Der Kölner Professor Arno Dormann bezeichnet den Darm als die Tiefsee des 21. Jahrhunderts. In ihm könnte der Schlüssel zum gesunden Altern liegen.
Darmgesundheit„Wenn wir das Mikrobiom perfekt einstellen, können wir 140 Jahre alt werden“

Was dem Darm guttut, erklärt Professor Arno Dormann im Interview.
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Herr Professor Dormann, mich wundert ja, dass Sie hier Schokoriegel stehen haben. Dürfen Sie das als Gastroenterologe und Darmspezialist überhaupt essen?
Arno Dormann: Natürlich. Man darf alles essen. Es kommt immer auf die Mischung und die Menge an. Reinen raffinierten Würfelzucker, wie er in dieser Schokolade steckt, braucht der Darm freilich gar nicht. Aber natürlich schmeckt er uns.
Was ist mit Fruchtzucker, beispielsweise in Früchten? Ist der besser?
Viele Leute glauben das, aber Fruktose ist natürlich auch Zucker. Steckt er in der Birne, ist aber nicht industriell verarbeitet. Generell gelten alle Lebensmittel, die synthetisch hergestellt wurden, als relativ ungünstig für den Magen und den Darm.
Historisch hat die Möglichkeit der Konservierung von Nahrung, zum Beispiel das Vermeiden von Schimmel, natürlich auch Leben gerettet. Aber heute kann man sagen: Je mehr man ein Produkt verarbeitet, umso ungesünder wird es für uns.
Warum ist das eigentlich so?
Das Mikrobiom im Darm verliert nach aktuellen Daten durch verarbeitete Lebensmittel seine Vielfalt, die Diversität. Es gibt gute Studien dazu, was sich zum Beispiel in nordamerikanischen Därmen so an Keimdiversität tummelt. Im Vergleich zu Därmen von Naturvölkern sehr wenig, man findet dort in etwa nur ein Drittel der Bandbreite an Bakterienpopulationen. Das liegt daran, dass Nordamerikaner sehr viel weniger unverarbeitete Nahrung zu sich nehmen und damit sehr viel weniger Substrat, aus dem sich die vielfältigen Bakterien ernähren können.
Grundsätzlich gilt ein vielfältiges Mikrobiom als gesund, allerdings steht die Forschung da noch am Anfang. Entscheidend ist nämlich, in welche Endprodukte das Mikrobiom die Nahrung verwandelt. Als Beispiel: Kurzkettige Fettsäuren unterstützen unsere Darmgesundheit. Entstehen Giftstoffe, können diese auch die Krebsentstehung unterstützen. Noch ist der Zusammenhang zwischen dem Mikrobiom und den Metaboliten, also den Stoffen, in welche der Körper die Nahrung verwandelt, noch nicht ursächlich geklärt. Deshalb lässt sich vom Mikrobiom nicht zwingend auf Gesundheit oder bestimmte Krankheitsrisiken schließen.
Entscheidend für die Prägung des Mikrobioms ist die Kindheit
Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt sinnvoll, sein Mikrobiom analysieren zu lassen?
Aus wissenschaftlicher Sicht ist das für den Einzelnen nicht sinnvoll. Sie müssen bedenken, dass die allermeisten Keime, die Sie da einschicken, sterben, wenn sie Sauerstoff ausgesetzt sind oder sich die Temperatur verändert. Andere sind verschimmelt, bis sie im Labor ankommen. Die Aussagekraft dieser Tests ist deshalb sehr begrenzt. Zudem lässt sich unser Mikrobiom gar nicht so leicht dauerhaft verändern. Entscheidend geprägt wird es in unserer Kindheit, später kann man es mit Ernährungsumstellungen anpassen, aber sobald wir wieder aufhören, uns gesund zu ernähren, switcht es zum Ursprungszustand zurück.

Professor Arno Dormann ist Internist, Facharzt für Gastroenterologie und Ernährungsmedizin in Köln-Holweide: „Der Darm ist die Tiefsee des 21. Jahrhunderts. Da liegt noch vieles im Verborgenen, ich erwarte aber auch viele spannende Entdeckungen.“
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Und der ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich?
Ganz genau. Das geht schon vor der Geburt los. Es spielt eine Rolle, wie die Mutter sich ernährt hat, ob sie geraucht oder getrunken hat. Wird vaginal entbunden, legen sich ganz andere Keime im Babydarm an, als wenn das Kind per Kaiserschnitt geholt wird. Auch die Säuglingsnahrung beziehungsweise das Stillen sind relevant und die Frage, ob das Baby schon früh Antibiotika schlucken musste. Und tatsächlich wird unser Mikrobiom von den Hygienebedingungen in der frühen Kindheit beeinflusst. Zu viel Sauberkeit kann zu einer fehlenden Keim-Diversität im Darm führen, das wiederum kann lokale entzündliche Reaktionen anheizen und dadurch später zu systemischen Allergien oder Asthma führen. Die Tatsache, dass Menschen immer steriler aufwachsen, trägt wahrscheinlich auch zur Zunahme von Unverträglichkeiten und chronischen Darmerkrankungen bei.
Es macht also nichts, wenn das Kind auch mal Dreck isst oder den Schleim von einem anderen Kindergartenkind abkriegt?
Im Gegenteil. Es bekommt vielleicht mal Würmer oder so. Aber auch die tragen zur Diversität der Bakterien im Darm bei. Und den Befall an sich kann man ja behandeln. Später sind diese Kinder dann meist gesünder und widerstandsfähiger. Das Immunsystem wird im Kontakt mit den körperfremden Bakterien einfach besser trainiert. Exposition schützt vor Erkrankung.
Dormann: „Über den Darm lassen sich zukünftig möglicherweise auch Alterungsprozesse wie die Demenz aufhalten“
Sie haben gesagt, dass es wenig Sinn ergibt, seine eigene Stuhlprobe auf Mikrobiom-Diversität zu untersuchen. Wissenschaftler und Unternehmen haben die Keimbesiedlung des Darms aber als großes Gesundheitsthema für sich entdeckt. Sind da in den kommenden Jahren interessante Forschungsergebnisse zu erwarten?
Auf jeden Fall. Vor allem die künstliche Intelligenz hilft uns dabei, die tausenden von vorliegenden Studien und die Daten der genetischen Mikrobiom-Analyse auszuwerten. Bislang sind wir mit verwertbaren Aussagen da noch ganz am Anfang. Wir empfehlen zum Beispiel zur Unterstützung der Darmgesundheit Probiotika einzunehmen, wie sie in bestimmten Joghurtdrinks vorkommen. Das ist banal. Aber der nächste Schritt ist, dass wir mit der Gen-Schere Crispr unsere Bakterien und/oder deren Produkte derart verändern, dass sie unseren Körper und Darm auf eine gesündere Art und Weise beeinflussen. Für Kühe wird diese Technik schon untersucht, um die umweltschädliche Methangasproduktion zu vermeiden.
Denkbar sind für uns auch veränderte Lebensmittel oder Bakterien, die individuell auf den einzelnen Patienten abgestimmt sind. Über den Darm lassen sich zukünftig möglicherweise auch Alterungsprozesse wie die Demenz aufhalten. Die Idee ist, das Mikrobiom so zu beeinflussen, dass es gutartige Substanzen und keine Giftstoffe produziert. Wenn man es perfekt einstellt, können wir so 120 oder 140 Jahre alt werden, davon bin ich überzeugt.
Ist es dann egal, was ich esse?
Vielleicht zukünftig ja. Dann ist nur noch relevant, das Mikrobiom genetisch so zu beeinflussen, dass es aus dem Mist, den wir essen, gute Metabolismen entwickelt, die uns länger und gesünder leben lassen. Ein Beispiel, das zumindest in Tierversuchen schon geklappt hat: Wenn wir der dicken Maus das Mikrobiom einer Magermaus einpflanzen, dann nimmt sie ab – und zwar ohne ihr Essverhalten umzustellen. Bei Menschen klappt das derzeit noch nicht. Aber ich denke, das kann sich in wenigen Jahren ändern.
Und bis dahin, was sollte ich nun essen, beziehungsweise nicht essen, um meinen Darm gesund zu halten?
Viele Pflanzen, wenig verarbeitete Produkte, durchaus auch ein bis zweimal in der Woche tierisches Eiweiß, gern auch mal Fleisch. Allerdings lieber nur Geflügel. Rotes Fleisch und Darmkrebs zeigen eine deutliche Korrelation. Gucken Sie sich die Inuit an. Die hatten durch ihre fischlastige Ernährung praktisch nie Darmkrebs. Die Omega-3-Fettsäure im fetten Fisch wirkt im Darm antientzündlich. Ziehen die Inuit nach Nordamerika in die Städte und essen dort Hamburger, treibt das die Entzündungswerte hoch und sie bekommen plötzlich auch Darmkrebs wie die Amerikaner und die Europäer.
Kann ich mein Darmkrebsrisiko noch anderweitig senken?
Natürlich: Ein Drittel aller Krebsarten geht mit Übergewicht einher. Also essen Sie weniger. Rauchen Sie nicht, trinken Sie wenig Alkohol und bewegen Sie sich viel. Bewegung wird komplett unterschätzt. Optimal kommen Sie dreimal in der Woche auf 30 Minuten Ausdauertraining, zum Beispiel Schwimmen, Joggen, Rad fahren.
Darmschuckeln und beim Joggen pupsen ist auch gesund
Aber kriegt der Darm das überhaupt mit, wenn ich jogge?
Klar, der wird ja zumeist geschuckelt. Was schon mal gut ist, weil dadurch Gase abgebaut werden, wir pupsen also beim Laufen. Außerdem reduziert Sport die Anzahl an Stresshormonen, die den Darm vom Arbeiten abhalten. Bewegung setzt das vegetative System in Gang. Der Sympathikus wird aktiviert und schubst dann auch den Parasympathikus an, der den Magen-Darm-Trakt steuert.
Es heißt ja auch, der Darm steuert das Gehirn.
Zumindest gibt der Darm mehr Informationen an das Gehirn ab als das Gehirn an den Darm. Auch viele neurologische Erkrankungen wie Autismus oder Parkinson haben mit dem Darm zu tun. Neben der Nervenverbindung spielen da auch die Darmbakterien wieder eine Rolle. Wir wissen beispielsweise, dass manche Keime Substrate produzieren, die Stimmungsschwankungen und psychische Erkrankungen auslösen können. Eine Veränderung des Mikrobioms könnte in Zukunft also beispielsweise auch bei der Heilung von Depressionen helfen, da bin ich zuversichtlich. In der Forschung passiert diesbezüglich gerade sehr viel. Sie müssen sich vorstellen: Da siedeln mehr als eine Billion Keime, die alle eine eigene Genmasse besitzen, in unserem Darm, die leben alle mit uns vereint und sind uns weitgehend unbekannt. Zu meinen Studenten sage ich immer: Der Darm ist die Tiefsee des 21. Jahrhunderts. Da liegt noch vieles im Verborgenen, ich erwarte aber auch viele spannende Entdeckungen.
Wenn Sie eine Darmspiegelung bei einem Patienten durchführen, können Sie dann sehen, ob der sich gesund ernährt?
Das ist eine interessante Frage. Man könnte ein Gastroenterologen-Quiz draus machen. Gucke dir einen Darm an und sage, was der Eigentümer isst, welches Geschlecht er hat oder ob er zu viel Alkohol trinkt. Leider ist das nicht möglich. Und ich habe sicher tausende Därme von innen gesehen, ein Rückschluss auf die Risiken ist nicht möglich. Natürlich kann man Entzündungen, Polypen oder Tumoren entdecken. Also nein: Vom Aussehen der Darmschleimhaut lassen sich keine Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten ziehen.
Aber Sie können vorhersagen, ob der Patient oder die Patientin Darmkrebs entwickeln wird.
Wahrsagen können wir nicht – aber ich kann das Risiko, dass es überhaupt zum Krebs kommt um mehr als 50 Prozent reduzieren, indem ich bei einer Vorsorgekoloskopie Polypen entferne. Wir wissen, dass Polypen in bis zu 90 Prozent der Fälle dem Darmkrebs vorausgehen. Jeder Vierte Mensch hat Polypen und sechs Prozent der Bevölkerung entwickeln Darmkrebs. Also liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus meinen Polypen Krebs entwickelt bei bis zu 20 Prozent. Das ist eine Lotterie, da würde jeder mitmachen, wenn es um einen Geldgewinn ginge. Eine Darmspiegelung zur Früherkennung oder nach ganz aktuellen Daten von 2025 ein immunologischer Stuhltest ein bis zweimal pro Jahr lohnen sich also richtig.
Raspeln Sie die Polypen weg?
Nein, dies erfolgt mit Drahtschlingen. Bei kleinen Polypen unter einem Zentimeter wird die Schleimhaut abgeschnitten, wenn sie einen Polypen mit Stiel haben, wird der mit thermischer Energie durchgebrannt. Es gibt natürlich auch Monster-Polypen von mehreren Zentimetern Durchmesser, die müssen in einer aufwändigeren Untersuchung gegebenenfalls unter Vollnarkose abgetragen werden.
Wir müssen auch noch über Stuhlgang sprechen. Können Sie am Aussehen einer Probe erkennen, ob jemand krank ist?
Der Stuhlgang ist sehr individuell. Von weich und ungeformt bis hart und köttelig. Grundsätzlich hat jeder Stuhl seine Berechtigung, auch die Häufigkeit ist individuell – von zweimal am Tag bis zweimal in der Woche ist alles normal. Blut ist natürlich ein Alarmzeichen. Aufhorchen sollte man auch, wenn sich plötzlich etwas komplett verändert. Wobei natürlich die Ernährung maßgeblich ist. Wer viel Ballaststoffe isst, hat mehr Stuhlgang, das sehen Sie schon auf jeder Kuhwiese.