AboAbonnieren

Kölner Kinderarzt über Eltern„Es ist ganz wichtig, mit den Schuldzuweisungen aufzuhören“

Lesezeit 12 Minuten
Übergewicht schon bei Kleinkindern wird zunehmend zum Problem.

Übergewicht schon bei Kleinkindern wird zunehmend zum Problem. Aber es gibt noch andere Probleme.

Wie denkt ein Kinderarzt über Helikopter-Eltern? Ab wann dürfen Kleinkinder Videos gucken? Welche Ängste haben Eltern? Jörg Dötsch von der Uniklinik Köln im Interview.

Prof. Dr. Jörg Dötsch ist seit 30 Jahren Kinderarzt und seit 2010 ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln. Ein Gespräch über Dr. Google, Eltern-Ängste sowie gute und weniger gute Entwicklungen in der Kindermedizin.

Herr Dötsch, Sie stellen fest, dass die Ängste und Unsicherheiten bei Eltern immer größer werden.

Definitiv. Die Eltern kommen heute öfter mit Problemen, die früher in den Familien gelöst werden konnten. Sie fragen sich viel häufiger, ob sie etwas falsch machen, ihrem Kind ungewollt Schaden zufügen.

Sie können das vollständige Interview auch als Podcast hier im Player oder auf allen gängigen Podcast-Plattformen hören, wenn Sie nach „Talk mit K“ suchen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Eltern kommen jetzt viel häufiger zu uns, weil ihre Neugeborenen schreien. Dabei ist es völlig normal, dass Babys bis zu drei Stunden am Tag schreien, sofern nicht andere alarmierende Zeichen dazu kommen. Viele Eltern verunsichert das aber total, sie glauben, keine guten Eltern zu sein.

Wie haben sich die Eltern noch verändert?

Was ich toll finde: Insgesamt gehen sie sehr viel behutsamer mit ihren Kindern um. Es ist sehr selten geworden, dass Kinder angeschrien werden oder gar geschlagen werden. Gleichzeitig erlebe ich aber, dass Eltern auf ihre Kinder zu hören versuchen, obwohl die noch viel zu jung sind, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Da werden dann Kleinkinder in der Klinik gefragt, ob sie sich schon fit genug fühlen, nach Hause zu gehen. Das ist sicher gut gemeint, projiziert aber eine Verantwortung auf das Kind, die es gar nicht übernehmen kann.

Was verstehen Sie unter dem Begriff Helikoptereltern?

Eltern, denen es schwerfällt, dass ihre Kinder Risiken eingehen müssen, etwa beim Schulweg im Straßenverkehr. Wenn die Vorsicht dahingehend kippt, dass dem Kind kein Lerneffekt mehr genehmigt wird, ist das nicht gut.

Es gibt viel mehr Einzelkinder. Verändert auch das die Eltern?

Vor 100 Jahren hatte man ganz viele Kinder, es war auch Teil der Normalität, dass einige Kinder sterben. Heutzutage gehen wir eher davon aus, dass jedes Kind leben wird und behütet werden muss. Zum Glück ist die medizinische Versorgung viel besser, frühe Kindstode sind selten. Trotzdem ist es nicht hilfreich, wenn einige Eltern ihre Kinder wie Porzellan anfassen.

Rettungssanitäter klagen darüber, dass immer mehr auch bei absoluten Bagatellfällen der Notruf gewählt wird. Machen Sie solche Erfahrungen auch?

Wenn Eltern sich richtig Sorgen machen, obwohl das Problem letztlich minimal ist, wäre ich der Allerletzte, der Eltern dafür maßregeln würde. Aber es gibt Fälle, die mich ärgerlich machen: wenn Eltern den Notdienst rufen, weil sie glauben, kürzere Wartezeiten zu haben oder besser behandelt zu werden.

Google als Zweitdoktor wird immer populärer. Wie macht sich das in Ihrem Alltag bemerkbar?

Meine wichtigste Regel lautet: nicht Dr. Google fragen! Das sage ich Eltern gerade bei schwerwiegenden Erkrankungen. Denn im Internet ist vor allem das interessant, was besonders spektakulär, tragisch und schlimm ist. Das kann Eltern, die gerade eine Diagnose für ihr Kind erhalten haben, unglaublich verunsichern und ihnen die Zuversicht nehmen.

Kennen Sie Fälle, in denen Eltern die Behandlung ihres schwerkranken Kindes ablehnen?

Leider ja. Es gibt wirklich tragische Fälle, in denen Eltern von krebskranken Kindern glauben, eine alternative Behandlung jenseits der schulmedizinischen wählen zu müssen. Als Arzt darf ich so etwas aber nicht nur als ein Versagen der Eltern sehen.

Als was denn sonst?

Auch diese Eltern wollen das Beste für ihr Kind und sind nur nicht sicher, was der richtige Weg ist. Darum sollten wir sie nicht von einer in unseren Augen unwirksamen homöopathischen Therapie abbringen wollen, wenn wir damit das Behandlungsverhältnis gefährden. Manchmal findet sich so ein Kompromiss. Da müssen auch wir Ärzte über unseren Schatten springen.

Und wenn der Kompromiss scheitert?

Manchmal wollen Eltern das Kind in einer Situation mit nach Hause nehmen, in der es wirklich gefährdet ist. Wir klären sie dann darüber auf, dass es gesetzliche Vorschriften gibt. Wir müssen beim Jugendamt oder bei der Polizei vorstellig werden, um die Sicherheit des Kindes zu garantieren.

Die ersten 1000 Tage sind entscheidend. Das ist eine der zentralen Thesen Ihres neuen Ratgebers. Heißt im Umkehrschluss für Eltern auch: Man kann jede Menge falsch machen.

Ich fange erstmal mit den Dingen an, die nicht schädlich sind. Schwangere dürfen die eine oder andere Tasse Kaffee zu trinken. Es kann sogar hilfreich für das Kind sein, weiter Sport zu betreiben. Es ist nicht schädlich, weiter zu arbeiten, solange die Vorschriften des Mutterschutzes eingehalten werden. Aber es gibt natürlich Dinge, die sind ganz klar schädlich sind: Alkohol - und zwar in geringsten Mengen. Also auch ein Glas Kölsch.

Neugeborene mit Fieber sind immer in einer Notfallsituation und sollten gleich in die Klinik kommen
Jörg Dötsch

Was macht die 1000 Tage so entscheidend?

Nie mehr im ganzen Leben teilen sich unsere Körperzellen, also die kleinsten Bausteine, so schnell wie in diesen ersten 1000 Tagen. Nie wieder wachsen wir so schnell und lernen so viel. Und die Gene, die unsere Erbanlagen abbilden, werden durch die Umgebung noch einmal verändert. Wenn die Mutter eine schlecht eingestellte Blutzuckerkrankheit hat, können die Gene des Kindes in der Form verändert werden, dass das Kind später selbst ein erhöhtes Risiko hat, Diabetes zu bekommen. Solche Faktoren können ein Leben lang prägen.

Sie wollen in Ihrem Ratgeber auch mit Mythen aufräumen. Welche halten sich denn hartnäckig?

Dass Fieber in jedem Lebensalter die gleiche Bedeutung hat. Neugeborene mit Fieber sind immer in einer Notfallsituation und sollten gleich in die Klinik kommen. Im schlimmsten Fall können sie eine Hirnhautentzündung haben. Bei Säuglingen bis zum ersten Lebensjahr sollte man immer die Ursache des Fiebers herausfinden, weil das Immunsystem noch zu schwach ist, um mit den Erregern über längere Zeit gut umzugehen. Bei älteren Kindern kann man deutlich gelassener sein. Wenn es keine gravierende Ursache gibt, muss Fieber auch nur dann gesenkt werden, wenn es den Kindern richtig schlecht damit geht.

Die medizinische Entwicklung hat rasante Fortschritte gemacht. Werden die Kinder damit auch immer gesünder?

Was die meisten organischen Krankheiten angeht, können wir viel mehr Kinder retten, die früher nicht überlebt haben – auch wenn das leider noch nicht für alle gilt. Es gibt aber auch neue Erkrankungen, die durch unsere Umgebung ausgelöst werden. Die Pandemie hat dazu geführt, dass viel mehr Ängstlichkeit bei den Kindern entstanden ist. Da sehen wir Erkrankungsbilder, die die wir früher in dem Ausmaß nicht gesehen haben. Auch mit Auswirkungen aufs Essverhalten: Einige Kinder werden übergewichtig, andere untergewichtig. Auch der Umgang mit den digitalen Medien führt zu neuen Problemen: Das Mobbing, das früher nur auf dem Schulhof stattfand, findet jetzt auf anderen Ebenen statt und führt zu schweren Krisen bei Kindern.

Wie groß ist das Problem Adipositas bei Kindern?

Es wird immer größer. Die Zeit, um am besten vorzubeugen, liegt nicht im Schul- oder im Jugendalter, sondern sehr früh. Da sind wir wieder bei den ersten tausend Tagen. Kinder, die schon übergewichtig in den Kindergarten kommen, haben ein erhöhtes Risiko, ihr ganzes Leben lang adipös zu sein. Eins ist mir aber auch hier wichtig: Es ist nicht die Schuld der Eltern und der Kinder, wenn diese übergewichtig oder adipös sind.

Glücklicherweise hat unsere Gesellschaft eingesehen, dass Adipositas eine Krankheit ist
Jörg Dötsch

Wieso nicht?

Glücklicherweise hat unsere Gesellschaft eingesehen, dass Adipositas eine Krankheit ist und keine Störung, bei der Menschen sich nicht zusammennehmen können. Wir müssen sie auch behandeln wie eine Krankheit, wenn sie denn eingetreten ist, mit allen Facetten, die dazugehören. Es reicht nicht, einfach zu sagen: Jetzt iss‘ doch mal weniger, mach mehr Sport.

Haben viele Eltern ein schlechtes Gewissen?

Absolut. Darum ist es so wichtig, mit Schuldzuweisungen aufhören. Die Gene spielen eine ganz entscheidende Rolle. Als Kinder- und Jugendarzt kann man den Eltern Wege der Vorbeugung vermitteln. Wir wissen aber nicht, ob sie immer funktionieren, weil die Gene vielleicht doch so stark sind, dass es trotzdem schwierig wird. Es nicht zu versuchen, ist aber auch keine Option.

Manche Eltern verbieten ihren Kindern Süßigkeiten, andere setzen darauf, dass die Kinder den Umgang selbst lernen. Was sagen Sie?

Gäbe es einen Königsweg, man hätte ihn längst beschrieben. Mir scheint es wie beim Schulweg und dem Straßenverkehr aber besser, die Auseinandersetzung zu suchen, als das Problem zu vermeiden, auch wenn das anstrengender ist für die Eltern. Auf keinen Fall dürfen Süßigkeiten zur Belohnung eingesetzt werden, weil gerade dieser Belohnungseffekt oft zu einem dauerhaften Verlangen führt

Man sieht Kleinkinder häufiger an püriertem Obst in Plastikverpackungen nuckeln. Was sagen Sie dazu?

Viele Menschen denken, Obst ist immer gesund. Das ist leider nicht so. Obst ist besser als direkter Zucker, aber ob eine Frucht gesund ist, hängt immer vom Zubereitungsgrad ab. Das ist genau wie mit veganem Essen: Da denken auch viele, es sei a priori gesund, aber wenn es stark aufbereitet ist und industriell prozessiert wurde, stimmt das nicht.

Sie raten strikt von veganer Ernährung bei Kindern ab.

Ja. Vegetarische Ernährung ist absolut möglich, vegane kann zu schweren Mangelerscheinungen führen.

Haben Sie auch da schon Beratungsresistenz erlebt?

Ich würde Eltern nie sagen, dass es unmöglich ist, ein Kind rein vegan zu ernähren. Wenn man sich unglaublich viel Mühe gibt und das sehr, sehr stark kontrolliert, kann es gehen. Es ist nur rein praktisch wahnsinnig schwierig. Darum dürfen wir das einfach nicht empfehlen. Man darf Eltern als Arzt aber auch hier nie das Gefühl geben, dass sie schlechte Eltern sind. Es ist wichtig, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, sondern einen gemeinsamen Weg zu finden, der dem Kind hilft.

Kleinkinder können sich noch nicht angemessen mit diesen Inhalten auseinandersetzen und sie korrekt verarbeiten
Jörg Dötsch

Mittlerweile haben die Smartphones Einzug in die Kinderzimmer gehalten. Welche Probleme beobachten Sie?

Immer mehr Eltern bringen schon ganz kleine Kinder mit Medien in Kontakt, auch, weil sie sich manchmal nicht anders zu helfen wissen. Die Industrie hat sich darauf eingestellt, produziert Sendungen schon für ganz kleine Kinder. Wir empfehlen klar, dass bei unter Dreijährigen nicht zu tun. Auch wenn die Kinder älter sind, sollte man ihnen enge Grenzen setzen und über die Inhalte reden, die sie gesehen haben.

Warum ist schon kurzer Konsum problematisch?

Wenn Sie einem Kind etwas vorlesen, sind Sie direkt in Interaktion mit ihm und merken, wie es reagiert. Diesen Überblick verlieren Sie, wenn Sie das Kind im Kinderwagen oder am Restaurant-Tisch Video schauen lassen, vielleicht sogar noch mit Kopfhörern. Die Kontrolle darüber, was die Kinder wirklich empfinden, geht völlig verloren. Kleinkinder können sich noch nicht angemessen mit diesen Inhalten auseinandersetzen und sie korrekt verarbeiten.

Selbst, wenn die Inhalte völlig harmlos sind?

Das können Kinder anders empfinden. Ein persönliches Beispiel: Als meine Kinder fünf oder sechs waren, durften sie auf der Autofahrt in den Urlaub Benjamin-Blümchen-Videos gucken. In einem Video purzelten drei kleine Löwenbabys aus einem Käfig. Plötzlich fingen die Kinder an zu weinen. Und wir dachten, wir tun ihnen etwas Gutes, damit sie sich auf der Autofahrt nicht langweilen. Wir haben uns dann gesagt: Das machen wir nicht mehr. Sie sehen: Auch ich habe als Vater nicht alles richtig gemacht.

Wir denken oft zu sehr aus der Sicht der privilegierten Eltern
JÖrg Dötsch

Unlängst haben 300 Forscher und Experten für frühkindliche Bildung davor gewarnt, dass Stress in der Kita durch zu wenig Betreuung das Kindeswohl gefährden könnte. Wie sehen Sie das?

Der Mangel an Fachkräften ist ein großes Problem, eine angemessene Betreuung ist wichtig. Kitas bergen eine unglaubliche Möglichkeit für mehr Chancengerechtigkeit. Nicht alle Menschen können ihren Kindern all das vermitteln, was andere können. Wir denken oft zu sehr aus der Sicht der privilegierten Eltern. Das hat man auch in der Pandemie gesehen, als die Schulen geschlossen waren. Privilegierte Eltern konnten ihren Kindern vieles ersparen, was andere Kinder erleiden mussten. Wir brauchen immer einen Blick auf diejenigen, die es noch nicht geschafft haben, den Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu finden. Das ist heute wichtiger denn je angesichts zunehmend extremistischer Positionen, falscher Informationen und den wirklich beunruhigenden Wahlergebnissen.

Sie waren Mitglied der Corona-Expertenrat der Bundesregierung. Beobachten Sie, dass generell die Impfskepsis zugenommen hat?

Die Corona-Impfung hat die Polarisierung beim Impfen definitiv verstärkt. Die meisten Menschen, sind aber keine prinzipiellen Impfgegner, sondern wirklich nur skeptisch. Sie wollen ehrliche Antworten. Es wäre unehrlich zu sagen, dass eine Masernimpfung keine schweren Nebenwirkungen haben kann. Das kann in seltenen Fällen vorkommen. Sehr viel wahrscheinlicher ist bei Nicht-Impfung aber eine Erkrankung, die zu schweren Folgen führt. Wenn Eltern für ihr Kind da nicht richtig entscheiden können, müssen wir auch in diesen Fällen als Ärzte dem Gesetz folgen.

Prof. Jörg Dötsch ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.

Prof. Jörg Dötsch ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.

Die Corona-Pandemie war sehr einschneidend für Kinder und Jugendliche.

Definitiv. Hinterher ist man immer klüger, aber man muss auch aus den Fehlern lernen. Wir dürfen nie wieder Situationen entstehen lassen, in denen wir so spät erkennen, was mit den Kindern passiert. Die Politik hat das verstanden, darum hat sie Kinder- und Jugendärzte in den Corona-Expertenrat geholt  . Wir sind jetzt auch gemeinsam mit Kinder- und Jugendpsychiatern in dem neuen Expertenrat der Bundesregierung vertreten, der sich mit Gesundheit und Resilienz beschäftigt.

Was bringt Sie an Ihre Grenzen als Arzt?

Wenn ich mit Eltern nicht zusammenkomme. Das macht mir immer zu schaffen. Und als jemand, der ja auch im Management tätig ist, ist es für mich schwer gewesen zu sehen, dass die ambulante und stationäre Kinder- und Jugendmedizin in unserem Gesundheitssystem lange als Anhängsel behandelt wurde. Wie kann es sein, dass man Kindern so wenig Aufmerksamkeit und Geld zubilligt? Das Gesundheitsministerium hat das jetzt aber erkannt. Ich bin im Moment zuversichtlich, was die Zukunft der Kinderversorgung angeht.


Zur Person und zum Buch

Prof. Dr. Jörg Dötsch ist seit 30 Jahren Kinderarzt. Seit 2010 ist er Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln. Zusammen mit der Journalistin Johanna Schoener hat er jetzt einen medizinischen Ratgeber für Eltern kleiner Kinder veröffentlicht. „Großwerden“ ist im DuMont-Verlag erschienen. Ein Gespräch.