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ForschungWann Tagträumen zum Problem werden kann

Lesezeit 4 Minuten
Illustration: Frau mit geschlossenen Augen

Jeder Mensch tut es, niemals tagzuträumen ist schlicht nicht möglich.

Ab und zu die Gedanken schweifen zu lassen und sich in Fantasien zu verlieren, ist normal. Es gibt aber Menschen, die sich stundenlang ihren Träumen überlassen – und das kann zu einem Problem werden.

Es kann bei der Arbeit passieren, beim Autofahren, beim Zähneputzen oder während einer Unterhaltung, die uns nicht fesselt: Die Gedanken schweifen ab und wir finden uns innerlich an einem anderen Ort wieder. Wir malen uns den nächsten Urlaub aus oder beschäftigen uns gedanklich mit allerlei Unwichtigem, das uns durch den Kopf geht.

Tagträumen nennt man diesen Vorgang, der unsere Aufmerksamkeit aus der Gegenwart abzieht, für Sekunden oder auch Minuten. Oft merken wir das erst dann, wenn jemand oder etwas uns in den Moment zurückruft.

Zum Tagträumen kommt es vor allem dann, wenn unser Gehirn unterfordert ist.
Christina Jochim, stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung

Tagträumen und die Gedanken schweifen zu lassen ist zunächst einmal ein völlig normaler Vorgang. Jeder Mensch tut es, niemals tagzuträumen ist schlicht nicht möglich. Dazu müsste das Gehirn sich ständig im Zustand der Konzentration befinden. Forschende der Universität Harvard haben herausgefunden, dass wir fast die Hälfte unserer Zeit, nämlich 47 Prozent, gedanklich nicht in der Gegenwart sind. Dabei ist beides möglich: dass unser Bewusstsein versehentlich abdriftet, obwohl wir dabei sind, etwas zu tun, oder dass wir uns erlauben, gedanklich abzuschweifen.

Sich an Vergangenes erinnern oder die Zukunft ausmalen

Im Gehirn ist in diesem Zustand eine Struktur besonders aktiv, die Default Mode Network (DMN) genannt wird. Experimente haben gezeigt, dass die DMN-Aktivität immer dann zunimmt, wenn wir nicht auf einen äußeren Reiz reagieren und nicht darauf konzentriert sind, eine bestimmte Aufgabe zu erledigen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit vermehrt nach innen. So geht eine stärkere DMN-Aktivität damit einher, über uns selbst nachzudenken, sich an Vergangenes zu erinnern und sich die Zukunft auszumalen: also mit Tagträumen.

In zwei Situationen sind wir besonders anfällig dafür, ins Tagträumen zu verfallen, sagt Christina Jochim, stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung: „Dazu kommt es vor allem dann, wenn unser Gehirn unterfordert ist, wenn eine Aufgabe nicht unsere volle Aufmerksamkeit erfordert. Dann nutzt das Gehirn wahrscheinlich diesen Freiraum. Oder bei Überforderung, wenn unser Gehirn nicht mehr aufnahmefähig ist.“ Tagträumen sei vermutlich ein Verarbeitungsmechanismus und zudem „häufig eine Quelle für gute Ideen“, so Jochim.

Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass das Tagträumen bei der Lösung komplexer Probleme helfen kann. So half es Versuchsteilnehmenden bei einer schwierigen Aufgabe mehr, diese durch eine einfache Tätigkeit zu unterbrechen, als eine Pause zu machen. Die einfache Tätigkeit erlaubte ihnen, gedanklich loszulassen – was durch neue Impulse half, die schwierige Aufgabe doch zu lösen. In einer anderen Untersuchung zeigte sich, dass es die Kreativität fördert, wenn wir fantasievolle Tagträume haben.

Doch es gibt Menschen, die zu exzessivem Tagträumen neigen. Einige Forschende glauben, dass das Krankheitswert hat, und sprechen vom Maladaptive Daydreaming (maladaptivem Tagträumen). Geprägt wurde der Begriff von Eli Somer, ehemals Psychologieprofessor an der Universität Haifa. Er bezeichnet Maladaptive Daydreaming als „exzessives Fantasieren“, das das Leben beeinträchtigen kann.

Häufige Flucht in Traumwelten

Somer hatte dies vermehrt bei Patientinnen und Patienten beobachtet, die in ihrer Kindheit missbraucht worden waren und sich nun in Traumwelten flüchteten. Als eigenständige Diagnose anerkannt ist das Maladaptive Daydreaming bis heute nicht. Der Cleveland Clinic in Ohio zufolge bedeutet maladaptives Tagträumen, sich bis zu stundenlang in lebhaften Tagträumen zu verlieren.

Dabei könne es schwerfallen, dieses Verhalten zu kontrollieren. Maladaptive Tagträume träten vermehrt, aber nicht nur in Zusammenhang mit psychischen Störungen auf, etwa bei ADHS, Angststörungen oder dissoziativen Störungen.

Fantasieren von Superkräften

Auf der Internetplattform „wild minds network“ tauschen sich Menschen aus, die selbst glauben, unter maladaptiven Tagträumen zu leiden. Ein Nutzer namens Mani schildert dort, wie er seit seiner Kindheit jeden Tag stundenlang Fantasieszenarien durchspielt. Er malt sich zum Beispiel detailliert den Alltag mit Frauen aus, die er heimlich anhimmelt. Oder wie er im Hörsaal nach vorn tritt, um allen zu demonstrieren, dass er Superkräfte hat. Gleichzeitig bezeichnet er diese Fantasien als Sucht, für die er sich schämt.

Auch Jochim hat Patienten und Patientinnen gehabt, die wegen anderer psychischer Probleme zu ihr kamen und zum maladaptiven Tagträumen neigten: „Sie erlebten das als Phasen des aktiven Gedankenwanderns, mit meist sehr emotionalen Inhalten.“ Dabei könnten unerfüllte Wünsche durchlebt werden, oder Konflikte würden erneut im Kopf durchdiskutiert. Handlungsmöglichkeiten würden anders als beim Grübeln intensiv und sogar durch Bewegungen im Raum durchgespielt, wobei sich Betroffene wie abgekapselt von der Umwelt fühlten.

In die Tagträume würden Betroffene bewusst oder unbewusst hineinschlittern, es falle aber oft schwer, sich davon zu lösen, sagt die Psychotherapeutin. Und es entstehe, anders als beim normalen Tagträumen, ein Leidensdruck. „Betroffene sagen, dass sie sich nicht mehr konzentrieren können, sie fühlen sich schuldig, weil sie so viel Zeit damit verbringen. Außerdem können die emotionalen Inhalte belastend sein.“

Anders als Halluzinationen oder Bewusstseinsstörungen

Abzugrenzen sei das Tagträumen von Halluzinationen, die bei einer Psychose auftreten können. „Im Unterschied dazu sind sich Menschen beim maladaptiven Tagträumen bewusst, dass es sich um Fantasien handelt“, erklärt Jochim. Es sei auch nicht mit Flashbacks gleichzusetzen, dem Wiedererleben belastender Ereignisse, das typisch für eine posttraumatische Belastungsstörung ist. Eine Psychotherapie könne helfen, sagt Jochim, wobei es zuerst die dringlicheren Symptome zu behandeln gelte, wenn eine Grunderkrankung wie eine Angst- oder Zwangsstörung vorliegt.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.