihm gut und was ihm weniger gut gelungen ist. Studien im Auftrag der Deutschen Versicherungswirtschaft haben gezeigt, dass dadurch die Fehlerquoten der älteren, insbesondere der über 80-jährigen Fahrer deutlich und nachhaltig nach unten gehen. Außerdem erhöht es ihre Motivation, an ihren Schwächen zu arbeiten.
Enkel, Tochter oder Schwiegersohn sollten allerdings nicht die Rolle des Fahrbegleiters auf der Rückmeldetour spielen. Denn das klappt in der Regel nicht. „Die klare Rückmeldung eines objektiven Experten – im direkten Gespräch auf Augenhöhe – bringt deutlich mehr als die Ratschläge eines Verwandten“, erklärt Fastenmeier. Oft würden diese sogar als Affront gesehen. Und dann wird der Senior nichts an seinem Fahrverhalten ändern wollen.
Autofahren und Demenz
- Ältere Fahrer mit einer Alzheimer-Erkrankung haben Studien zufolge ein zwei- bis achtmal so hohes Risiko für Unfälle wie ältere Fahrer mit einem gesunden Gehirn.
- Kognitiv beeinträchtigte Fahrer fahren insgesamt langsamer, doch dafür nehmen sie häufiger abrupte Spur- und Geschwindigkeitswechsel vor. Einige Mediziner verstehen diese Fahrweise sogar als soliden Hinweis auf eine beginnende Demenz.
- Demenzkranken Menschen fällt es schwer, akustische und optische Signale gleichzeitig zu verarbeiten. Die Routine bleibt zunächst erhalten. Lenken, Kuppeln und Schalten, Bremsen und Gasgeben funktioniert weiterhin.
- In Deutschland gibt es keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Menschen mit diagnostizierter Demenz noch Auto fahren. In den USA sind es 30 Prozent der Patienten. Aber die wohnen oft auf dem Land, wo sie nur selten zum Verkehrsproblem werden.