Der BMI hat ausgedient, findet eine britische Expertenkommission. Sie fordert eine neue Definition der Adipositas. Wann ist jemand krankhaft übergewichtig?
Dick gleich krank?Wie Experten Adipositas neu definieren wollen
Wann ist jemand krankhaft übergewichtig, also adipös – und wann einfach nur dick? Bisher ist dabei der BMI (Body-Mass-Index) der offizielle Maßstab. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO beginnt Adipositas bei einem BMI von 30, auch in medizinischen Leitlinien steht es bislang noch so. Den BMI berechnet man, indem man sein Gewicht durch seine Körpergröße in Metern zum Quadrat teilt. Schon lange ist diese Definition umstritten, doch es mangelte an Alternativen.
Nun schlägt eine Kommission ein neues Modell zur Diagnose der Adipositas vor, das im Fachmagazin „The Lancet“ veröffentlicht wurde. Beteiligt waren 58 Experten und Expertinnen aus verschiedenen Fachgebieten und Ländern. Darunter solche, die selbst Erfahrungen mit Adipositas hatten. So sollte sichergestellt werden, dass die Patientensicht mit einfließt. In der Veröffentlichung heißt es, bei der aktuellen, auf dem BMI basierenden Diagnostik könne das Vorkommen von Adipositas sowohl über- als auch unterschätzt werden. Sie liefere zudem nur „inadäquate Informationen“ über die individuelle Gesundheit.
Körperfettmessung eher aussagekräftig
Die Kommission schlägt vor, Fettleibigkeit nicht durch den BMI, sondern durch eine Körperfettmessung zu ermitteln. Oder durch die Messung des Taillenumfangs oder der Relation zwischen Taillen- und Hüftumfang – die ebenfalls Aufschluss über den Körperfettanteil geben. Lediglich ab einem BMI von 40 könne auf solche Messungen verzichtet werden, da dann sicher von Adipositas auszugehen sei. Zudem seien „klinische“ und „präklinische“ Adipositas voneinander abzugrenzen. Dazu sollen verschiedene weitere Kriterien herangezogen werden.
Klinische Adipositas definiert die Kommission als eine „chronische, systemische Krankheit“, bei der als Folge der Fettleibigkeit die Funktion von Organen, Geweben oder des gesamten Organismus beeinträchtigt ist. Das könne zu potentiell lebensbedrohlichen Ereignissen führen, wie einem Schlaganfall, einem Herz- oder Nierenversagen.
Um die Diagnose klinische Adipositas zu stellen, müsse entweder nachgewiesen werden, dass die Funktion von Geweben oder Organen durch die Adipositas beeinträchtigt ist. Oder, dass die Person durch das Übergewicht bei täglichen Aktivitäten eingeschränkt ist – also zum Beispiel beim Duschen, Anziehen, dem Toilettengang oder beim Essen. Betroffene sollen behandelt werden und zwar mit dem Ziel, die klinischen Auswirkungen zu reduzieren und ein Fortschreiten zu verhindern.
Wird hingegen lediglich zu viel Körperfett festgestellt, aber keine Beeinträchtigung von Organen oder Geweben, will die Kommission das als präklinische Adipositas einstufen. Sie soll dann diagnostiziert werden, wenn ein erhöhtes Risiko besteht, eine klinische Adipositas oder Folgekrankheiten der Fettleibigkeit wie Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Leiden, manche Krebsarten oder psychische Krankheiten zu entwickeln.
BMI ist exakter bestimmbar
Thomas Reinehr, Kinderendokrinologie und -diabetologie an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln, sieht die Vorschläge der Kommission kritisch. Gegenüber dem Science Media Center (SMC) nannte er einige Vorteile der Diagnose per BMI: „Die Bestimmung des BMIs ist exakt und gut reproduzierbar. Dies ist zum Beispiel für Bauchumfangsmessungen oder Körperfettmessungen nicht gegeben.“ Zudem würden psychologische Komponenten beim Vorschlag der Kommission nicht ausreichend berücksichtigt: „So kann ein übergewichtiger, fitter Mensch sehr durch Hänseleien, beispielsweise im Kindes- und Jugendalter, unter dem Übergewicht leiden. Nach der vorgeschlagenen Definition würde man aber keine Therapie bei ihm durchführen können, da er nicht ‚krank‘ ist“, sagte Reinehr.
Außerdem fürchtet er, die Krankenkassen könnten Behandlungsmaßnahmen für Übergewicht gemäß der neuen Definition nur noch übernehmen, wenn eine Folgeerkrankung vorliegt. „Es ist aber sicher effektiver, das Übergewicht zu behandeln, bevor Folgeerkrankungen auftreten, die teilweise irreversibel sind, wie zum Beispiel die Koronare Herzkrankheit“. Übergewichtige oder „nur gerade so adipöse“ Kinder und Jugendliche sprächen zudem sehr viel besser auf eine Lebensstilintervention an, als extrem adipöse Kinder und Jugendliche.
Geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigen
Außerdem sei es bereits jetzt üblich, neben dem BMI weitere Kriterien zu berücksichtigen, sagte Reinehr: „Schon heute klassifiziert kein Therapeut in der Adipositas-Szene jemand nur aufgrund seines BMI als adipös. Die Körperfettverteilung wird immer mitberücksichtigt.“
Alexandra Kautzky-Willer ist Fachärztin für innere Medizin und Leiterin des Bereichs „Gender Medicine“ an der Medizinischen Universität Wien. „Dass der BMI kein idealer Parameter zur Definition von Adipositas als Krankheit ist, wissen wir schon sehr lange“, sagte sie gegenüber dem SMC. „Eine direkte Messung der Körperfettmasse ist immer vorzuziehen.“ Ansonsten müsse zumindest der Bauchumfang mit einbezogen werden. „Dabei dürfen auch geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Fettverteilung und Fettmasse nicht unberücksichtigt bleiben, ebenso wie gewisse ethnische Unterschiede.“
Fitness wichtiger als „Fatness“
Die Frage, ob Adipositas eine Krankheit sei, werde unter Experten und Expertinnen schon lange diskutiert. Nach der bisherigen Adipositas-Definition könnten „Menschen als krank eingestuft werden, die außer einem hohen BMI und vielleicht eventuell auch einer hohen Fettmasse keine Krankheit und keine Organfunktionseinschränkungen aufweisen und körperlich fit sind“, räumte auch Kautzky-Willer ein. „Sicher ist für mich, dass Fitness meist wichtiger als Fatness ist.“
Andererseits sei ein solcher Zustand nur bei regelmäßiger Bewegung wie Ausdauer- und Krafttraining aufrecht zu erhalten und gesundheitlich unbedenklich. Die meisten Untersuchungen würden zeigen, dass eine Adipositas ohne schädliche Auswirkungen auf den Organismus – also das, was die Kommission als präklinische Adipositas bezeichnen möchte – meist in eine krankhafte Form übergingen, wenn nicht rechtzeitig eine Gewichtsabnahme erfolge. „Für Präventionsmaßnahmen wäre es also sehr wichtig, auch bei Adipositas ohne Krankheitssymptome anzusetzen“, so Kautzky-Willer.
Genau dazu wird übrigens auch in der Veröffentlichung geraten: Im Fall einer präklinischen Adipositas wird empfohlen, dass Betroffene eine Gesundheitsberatung bekommen, und ihr Gesundheitszustand überwacht werden soll. Wenn möglich, solle verhindert werden, dass ihr Zustand in die klinische Adipositas übergeht oder Folgekrankheiten auftreten, heißt es dort.