„Jetzt rege ich mich auf“Impfstoff verweigern? Ohne die Forschung wäre ich heute tot
- In der Kolumne „Jetzt rege ich mich auf“ schreibt Redakteur Frank Nägele über alles, was (ihm) im Leben wirklich wichtig ist.
- Im Mai 2019 bekam er einen Anruf von seinem Hausarzt: „Herr Nägele, wir haben ein Problem.“ Leukämie. Die Forschung war es, die letztendlich sein Leben rettete.
- In der Corona-Pandemie könnte die Wissenschaft ganz vielen Menschen das Leben retten. Mit einem Impfstoff. Denn sich nur dem Schicksal hinzugeben ist zwar menschlich, aber fatal.
Reden wir über Wissenschaft. Nicht über Schicksal, Erlösung, Verdammnis, Himmel und Hölle, sondern über das gesicherte Wissen vom Einfluss der Forschung auf unser Leben. Fest steht: Ohne ihre Errungenschaften hätte dieser Text nicht entstehen können, denn der Autor wäre nicht mehr am Leben und ein Teil der Leserschaft auch nicht.
Mit ein wenig Glück hätte der Autor vielleicht noch die Kinderkrankheiten überstanden. Aber zwei schwere Unfälle in seiner Jugend und einige ernsthafte Erkrankungen hätten schon das Erreichen des 40. Lebensjahrs unwahrscheinlich gemacht. Selbst wenn er 58 geworden wäre, was vergangenes Jahr geschah, wäre die Sache heikel geworden, denn da bekam er auch einen Anruf vom Hausarzt.
Womöglich entsteht an dieser Stelle die Frage, warum ein Mensch, der seine privilegierte Stellung als Journalist im Rahmen seiner Möglichkeiten zur allgemeinen Erhellung nutzen sollte, plötzlich so privat wird. Meine Antwort ist: um ein allgemeines Beispiel zu geben. Wir leben an einem Punkt unserer Geschichte, der von einer tödlichen Pandemie und vom globalen Warten auf einen medizinischen Durchbruch bestimmt wird.
Wir brauchen außer Disziplin und Einsicht im Alltag einen Impfstoff, um die Corona-Pandemie langfristig unter Kontrolle zu bekommen. Wenn nicht die meisten Experten irren, kann das im nächsten Jahr geschehen. Natürlich weiß niemand, wie gut diese Stoffe wirken und wie lange es dauert, bis das Virus seine Macht über unser Leben verliert. Aber je besser die Menschen verstehen, was für einem Wunder sie begegnen, desto schneller wird das geschehen.
Überlebensdauer: 31 Monate
Es rief also im Mai 2019 mein Hausarzt an und sagte: „Herr Nägele, wir haben ein Problem. Sie haben viel zu viele weiße Blutkörperchen.“ Auch dem Laien wird sehr schnell klar, dass dies eine schlechte Nachricht ist, denn dafür kommen in der Regel nur zwei Ursachen in Frage: eine großflächige Entzündung im Körper oder eine Leukämie. Eine Entzündung lag aber nicht vor. Also begann die Suche nach dem Fehler in der Blutbildung.
Nach einer beunruhigenden Woche waren sich die Mediziner sicher: CML, Chronische Myeloische Leukämie. Der Arzt sagte zu mir: „Das ist eine sehr ernsthafte Erkrankung. Vor 20 Jahren hätten sie ein halbes Jahr mit vielen Chemotherapien vor sich gehabt. Alles mit ungewissem Ausgang.“ Die statistische Überlebensdauer bei diesem Blutkrebs zum Zeitpunkt der Diagnose betrug damals 31 Monate.
Ein modernes Wunder, das Leben rettet
Als die Diagnose schwarz auf weiß vor mir lag, war ich trotzdem unglaublich erleichtert, denn in mir war die einzige Leukämie ausgebrochen, die medikamentös behandelt und mit ein wenig Glück unter Kontrolle gebracht werden kann. Das ist kein Spaß, die Nebenwirkungen können hart sein, und die Medikamente sind extrem teuer. Aber Menschen wie ich verdanken ihnen ihr Leben. Der Wissenschaft ist es gelungen, ein für die Krebsvermehrung verantwortliches Eiweiß (Tyrosinkinase) zu blockieren. Ein „Tyrosinkinasehemmer“ dockt dafür an eine Stelle im Reproduktionsprozess der falschen weißen Blutkörperchen an und setzt ihn so außer Kraft. Das ist eine laienhafte, stark vereinfachte Umschreibung, aber so versteht man besser, wie ein modernes Wunder funktioniert.
Das Leben von Patienten, die früher Todeskandidaten waren, kann fast normal weitergehen. Ich habe lange gebraucht, bis ich mein Glück fassen konnte. Es ist begleitet vom Mitgefühl für die vielen, die eine noch nicht decodierte Form der Leukämie haben oder auf andere Weise schwer oder unheilbar krank sind.
Menschlich – aber fatal
Ich erkläre das so deutlich, damit klar wird, womit wir es zu tun haben: mit den Folgen wissenschaftlicher Arbeit. Es ist im Prinzip nichts anderes als Rosenzüchten. Nur viel, viel komplizierter. Einerseits ist es ein Wunder, andererseits das logische Ergebnis des Verstehens natürlicher Vorgänge, die wir erst im Lauf der letzten Jahre und Jahrhunderte entschlüsselt haben.
Dennoch bleibt dieser Bereich des Lebens für viele Menschen Schicksal, Erlösung, Verdammnis, Himmel und Hölle, eine mystische Zwischenwelt jenseits des Verstehens, die bei allem Schrecken eine praktische Seite hat: In ihr waltet das Schicksal, und ein jeder ist von der Verantwortung für richtiges Handeln entbunden. Sich dieser uralten Vorstellung vom Lauf der Dinge hinzugeben, ist menschlich, in der aktuellen Krise allerdings fatal. Auch der beste Impfstoff wird nicht helfen, wenn sich zu viele ihm verweigern.
Das könnte Sie auch interessieren:
Nur damit wir uns richtig verstehen: Das ist kein Plädoyer für die aktuelle Gesundheitspolitik und die Gier der Pharmakonzerne, die eine Wundermedizin so teuer machen, dass sie – wie meine aktuelle – für mehr als die Hälfte der Menschheit unbezahlbar und damit nicht verfügbar ist. Und es soll auch keine Aufforderung sein, Pillen für jeden Mist zu schlucken und sich ungefragt jeder Operation zu unterziehen.
Ich wollte nur etwas über den Wert der Wissenschaft schreiben, der ich seit vielen Jahren mein Leben verdanke.