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Sexsüchtig„Jeder Porno, den ich geschaut habe, hat mich wieder zurückgeworfen”

Lesezeit 6 Minuten
Sexsucht Symbolbild

Exzessiver Pornokonsum zählt zu den drei Hauptmerkmalen einer Hypersexualität (Symbolbild).

  1. Das Verlangen nach Sex wird im Leben von Florian Winter lange Zeit immer stärker, bis er die Kontrolle über sein Sexualverhalten verliert.
  2. Masturbation, Pornokonsum, Bordellbesuche, sexuelle Phantasien – irgendwann plante der 52-Jährige seinen kompletten Alltag um seine Hypersexualität.
  3. Welche Folgen die Krankheit haben kann und was dagegen hilft, erklären die Experten Ulrike Plogstieß und Jaroslav Malevani.

Köln/Berlin – Er zieht sich zurück, um zu masturbieren, schaut unzählige Pornos, besucht irgendwann Prostituierte. Die Sexsucht zieht sich jahrelang wie ein roter Faden durch das Leben des 52-jährigen Berliner Illustrators Florian Winter, der eigentlich anders heißt. In dem intensiven Comic „XES“ verarbeitet er seine Suchtgeschichte, möchte anderen erzählen, wie es ist, wenn die Kontrolle über das eigene Sexualverhalten verloren geht.

In seinem Comic ist die Welt von Florian Winter grau. Sein Zimmer, seine Mutter, sein Onkel und seine Oma. Doch irgendwann taucht die Farbe Rot auf. Mal ist es nur das Haar einer Frau, ein Bildchen in einem Heft, irgendwann ist es der in Rot getränkte Bildschirm, der seinen farbigen Schatten auf das Gesicht von Florian Winter wirft. Die Farbe steht für die Momente der Sucht. Schleichend ist ein Sexmonster in sein Leben gekrochen, das seinen Alltag bestimmt, ihm die Kraft raubt.

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Selbsthilfegruppen haben Florian Winter geholfen (Zeichnung aus dem Comic).

Mit Mitte 30 wird Winter sich seiner Sucht bewusst

„Sexualität war in meinem Leben immer ein Thema, weil sie für mich immer irgendwie zu viel oder komisch war“, erzählt Florian Winter. Gemerkt, dass er sexsüchtig ist, habe er erst mit Mitte 30. Vorher dachte er, dass nur er so sei, er niemandem von seinem übersteigertem sexuellen Bedürfnis erzählen könne.

Allein die Häufigkeit von Sex und sexuellen Handlungen sagt nichts darüber aus, ob jemand unter Hypersexualität, wie Sexsucht in der Psychologie genannt wird, leidet. „Ein zwanghaftes Sexualverhalten liegt dann vor, wenn Betroffene ihre Sexualität nicht mehr steuern können“, erklärt Dr. Jaroslav Malevani, Psychiater und Chefarzt an der Oberberg Somnia Fachklinik Köln Hürth. Drei konkrete Merkmale sprechen für eine Hypersexualität: exzessive Masturbation, übermäßiger Konsum von Pornografie und der häufige Wechsel des Sexualpartners oder der Sexualpartnerin. Hypersexualität sei anderen stoffungebundenen Süchten wie Computerspiel-, Social-Media- oder Handysucht ähnlich.

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Jaroslav Malevani, Chefarzt der Oberberg Somnia Fachklinik Köln Hürth

Männer leiden häufiger unter Hypersexualität

Männer sind häufiger von Sexsucht betroffen – im Verhältnis drei zu eins, sagt der Experte. „Männer sind in der Regel stärker auf die funktionellen Aspekte von Sexualität fokussiert: Erregung und Orgasmus“, sagt Ulrike Plogstieß, Sexualtherapeutin in Bonn und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft. „Bei Frauen ist das Sexualitätskonzept tendenziell stärker personen- und beziehungsorientiert.“

Die Weltgesundheitsorganisation hat zwanghaftes Sexualverhalten mittlerweile als Krankheit anerkannt. Das erleichtert es Therapeutinnen und Therapeuten, die Behandlung von Hypersexualität auch bei den Krankenkassen abrechnen zu können. Sie müssen keine Ersatzdiagnosen mehr finden.

Für Betroffene der Sucht wird Sex zur Obsession. Die Aufmerksamkeit ist auf alles gerichtet, was sexuell sein könnte. Es werde immer wieder nach neuen sexuellen Reizen gesucht. Doch eine wirkliche Befriedigung tritt nicht ein und Betroffene seien ständig weiter auf der Suche nach einem neuen „Kick“, erklärt die Psychologin.

Bordellbesuche – auf der Suche nach Intimität

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Rot ist die Suchtfarbe in Florian Winters Comic – hier illustriert er den Pornokonsum (Zeichnung aus dem Comic).

„Bei Bordellbesuchen war es immer der Versuch, zumindest für einen Moment Nähe und Intimität herzustellen, das hat sich leider nie erfüllt“, beschreibt Florian Winter. In ihm habe immer ein Kampf geherrscht zwischen Energien, die ihm die Kraft raubten. Er sei auf der Suche nach Wertschätzung, Intimität und Nähe in einer Beziehung gewesen und gleichzeitig unfähig, eine reale Beziehung zu einer Frau zu führen. Stattdessen zieht sich Florian Winter aus der Welt zurück in die Einsamkeit seines Zimmers, schaut Pornos, masturbiert. „Jeder Porno, den ich geschaut habe, hat mich jedes Mal zurückgeworfen. Zurück in eine Persönlichkeitsstruktur, die mich davon abgehalten hat, mich auf reale Beziehungen einzulassen.“

Die Sucht nimmt immer mehr Raum in seinem Leben ein: Florian Winter plant seine Freizeit, Familie, Arbeit und den Alltag um die Sucht, sucht nach Lücken, in denen er sie ausleben kann. „Meine Gedanken waren oft sexualisiert und ich war mit der Planung meiner Sucht beschäftigt. Ich habe meinen Alltag gar nicht mehr richtig erlebt, war unkonzentriert, übermüdet oder depressiv verstimmt.“

Ursachen und Folgen einer Sexsucht

Das zwanghafte Sexualverhalten kann auf Dauer vielfältige negative Folgen haben: Freunde, Arbeit und Familie werden vernachlässigt, es kommt zu Problemen in der Partnerschaft und bei häufig wechselnden Sexualpartnern steigt zudem das Risiko, sich mit Geschlechtskrankheiten anzustecken. Nutzen Betroffene kostenpflichtige Sexhotlines, geraten sie oftmals in eine Schuldenfalle. Außerdem komme es ähnlich wie bei anderen Süchten zu einer sogenannten Toleranzentwicklung, sagt Ulrike Plogstieß. Die sexuelle Aktivität muss gesteigert werden und gleichzeitig werde es immer schwieriger, ein intensives Lustgefühl zu erreichen.

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Ulrike Plogstieß, Sexualtherapeutin in Bonn

Warum Menschen ein zwanghaftes Sexualverhalten entwickeln, habe komplexe Ursachen. „Bestimmte Medikamente, zum Beispiel zur Behandlung der Krankheit Parkinson, können zu unkontrolliertem sexuellen Verhalten führen. Auch der Konsum von Drogen, wie beispielsweise Kokain, oder eine psychische Erkrankung können Auswirkungen auf das Sexualverhalten haben. Das muss in einer sorgfältigen Untersuchung geklärt werden.“ Häufig spiele aber ein brüchiges Selbstwertgefühl eine große Rolle bei Hypersexualität. „Ob ein Mensch gut für sich sorgen kann, das Gefühl hat, sein Leben unter Kontrolle zu haben und ob er in der Lage ist, mit Gefühlen wie innerer Leere, Langeweile oder Selbstzweifeln umzugehen, hat einen großen Einfluss“, sagt die Therapeutin.

Kann sich ein Mensch nicht selbst ausbalancieren, kann es zur Ersatzbefriedigung kommen: zu viel essen, sich mit Alkohol in eine entspanntere Stimmung bringen, den Kick beim schnellen Autofahren suchen. Genauso kann auch das kurzzeitige Hochgefühl beim Sex zum dauerhaften Fluchtmittel werden, um negativen Gefühlen auszuweichen. Zusätzlich sei die unbegrenzte Verfügbarkeit sexuell stimulierender Darbietungen im Internet eine Verführungssituation, der viele nicht widerstehen können. So könne alles Denkbare und Undenkbare auf dem heimischen Bildschirm angesehen werden, ohne dass man sich dafür rechtfertigen oder schämen muss, sagt Ulrike Plogstieß.

Hypersexualität als Lebensretter auf Zeit

„Eine Zeit lang war die Sucht mein Lebensretter, sie hat mir geholfen den Schmerz abzutöten. Wenn man als Kind keine andere Möglichkeit gelernt hat damit umzugehen, macht man bestimmte Sachen, um den Schmerz erträglicher zu machen. Erst hat es funktioniert, irgendwann ist es zu einer Sucht geworden“, schildert Florian Winter. Er sei in einer Suchtfamilie aufgewachsen. Jeder habe seine eigene Sucht gehabt: Medikamente, Essen, Alkohol. „Dort habe ich mir ganz viel abgeholt“, meint Winter. Mit seinen Gefühlen umzugehen, sei für ihn schon immer schwierig gewesen.

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Buchcover

Florian Winter: „XES”, Avant Verlag, 360 Seiten, 25 Euro.

Foto: Avant Verlag

„Die naheliegendste Erklärung, dass ich sexsüchtig geworden bin, ist für mich, dass ich als Kind wegen einer Hodenfehlstellung Hormone gespritzt bekommen habe und dadurch sehr früh Erektionen hatte.“ Außerdem habe der frühe Verlust seines Opas durch einen Unfall ihn traumatisiert, eine Krise ausgelöst. All diese Achsen hätten einen guten Nährboden für die Sucht gebildet.

Verhaltenstherapie als Hilfe

Eine Verhaltenstherapie kann helfen die Sucht zu überwinden, sagt der Psychiater Jaroslav Malevani. „In der Therapie wird Betroffenen geholfen, die Kontrolle über ihr Sexualverhalten zurückzugewinnen und das Selbstbewusstsein zu stärken.“

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Zunächst werden individuelle Ziele festgelegt – zum Beispiel kein Besuch bei Prostituierten oder Enthaltsamkeit von Pornografie. „Danach wird ein Störungsmodell erarbeitet und die Zusammenhänge mit auslösenden Situationen, zum Beispiel Stress oder Überlastung, untersucht.“ Anschließend werden Verhaltensmodifikationen entwickelt, die unter anderem Entspannungstechniken und eine Optimierung der Work-Life-Balance beinhalten.

Mittlerweile gibt es das Sexmonster im Leben von Florian Winter nicht mehr. Er hat die Kontrolle über sein Sexualverhalten wieder. Geholfen habe ihm dabei am meisten eine Selbsthilfegruppe. Der Austausch mit Menschen, die das gleiche Problem haben wie er. Doch auch seine Beziehung, die er seit zehn Jahren führt, habe ihn stabilisiert. „Ich habe immer gedacht, dass die Sucht mein Problem ist, nun weiß ich, dass ich auch unter depressiven Verstimmungen litt und meine Familiengeschichte aufarbeiten möchte“, sagt Florian Winter.