Mediziner zum ersten halben Jahr Corona„Wir wissen noch nicht, was auf uns zukommt“
- Seit gut sechs Monaten ist Deutschland im Ausnahmezustand: Das Coronavirus hat Grundlegendes verändert.
- Wir haben den Mediziner Professor Walter Möbius auf den bisherigen Verlauf der Corona-Pandemie zurückblicken lassen.
- Was war sein eindrücklichstes Erlebnis? Was macht ihm Sorgen, was Hoffnung? Welcher Begriff beschreibt die Krise für ihn am besten?
- Lesen Sie hier außerdem die Rückblicke sieben weiterer Experten.
Köln – Bewegend fand ich, wie gut vieles in dieser Krise funktioniert hat. Es wurden erstaunliche Kreativkräfte frei: Nachbarn haben einander geholfen, junge Leute haben für Alte eingekauft. Beeindruckt hat mich auch die Wertschätzung der Bevölkerung für den Einsatz von Ärzten und Pflegekräften. Da ist eine Solidarisierung spürbar geworden, wie wir sie in den vergangenen 20 Jahren nicht erlebt haben.
Aber besonders eindrücklich in Erinnerung ist mir ein Bericht der Journalistin Anne Ruprecht in der ARD-Sendung „Panorama“ über zwei alte Männer, deren Frauen an Demenz erkrankt sind und die im Altersheim leben. Über Wochen haben die beiden versucht, unter Corona-Bedingungen den Kontakt zu halten, was bekanntermaßen schwierig war. Das hat sie erstens zu einer kleinen Solidargemeinschaft zusammengeschweißt und zweitens zu einem ganz besonderen Schritt veranlasst: Weil sie das Gefühl hatten, sie könnten ihren Frauen diese Form erzwungener sozialer Isolation nicht länger antun, sind sie beide vorübergehend zu ihren Frauen ins Heim gezogen. Wie mir erzählt wurde, hat das bei den Frauen erkennbar zu einer Verbesserung ihres Zustands geführt. Schließlich wissen wir: Ohne Anregungen von außen und ohne Zuspruch sind demente Menschen sehr rasch vollends verloren.
Eines haben wir in der Krise vor allem gelernt: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung – das ist zu allen Tages- und Nachtzeiten notwendig. Das ist besonders auch an den Schattenseiten deutlich geworden: Die häusliche Gewalt hat massiv zugenommen.
Kindesmisshandlungen sind vermehrt vorgekommen, es gab ein hohes Maß an Paarkonflikten. Angesichts dessen sollte überlegt werden, wie wir in Zukunft solchen Entwicklungen begegnen wollen. Wir müssen uns heute schon mit den Krisen von morgen und deren Bewältigung beschäftigen. Die junge Generation kennt – zum Glück – keine umfassenden, existenziellen gesellschaftlichen Krisen. Die Alten haben, so wie ich, noch die Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt. Katastrophen in anderen Weltregionen führen regelmäßig zu großer Hilfsbereitschaft. Das ist schon mal beruhigend. Aber wir haben jetzt eine Krise, die nicht wie – sagen wir – ein Tsunami über uns hinweggeht, deren Folgen aber trotzdem verheerend sein können. Wir wissen einfach noch nicht, was auf uns zukommt.
Mich bedrückt wirklich die Ignoranz vieler Leute. Und ich kann überhaupt nicht verstehen, dass und in welchem Umfang sich Verschwörungsfantasien breitgemacht haben. Dass sich das in Gewalt gegen Zugbegleiter, Ordnungskräfte oder auch gegenüber Polizisten niederschlagen konnte, ohne dass darauf mit aller Schärfe und Strenge reagiert worden wäre, erscheint mir als ein Versäumnis der Politik, von dem ich hoffe, dass es nicht noch weitere negative Folgen zeitigt. Ein Beispiel für mangelhafte politische Koordination ist für mich der Bußgeldkatalog, der im bundesweiten Vergleich wirkt wie eine wüste Zettelsammlung: zehn Euro Bußgeld für einen Verstoß gegen die Maskenpflicht im einen Land, 50 Euro im nächsten und 150 Euro im dritten – das kann meines Erachtens nicht sein. Da wäre mehr Einheitlichkeit wünschenswert.
Folgendes Bild fasst die Corona-Krise aus meiner Sicht gut zusammen: Wer sich auf einen zugefrorenen Teich begibt, muss wissen, wie dick das Eis ist.
Walter Möbius
Lesen Sie auch, wie der Kölner Infektiologe Gerd Fätkenheuer, der Apotheken-Vorsitzende Thomas Preis, die Psychologin Damaris Sander, ihr Kollege Peter Wehr, Gerhard Wiesmüller vom Kölner Gesundheitsamt, die Juristin Gerlind Wisskirchen und Jürgen Zastrow, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, auf das erste halbe Jahr im Ausnahmezustand zurückblicken.