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Knibbeln, bis es blutetWenn aus Nägelkauen und Hautkratzen eine ernste Störung wird

Lesezeit 4 Minuten
Mann kratzt sich

Bei Skin Picking scannen Betroffene ihren Körper nach Unreinheiten ab. Dann quetschen drücken oder kratzen sie – oft bis es blutet.

Köln – An einem Pickel herumdrücken, einen Mückenstich aufkratzen oder Hautpartikel nach einem Sonnenbrand abzupfen – das macht wohl jeder mal. Doch etwa zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung in Deutschland reicht das nicht. Sie gehen wesentlich brachialer mit ihrer Haut um: Sie ziehen, quetschen, drücken, reiben und kratzen heftig daran, schneiden sich oder ziehen kleine Hautstücke ab. Diese zwanghafte Störung ist in Fachkreisen als „Skin Picking Disorder“ bekannt. Auch Matthias, ein Mann Anfang 40, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat viele Jahre darunter gelitten.

Rund 20 Jahre lebte er mit der Zwangsstörung, viele Jahre ohne überhaupt zu wissen, dass es eine Krankheit ist. Beim Skin Picking verwenden Betroffene nicht nur Fingernägel und Zähne, sondern greifen auch zu Pinzetten, Nadeln oder Scheren um die Haut zu malträtieren. Es entstehen Verletzungen, Rötungen, vereiterte Stellen – die am Ende Narben hinterlassen. Rund 60 bis 90 Prozent der Skin Picker sind Frauen, doch auch Männer können betroffen sein, unter ihnen vermuten Mediziner eine recht hohe Dunkelziffer.

„Man denkt, man tut sich etwas Gutes“

Matthias erklärt, was ihn antrieb, wenn er an seiner Haut zupfte: „Wenn man an den Pickeln herumdoktert, denkt man, man tut sich etwas Gutes. Man hat das Gefühl, dass danach alles wieder gut wird und die Stelle verheilen kann. Dafür nimmt man dann Blut und eine Wunde in Kauf. Nur wird es danach nicht gut, man hinterlässt ein Schlachtfeld.“ Was dann folgt, sind Scham und der verzweifelte Versuch, die Hautunreinheiten kosmetisch zu kaschieren – oder man macht direkt weiter, weil „man es richtig gut machen will“, so Matthias.

Der Betroffene rutsche in einen Teufelskreis ab, bestätigt auch Dr. Marion Sonnenmoser im „Ärzteblatt“: Skin Picker empfinden das Bearbeiten der Haut kurzfristig als entspannend, angenehm und stimulierend, danach aber stellten sich Reue und Schuldgefühle ein. „Ich habe mich geschämt und in der Folge sozial isoliert. Ganz normale Dinge, wie ins Schwimmbad oder in die Uni gehen, schienen für mich unerreichbar“, erinnert sich Matthias. Er habe immer öfter kurzfristig Verabredungen mit Freunden abgesagt: „Ich wollte einfach nicht mehr unter Leute gehen“, gibt er heute zu. Auch sein Studium litt extrem unter seiner Krankheit: An schlechten Tagen schwänzte er Seminare und Kurse, blieb stattdessen zu Hause.

Skin Picking Header

Bei Skin Picking scannen Betroffene ihren Körper nach Unreinheiten ab. Dann quetschen drücken oder kratzen sie – oft bis es blutet.

Der Rat, die Haut in Ruhe zu lassen, hilft Betroffenen nicht

Betroffene stoßen in ihrem Umfeld meist auf Unverständnis, die Wunden sind auffällig und ziehen die Blicke auf sich. „Der Rat, die Haut in Ruhe zu lassen, ist sicher richtig, hilft Betroffenen aber nicht“, erklärt Matthias.

Fehlendes Wissen über die Zwangsstörung sei auch einer der Gründe, warum viele Betroffene skeptisch gegenüber Hautärzten seien: Sie fühlen sich dort nicht verstanden. Pauschal verurteilen will er Hautärzte aber nicht. Am Ende war es der Chefarzt in einer Hautklinik, der nach nur zwei Besuchen Matthias den entscheidenden Hinweis gab, und auf die psychische Komponente hinwies.

Skin Picking war ein Symptom für nicht verarbeitete familiäre Konflikte

Einen konkreten Auslöser, warum und wann er mit dem zwanghaften Zupfen anfing, kann er heute nicht mehr benennen: „Bei mir tauchte das nach der Pubertät auf, so mit 21 Jahren“, erinnert er sich. Heute weiß er, dass es ein Symptom für ein viel tiefer liegendes Problem war. Bei Matthias waren es ungelöste familiäre Konflikte, die ihn beschäftigten.

Geholfen hat ihm eine Selbsthilfegruppe, die sich regelmäßig in Köln trifft, „Das Wichtigste war, dass man endlich darüber sprechen konnte. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, allein zu sein“, sagt er. Doch er weiß auch: „Wir haben dort nicht die Wunderpille, die jedem über Nacht hilft.“ Einen Arzt beziehungsweise eine Psychotherapie ersetzen die Treffen nicht, meint er.

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In der Selbsthilfegruppe fühlt er sich verstanden

Matthias hat seine Zwangsstörung inzwischen im Griff. Die Selbsthilfegruppe besucht er trotzdem noch regelmäßig. Dort fühlt er sich verstanden und möchte anderen Betroffenen mit seiner Geschichte Mut machen. Seine familiären Konflikte hat er für sich geklärt und damit abgeschlossen: „Es ist nicht perfekt, aber in Ordnung“ – genauso wie sein Skin Picking. Und damit kann er gut leben.