Köln – Anfangs impfte Großbritannien schneller als jedes andere Land in Europa. Jetzt ist die Delta-Variante auf der Insel auf dem Vormarsch: Die Zahlen sind dort wieder so hoch wie im Februar. Auch in Deutschland macht die hochansteckende Delta-Variante laut RKI rund 50 Prozent der Neuinfektionen aus. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach ruft deshalb die Stiko dazu auf, ihre Impfempfehlung bezüglich der Corona-Impfung von Kindern und Jugendlichen zu überdenken. Eine Forderung, die bei Kinderärzten im Kölner Raum heftig kritisiert wird.
Erst vor wenigen Wochen entschied die Ständige Impfkommission (Stiko) über die Corona-Impfung bei Kindern und Jugendlichen ab 12 Jahren: Sie empfiehlt die Impfung nur, wenn bestimmte Vorerkrankungen wie Diabetes vorliegen oder das Kind schwer vorerkrankte Angehörige hat. Die Datenlage in dieser Altersgruppe sei nicht groß genug, um eine generelle Empfehlung auszusprechen, argumentierte die Kommission. Da die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) den mRNA-Impfstoff von Biontech für diese Altersgruppe zugelassen hat, können Eltern und ihre Kinder sich trotzdem – auch ohne Indikation – für eine Impfung entscheiden.
Der Epidemiologe und Bundestagsabgeordneter Karl Lauterbach ruft die Stiko angesichts der Delta-Variante dazu auf, diese Empfehlung zu überdenken. Die Stiko argumentiere, dass Covid-19 für Kinder harmlos sei. „Für die Delta-Variante gilt das meiner Ansicht nach aber nicht“, sagte Lauterbach gegenüber der „Rheinischen Post“. In Großbritannien lägen viele Kinder mit Covid-19 in den Krankenhäusern. Die Stiko bezöge sich in ihrer Empfehlung auf alte Varianten, eine Durchseuchung der Kinder mit der Delta-Variante sei zu riskant.
Bei Kinderärzten in Kölner Raum stoßen die Forderungen von Karl Lauterbach auf Kritik. „Raten Sie mal, wem ich mehr vertraue: Einem Gremium von wirklichen Experten, die ihr Leben lang nur über Impfungen nachdenken, oder einem Talkshow-Politiker im Wahlkampfmodus?", fragt Axel Gerschlauer vom Landesverband der Kinder- und Jugendärzte. Lauterbach sei ein schlauer Mann – „da werden wir von deutlich größeren Idioten beraten, er ist schon einer der Guten“ – die größere Expertise sehe er jedoch bei der Ständigen Impfkommission.
„Nach allem, was wir bisher wissen, ist auch die Delta-Variante nicht so gefährlich, dass man die Stiko-Empfehlung deshalb ändern müsste“, sagt Gerschlauer. Zahlen aus Großbritannien könne man zudem nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. „Stichwort Sinusvenenthrombose nach Astrazeneca: Da tun die Engländer so, als gäbe es die gar nicht“, so der Kinderarzt. Auf neue Daten zu dem Biontech-Impfstoff werde die Stiko schnell reagieren. „Die Eltern müssen keine Panik haben“, sagt Gerschlauer.
Dötsch: Schüler müssen mit anderen Maßnahmen geschützt werden
Ähnlich sieht es Jörg Dötsch, Leiter der Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln. Auch bei der Alpha-Variante habe es anfangs Warnungen gegeben, dass diese für Kinder besonders bedrohlich sei. „Es ist viel zu früh, auf Basis einer geringen Datenlage vorschnelle Urteile zu treffen“, sagt Dötsch. Die Stiko habe zum Zeitpunkt der Empfehlung alle verfügbaren Daten einbezogen – auch die Varianten. Sollte sich bei der Delta-Variante eine neue Situation ergeben, werde sie ihre Empfehlung gegebenenfalls ändern. „Man sollte mir der Stiko eine sehr seriöse, unabhängige Institution nicht leichtfertig in Frage stellen“, betont Dötsch. Zwar müsse man alle Mittel ausnutzen, um die Delta-Variante in den Griff zu bekommen, „aber die Kinder sollten nicht diejenigen sein, die uns in der Pandemie retten müssen“.
Dötsch plädiert stattdessen für die Vorbildfunktion der Erwachsenen: 30 Millionen Erwachsene seien in Deutschland noch nicht geimpft, die 12 bis 16-Jährigen machen dagegen nur vier bis fünf Millionen Menschen aus. „Wir wissen, dass die Einhaltung der Hygieneregeln und die Testsysteme unglaublich viele Ansteckungen verhindern konnten“, so Dötsch.
Auf diese Systeme solle man in erster Linie setzen – vor allem, da für den Großteil der Schülerinnen und Schüler gar kein Impfstoff zugelassen sei. „Wir sind sowieso darauf angewiesen, die Schülerinnen und Schüler in dieser Altersgruppe mit anderen Maßnahmen zu schützen. Diese Schutzmaßnahmen aufzugeben und die Kinder in die Verantwortung zu ziehen, halte ich für den falschen Weg.“
Gerschlauer empfiehlt Corona-Impfung nur Kindern mit Indikation
Den Impfstatus der Kinder, sagt auch Gerschlauer, dürfe man nicht mit den Schulöffnungen verbinden. „Da muss die Politik Wort halten, dass es keine Impfpflicht durch die Hintertür gibt.“
Bei gesunden Kindern, sagt Gerschlauer, würde er mit der Impfung warten. Kinder mit einer Indikation sollten dagegen sofort geimpft werden. „Ich impfe hier meine Nierentransplantierten, meine Diabetes-Kinder, die mit neurologischen Störungen und so weiter“, sagt der Kinderarzt. Für alle anderen sei die Entscheidung, ob das gesunde Kind geimpft werden sollte, eine individuelle. Er selbst empfehle Eltern dasselbe wie die Stiko.
„Ich habe auch Anmeldungen für Impfaufklärgespräche. Der Gesprächsbedarf ist einfach riesig“, sagt Gerschlauer. Weil die Praxis die vielen Anrufe der Eltern nicht mehr bewältigen kann, springt das Telefon direkt zum Anrufbeantworter. Sein Team richtete eine Extra-Leitung ein für Patienteneltern, die nicht wegen Corona-Fragen anrufen. Alle anderen müssen eine E-Mail schreiben.
So langsam, so Gerschlauer, bekomme er mehr Impfstoffe. Die Bestellung für die kommende Woche konnte die Apotheke am Dienstag jedoch nicht garantieren. Eltern, die ihr Kind impfen wollen, sagt Gerschlauer, sollten sich auf die Warteliste setzen lassen. Und Geduld haben.