Kolumne „Durch meine Brille“Ich will, dass man mir alles verbietet
- Unser Autor Frank Nägele reflektiertet sein Verhalten und Konsum und kommt zu dem Schluss, dass es noch viel zu optimieren gibt.
- Selbst wenn man ein bewusstes Leben führt, hätte sich die Welt wohl so ausbeuterisch entwickelt, wie sie heute ist.
- Mit einem elften Gebot „Du sollst diese Welt und das Leben in ihr nicht zerstören" hätten die Menschen bei der Ausbeutung aber wohl schneller ein schlechtes Gewissen gehabt.
- Eine neue Folge der Kolumne „Durch meine Brille“.
Köln – Ich habe heute schon wieder vieles falsch gemacht: Nach dem Aufstehen zu lange geduscht, einen Kaffee aus ausbeuterischer Erzeugung getrunken, zu billige Butter auf mein ökologisch unsauberes Brot geschmiert, eine Wurstscheibe darauf gelegt, für die ein Schwein sterben musste, meine unter verbrecherischen Umständen gefertigte Kleidung angezogen und dann im Auto zur Arbeit gefahren. Alleine.
Zu meiner Entschuldigung habe ich anzuführen: Das alles ist erlaubt. Es verstößt gegen kein Gesetz. Diese für das Überleben des Planeten schädlichen Verhaltensweisen befinden sich sogar ausdrücklich im Einklang mit dem einzigen System, in dem wir zu leben gelernt haben – dem System des Verbrauchens und Bezahlens, von Angebot und Nachfrage, von Wachstum und Steigerung. Von meinen zweifelhaften Aktivitäten an diesem Morgen leben Menschen mehr oder weniger gut. Die gesellschaftliche Diskussion des ökologischen Erwachens trägt dem keine Rechnung. Sie erzeugt den Eindruck, als liege die Lösung in der freiwilligen Wahl des Richtigen und die Schuldfrage sei eine individuelle Angelegenheit. Ich sehe das anders.
Vom Regulierungswahn kann ich nichtsde mehr hören
Man muss mir alles verbieten, was nachweislich schädlich ist und die Welt dem Untergang näherbringt. Den Einwand des angeblichen Regulierungswahns, der uns das Leben verleide, kann ich nicht mehr hören. Um es einmal christlich zu formulieren: Wenn Gott geglaubt hätte, dass man diese Menschheit sich selbst und ihrem eigenen freien Willen überlassen könne, hätte er ihr wohl kaum die Zehn Gebote hinterhergeschickt.
Mehr moralische Regulierung als diese Befehle zu respektvollem Miteinander ist nicht denkbar. Niemand, nicht einmal ein überzeugter Atheist, käme auf die Idee, ihre gesellschaftliche Gültigkeit grundsätzlich in Frage zu stellen, auch wenn es der Menschheit nachgewiesenermaßen nicht möglich ist, sie ungebrochen zu lassen.
Leider war es lange nicht vorstellbar, dass der Mensch irgendwann in der Lage sein würde, durch seine Lebensweise die ökologische Grundlage der Welt zu zerstören, sonst wäre auch das heute fehlende elfte Gebot formuliert worden: „Du sollst diese Welt und das Leben in ihr nicht zerstören.“
Gebot für eine andere Welt
Ich behaupte, dass die Erde mit diesem Gebot heute anders aussähe. Die Menschheit hätte es selbstverständlich genauso verletzt, wie sie es mit allen anderen Geboten durch ihre Gier, ihren Expansionsdrang und ihren Egoismus getan hat. Aber sie hätte schon seit tausenden Jahren ein viel schlechteres Gewissen dabei haben und Wege aus dem moralischen Dilemma finden müssen. Ich bin mir sicher, dass die Gesetze, die ich mir jeden Tag wünsche, dann seit langer Zeit existieren würden.
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Wenn es kein fossile Energie verbrennendes Auto mehr gibt, mit dem ich meinen individuellen Fortbewegungsdrang ausleben kann, werde ich auch keines benutzen. Wenn die Dusche nicht willig heißes Wasser ausspuckt, solange ich sie aufdrehe, werde ich mich mit dem bescheiden, das zur Verfügung steht. Wenn im Supermarktregal keine exotischen Früchte mehr liegen, deren Namen ich nicht einmal aussprechen kann, werde ich nicht in Versuchung geraten, sie zu kaufen.
Wenn ich irgendwann wie jeder andere Mensch ein persönliches Energiekonto zur Verfügung habe, werde ich mit ihm auskommen, wie ich erstaunlicherweise mehr als fünf Jahre lang in der Lage war, nicht mehr zu fliegen, weil eine blöde Herzrhythmusstörung mir die Lust daran genommen hat.
Gesellschaftsform ohne Wachstums-Gedanke wurde noch nicht erfunden
Jeder Mensch, dem es möglich ist, aus eigenem Antrieb vorbildlich zu leben, um dem Planeten zu helfen, ist ein Segen für alle. Damit meine ich nicht, sagen wir einmal, den Verzicht auf den Konsum von Fleisch bei gleichzeitiger Unterstützung von Lebensmitteln, deren Anbau ökologisch katastrophale Folgen hat. Die Menschheit wird nicht mit Avocados, Nüssen und Soja überleben können. Es gibt diese vorbildlichen Menschen, die das Richtige selbst tun, aber ihre Zahl wird nicht groß genug werden, um das Problem zu lösen.
Der Ausweg liegt im Weniger. Ein anderer Trick ist auch bei großen Fortschritten in umweltfreundlicher Technologie für mich nicht denkbar, weil auf dieser Welt nicht genügend Energie vorhanden ist, damit alle Menschen so leben können wie wir im Westen hier und jetzt. Eine funktionierende Gesellschaftsform, die nicht auf dem Prinzip des Wachstums fußt, ist aber noch nicht erfunden worden. Selbst wenn sie über Nacht verfügbar wäre, müssten sie und ihre Repräsentanten von einer Mehrheit gewählt werden. Hier stößt die Demokratie an ihre Grenzen. Wir müssten Instanzen rufen, die uns untersagen, so weiterzumachen wie bisher.
Das elfte Gebot wäre dabei eine Hilfe. Die Frage, ob wir in der Lage sind, es uns nachhaltig und konsequent selbst aufzuerlegen, obwohl es weder in der Bibel, noch im hebräischen Tanach steht, wird über den weiteren Weg der Menschheit entscheiden. Und ich lasse morgen einfach mal die Wurst weg.