Thomas Kurscheid im Interview über Chancen und Risiken der Abnehmspritzen nach über einem Jahr Erfahrung – und die Scham von Adipositas-Patienten.
Kölner Arzt über Abnehmspritzen„Die Spritze greift in einen sehr komplexen Hormonregelkreis ein“
Herr Kurscheid, die Fitness-Studios sind im Januar voll mit Menschen, die ihre guten Neujahrsvorsätze in die Tat umsetzen wollen. Merken Sie auch in Ihrer Praxis, dass die Zahl der Menschen, die sich wegen Übergewicht beraten lässt, steigt?
Kurscheid: Ja, das ist jedes Jahr so. Viele haben über die Weihnachtstage einiges angehäuft an Kilos. Die versucht man dann, wieder mit viel Motivation loszuwerden.
Bei massivem Übergewicht geht es noch um etliche Kilos mehr – und oft eine lange Leidensgeschichte. Sie behandeln seit vielen Jahren Menschen mit Adipositas. Wie haben sich Ihre Patientinnen und Patienten in den vergangenen Jahren verändert?
Sie sind deutlich informierter. Fast alle wissen, dass Gemüse gesünder ist als Pizza. Aber das Umsetzen ist das Schwierige. Und viel mehr Menschen fangen aus Frust, Stress, Langeweile, Pausenbedarf und vielleicht auch Selbstschutz an zu essen. Dieses emotionale Essen kann man nur noch professionell angehen, deswegen integrieren wir als zentralen Bestandteil die Psychotherapie in unsere Programme. Psychotherapie hört sich erst einmal schlimm an. Aber es geht darum, das eigene Verhalten zu hinterfragen.
Frust und Kummer gab es früher auch schon. Warum werden jetzt so viele Menschen davon übergewichtig?
Wir werden einsilbiger in unserer Seelensprache. Offenbar ist es scheinbar einfacher, durch essen mit diesen Gefühlen umzugehen als durch andere Verhaltensweisen.
Welche weiteren Ursachen sehen Sie?
Das sogenannte abgelenkte Essen. Viele halten sich für Genießer, essen dann aber vor dem Fernsehen oder vor dem Smartphone. Das kriegt unser Gehirn nicht hin. Wir gucken ja auch nicht zwei Spielfilme gleichzeitig. Darum sollten wir das lassen. Das ist wirklich mein wichtigster Tipp überhaupt: Wenn wir essen, essen wir! Wir genießen und machen nichts anderes. Wir schmecken hin, kauen richtig, legen zwischendurch auch mal Messer und Gabel weg, machen kleine Pausen.
Sie bezeichnen Adipositas als chronische Krankheit. Inwiefern ist das so?
Das hat jeder schon erlebt, der versucht hat, eine Diät zu machen. Das Abnehmen gelingt gar nicht so selten, aber das Gewicht dann zu halten, ist schwer. Wir kämen nie auf die Idee, mit einem vollen Tank zur Tankstelle zu fahren, aber wir gehen immer wieder zur „Tankstelle“ Kühlschrank, obwohl wir eigentlich satt sind. Schwer Übergewichtige haben quasi eine falsche Tankanzeige. Das macht es so schwer abzunehmen. Da kommt man alleine nicht raus.
Setzt sich die Erkenntnis langsam durch, dass Adipositas eine Krankheit ist?
Ja. Lange wurde das deutlich unterkomplexer betrachtet. Als ich vor 25 Jahren im Team und mit Professor Karl Lauterbach, der heute Gesundheitsminister ist, die erste evidenzbasierte Leitlinie zu Adipositas geschrieben und herausgegeben habe, war die Einstellung vieler Ärzte zu übergewichtigen Menschen immer noch: Die sollen ein bisschen weniger essen und sich etwas mehr bewegen, dann klappt das schon. Tatsächlich denken auch heute leider noch zu viele Kollegen so. Aber es ändert sich langsam etwas.
Sie setzen sich für eine Enttabuisierung von Übergewicht ein. Ist das wirklich noch ein Tabu?
Ja! Die Patienten schämen sich. Die haben oft Tränen in den Augen, wenn sie bei mir sitzen, weil ihre Belastung so hoch ist. Auch wenn manche versuchen, das wegzudrängen und behaupten, ihren Körper so zu lieben, wie er ist: Bei mir lassen sie oft alle Schranken fallen und erzählen ganz ehrlich, wie es ihnen geht. Und dann versuchen wir mit einem Team von Psychologen, Ärzten, Sportwissenschaftlern und Ökotrophologen, also Diät-Assistenten, einen Ausweg aufzuzeigen.
Geht es auch um Dinge, die der Chef gesagt hat – oder die Kollegin oder der Ehepartner?
Natürlich. Da spielen verschiedene Stressoren eine Rolle. Auch Beleidigungen, die man einstecken musste, weshalb man sich z.B. später nicht mehr ins Schwimmbad traut. Ich empfehle dann zum Beispiel ein Ergometer für zu Hause.
Seit etwas mehr als einem Jahr sind die sogenannten Abnehm-Spritzen eine große Hoffnung für viele Menschen, die abnehmen wollen. Die dänische Firma Novo Nordisk, die das Medikament Wegovy entwickelt hat, ist jetzt das reichste Unternehmen Europas. Ist der Markt so riesig?
Auf jeden Fall. Wir haben jetzt auch noch ein weiteres Präparat, Mounjaro. Und jetzt ziehen noch ganz viele nach, die in Zukunft sogar noch wirksamer sein könnten. Aber man sollte sich das keinesfalls einfach so verordnen lassen. Denn die Spritzen führen zwar dazu, dass man weniger isst, aber das allein ist noch nicht gesund. Man muss ein Begleitprogramm machen.
Welche Nebenwirkungen konnten Sie bislang beobachten?
Gerade in den ersten ein, zwei Wochen kann es sein, dass einem übel wird. Vielleicht kommt sogar mal Erbrechen vor, Stuhlunregelmäßigkeiten. Wenn man die Dosis erhöht, kommen diese Erscheinungen manchmal zurück. Man muss erhöhen, weil der Körper mit der Zeit schon eine gewisse Resistenz gegen den Stoff entwickelt. Aber je mehr unterschiedliche Rezeptoren angesprochen werden, desto schwerer fällt es dem Körper, eine Resistenz zu entwickeln.
Im Internet kann man echte Horror-Stories über Nebenwirkungen lesen. Das ist Ihrer Erfahrung nach nichts dran?
Wir haben es jetzt schon mehrere hundert Mal verschrieben und ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern, wo es schwere Nebenwirkungen gab.
Eine Kritik an den Spritzen lautet, dass sich das Leben auch ansonsten etwas runterreguliert anfühlt, man auch auf andere Dinge wie zum Beispiel Sex weniger Spaß hat, die Endorphine ausschütten. Stimmt das?
Tatsächlich habe ich von Patienten schon gehört, dass sie zwar weniger Lust auf Essen und eben auch weniger Lust auf andere Dinge haben, zum Beispiel auf Sex. Manche berichten von einer etwas schlechteren Stimmung. Wer zur Depression neigt, könnte also Probleme bekommen.
Woran liegt das?
Die Spritze greift in einen sehr komplexen Hormonregelkreis ein. Im Körper hängt alles miteinander zusammen. Wenn ich an einem Rädchen drehe, kann ich auch andere Rädchen verändern. Wir schießen schon ein bisschen mit Kanonen auf Spatzen. Die Kanone ist in dem Fall sehr wirksam, aber kann auch ihre Nebenwirkungen haben.
Wer emotionaler Esser ist, hat kein Ventil mehr, wenn er die Spritze nimmt. Was macht er dann?
Deswegen ist das Begleitprogramm so wichtig. Wenn ich jetzt aus Lust, Frust, Stress, Langeweile nicht mehr esse, muss ich mir ja alternativ irgendwas suchen. Ich kann gegen einen Sandsack hauen, ich kann Sport machen, ich kann einen Kumpel anrufen. Das muss man für sich rausfinden. Und das kann man auch rausfinden.
Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Spritzen nicht. Zu Recht?
Wenn Sie mich fragen, völlig zu Unrecht. Adipositas ist eine schwere Erkrankung, die zu weiteren schweren Erkrankungen führt, zum Beispiel zu Diabetes, Bluthochdruck, zu hohen Cholesterinwerte. Am Ende kann ein Herzinfarkt und ein Hirnschlag stehen, der viel früher kommt als bei einem normalgewichtigen, sportlichen Menschen.
Für die Krankenkassen wäre es sehr teuer, die Spritzen zu übernehmen.
Ja, aber wenn der Übergewichtige Diabetes hat, bekommt er die Spritzen von der Kasse bezahlt. Wie viel sinnvoller wäre es, die Spritze schon vorher zu bezahlen? Das muss man sich mal vorstellen! Die Gesellschaft zahlt doch einen viel höheren Preis durch die ganzen Folge-Erkrankungen.
Erleben Sie in Ihrer Praxis auch Patienten oder Patientinnen, die sich ihre bereits sehr schlanke Hüfte auch noch wegspritzen lassen wollen?
Ja, das gibt es. Das sind so Lifestyle-Anwendungen der Spritze, so nach dem Motto: Ich habe in acht Wochen Sommerurlaub und will dann so und so aussehen. Aber das mache ich nicht mit. Wobei es leider andere Ärzte gibt, die das mitmachen. Davon höre ich immer wieder.
Wie lange müssen wirklich Betroffene die Spritze nehmen?
Tatsächlich ist bis jetzt die Empfehlung lebenslang. Wir empfehlen mindestens zwei Jahre, danach kann man einen Auslassversuch probieren.
Warum zwei Jahre?
Die Epigenetik verändert sich. Wenn man dem Körper zwei Jahre Zeit gibt, die Schlank-Gene anzuschalten, passiert da tatsächlich einiges. Es besteht die Hoffnung, dass man es danach mit dem Essen und dem Sport selbst im Griff hat. Wenn das nicht so ist, muss man die Spritze weiternehmen.
Welche Erfolgsgeschichte freut Sie besonders?
In unseren Kursen hat die Hälfte der Leute, die teilnehmen, einen beginnenden Diabetes oder einen richtigen Diabetes, müssen sich also Insulin spritzen. Das Schöne ist: Das alles geht weg, wenn sie abnehmen. Der Blutdruck ist normal, der Diabetes ist weg. Die Knieschmerzen auch. Ich sehe das massenweise und das macht mich hoffnungsvoll. Darum würde ich auch allen sagen: Trauen Sie sich, wenden Sie sich an einen Spezialisten. Man kann sehr viel tun.
Zur Person
Prof. Dr. med. Thomas Kurscheid ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Adipologe, sowie Sport- und Ernährungsmediziner. Er hat eine eigene Praxis im Kölner Süden und leitet das einzige nicht-operierende Adipositas-Zentrum in Köln. Er ist außerdem Autor zahlreicher Ratgeberbücher.