Risiko Schule?Eltern fordern U12-Impfstoff statt Isolation – Das raten Ärzte
Swisttal/Köln – Ein neuer Lebensabschnitt, neue Freunde, neues Wissen – die Einschulung ist für Kinder etwas ganz Besonderes. Für die sechsjährige Matilda aus Swisttal/Rhein-Sieg-Kreis war der erste Gang in den Klassenraum aber vor allem eins: ein Infektionsrisiko. Matilda leidet unter einem angeborenen Herz-Lungen-Fehler und gehört somit zur Covid-19-Risikogruppe. Ihre Eltern, Michael und Myriam Nehring, haben deshalb versucht, Matilda mit dem Biontech-Impfstoff impfen zu lassen.
Das war vor rund zwei Wochen. „Wir wollen Matilda den Besuch in der Schule ermöglichen“, sagt Michael Nehring. Das Mädchen soll unbeschwert Zeit mit den Mitschülern verbringen können. „Dafür wollen wir den größtmöglichen Schutz für unsere Tochter“, sagt er. Mit Blick auf die hohen Inzidenzzahlen bei Kindern und Jugendlichen und die Delta-Variante halten der 42-Jährige und seine Frau (41) die Impfung für die beste Option für Matilda.
Bislang kein Impfstoff zugelassen
Das Problem: Es gibt momentan keinen zugelassenen Impfstoff für fünf- bis elfjährige Kinder. Möglich sind Impfungen dennoch, man spricht dann von „Off-Label-Use“ – auf Deutsch etwa: nicht bestimmungsgemäß – , wenn Ärzte nicht oder noch nicht zugelassene Medikamente verabreichen. Bei „normalen“ Medikamenten ist das gar nicht ungewöhnlich, bei Impfstoffen schon.
Verboten allerdings ist die Spritze auch für die jungen Kinder nicht. „Wenn Arzt und Patient sich einig sind“, sagt Oliver Funken vom Hausärzteverband Nordrhein, „ist erst mal gar nichts verboten.“
Noch fehlt die Zulassung der EMA
Die Sorge um die Gesundheit der eigenen Kinder teilen Michael und Myriam Nehring mit zahlreichen anderen Eltern in ganz Deutschland. Den Nehrings ist bewusst, dass die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) noch keine Zulassung ausgegeben hat. Dennoch: „Wir halten die Corona-Impfung für Matilda für vertretbar“, sagt Michael Nehring, „Erwachsene werden im großen Stil geimpft. Der Impfstoff ist gut verträglich und bietet einen hohen Schutz, und es gab bisher keine signifikanten Nebenwirkungen.“
Dies habe er auch bei den 12- bis 17-Jährigen so wahrgenommen. Zudem gebe es bereits erste Studienergebnisse für Matildas Altersgruppe vom Impfstoff-Hersteller Biontech aus den USA, die ebenfalls keine Probleme vermelden. „Diese Informationen haben wir gegen die Risiken einer Corona-Infektion abgewogen“, sagt Nehring.
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„Krankheit“, sagt auch Oliver Funken, „ist immer angstbesetzt – und damit emotional. Würde man das alles rational betrachten, würde man in Ruhe abwarten, bis die Impfstoffe freigegeben sind.“ Professor Jörg Dötsch leitet die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln.
Er kennt Fälle wie Matilda. „Wir bekommen sporadisch Hinweise auf Off-Label-Impfungen von Kollegen“, sagt er, „es gibt auch verzweifelte Eltern, die sich direkt an uns wenden – sie haben ein chronisch krankes Kind und waren seit 18 Monaten mit dem Kind nicht draußen aus Sorge vor Ansteckung. Das geht einem sehr nahe. Dennoch würde ich bei der Ablehnung der Off-Label-Impfung bleiben.“
Zwei Wochen lang keine Kinder mit Covid in Klinik
Seine Einstellung dazu wäre eine andere, sagt er, wenn die Lage eine andere wäre: „Wenn wir es bei Corona mit einer Erkrankung zu tun hätten, die sehr bedrohlich für Kinder ist, und wenn es keine Alternative zu einer Impfung gäbe.“ So lägen die Dinge aber nicht: „Wir hatten in den letzten zwei Wochen gar keine Kinder mit Covid in der Uniklinik“, sagt er, auch bundesweit seien die Zahlen verschwindend gering. Die Gefährlichkeit der Krankheit könne also nicht als Begründung für Off-Label Impfungen herangezogen werden.
Wie Matildas Körper auf das Virus reagieren würde, weiß allerdings niemand genau, „aber es könnte ein schwerer Verlauf werden“, sagt Dr. Axel Gerschlauer, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Bonn und Matildas behandelnder Arzt. „Zum derzeitigen Zeitpunkt ist eine Impfung noch mit zu vielen Unsicherheiten bezüglich Risiken verbunden“, sagt Gerschlauer.
Zudem ist für den Mediziner eine Zulassung der EMA essenziell. Dötsch befürwortet die Entscheidung seines Kollegen. „Wir können den Kollegen nicht gut dazu raten, Off-Label zu impfen“, sagt Dötsch mit Blick auf die Diskussion, „weil sie sich auch rechtlich in eine schwierige Situation begeben.“
Noch genug Alternativen zur Impfung
Derzeit gebe es noch genug Alternativen zur Impfung: „Zum Beispiel all die anderen Schutzmaßnahmen – die Testungen in den Schulen, was in NRW sehr klar geregelt ist; die Einhaltung der Hygieneregeln mit Abstand, Mundschutz, Lüften“, sagt er. Und vor allem: „Wichtig ist, dass sich alle im Umfeld impfen lassen. Nicht nur die Eltern, auch die älteren Kinder, um sich selbst und die Schutzbedürftigen zu schützen“, sagt Dötsch.
„Gerade da ist momentan noch sehr viel Luft nach oben. Mit dem Selbstschutz schützt man eben auch Risiko-Patienten.“Nehring war mit der Reaktion seines Kinderarztes nicht ganz glücklich: „Das war natürlich nicht die Antwort, die wir hören wollten. Wir hatten gehofft, die Impfung machen zu können“, sagt er. Aber er habe die Gründe nachvollziehen können.
Nehring legt großen Wert auf die Meinung des Kinderarztes. Gerschlauer ist der erste Ansprechpartner bei medizinischen Fragen, die seine Tochter betreffen. „Er ist der Arzt unseres Vertrauens, trotzdem haben wir darüber nachgedacht, einen fremden Arzt zu konsultieren.“
Zeitgleich mit der Anfrage für die Impfung vermeldeten einige Medien, dass die Impfhersteller eine Zulassung noch in diesem Jahr anstreben. „Das ist für uns eine positive Entwicklung“, sagt der 42-Jährige. Grund genug für die Familie, noch abzuwarten.
Mathildas Eltern fühlen sich vergessen
Dötsch plädiert fürs Abwarten. „Die Zulassung eines Arzneimittels ist eine Sicherheit, die jedem Kind und jedem Patienten zusteht“, sagt er. „Man kann ein Kind unter zwölf Jahren nicht mit einem Kind über zwölf Jahren vergleichen: Das Immunsystem ist noch ein anderes, das entwickelt sich bis zum etwa 12. Lebensjahr; das Körpergewicht ist ein anderes, und in der Folge wird die Dosis eines Impfstoffes eine ganz andere sein.“
Für Matilda wäre die Impfung ein großer Schritt zurück in ein normales Leben. Seit Beginn der Pandemie hatte auch sie kaum Kontakt zu anderen Kindern. Im Kindergarten war sie vor ihrer Einschulung schon lange nicht mehr. „Bevor Erwachsene geimpft wurden, hat Matilda ihre Großeltern und Freunde nur im Freien und mit absoluter Distanz gesehen“, sagt Nehring. In der Schule sind unmittelbare Kontakte zu den Mitschülern unvermeidbar.
Das Einzige, das die Sechsjährige dort schützt, ist das Hygienekonzept – das mit der neuen Regelung zur Quarantäne in Schulen nun gelockert wird. „In der Diskussion standen auch schon die Rücknahme der Masken- und Testpflicht“, sagt Nehring, dann müsste die Erstklässlerin ins Home-Schooling. Er habe das Gefühl, dass Kinder wie Matilda oftmals in den Diskussionen der Politiker vergessen werden.
Jürgen Zastrow rät zum Abwarten
Jürgen Zastrow ist Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein. Auch er rät zum Abwarten: „Die kassenärztliche Vereinigung hält sich natürlich an die Vorgaben der ständigen Impfkommission und der Erlasse“, sagt er. „Und natürlich erkranken Kinder viel, viel seltener als Erwachsene. Aber auch selten kommt vor.“
Seine Empfehlung: „Ich plädiere für Impfungen bei Kindern zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr und auch darunter“, sagt er, „sobald die Impfstoffe zugelassen sind und die Impfkommission dies empfiehlt.“
Im Oktober könnte die Zulassung der EMA für die Corona-Impfung der Fünf- bis Elfjährigen kommen. „Vielleicht“, sagt Michael Nehring, „sind wir dann doch nicht mehr auf eine Off-Label-Impfung angewiesen.“