- Die Kölner Jura-Professorin hält eine allgemeine Impfpflicht für nicht gerechtfertigt.
- Im Interview erklärt die 36-Jährige ihre Ablehnung.
- Länder mit Impfpflicht wie Tadschikistan, Turkmenistan oder der Vatikanstaat sollten kein Vorbild für Deutschland sein.
Frau Professorin Rostalski, die „Impfpflicht“ hat es auf Platz 4 der „Wort des Jahres“-Liste 2021 geschafft. Ist der Begriff für Sie auch ein heißer Kandidat für das Unwort des Jahres?Frauke Rostalski: Unwort? Wieso? Die öffentliche Debatte läuft im Moment doch rasant auf eine allgemeine Impfpflicht zu. Mein Eindruck ist, dass sich viele Stimmen geradezu nach einer solchen sehnen. Also, wenn überhaupt, dann hat „Impfpflicht“ das Zeug, eines der Worte zu werden, die für das Jahr 2021 – und womöglich noch lange darüber hinaus – als Charakteristikum stehen.
Hat unsere Gesellschaft ein Problem mit der „Pflicht“?
Meiner Ansicht nach sind wir eine Gesellschaft, die sehr gut mit Pflichten zurechtkommt. Ich glaube, die Tradition der Aufklärung und des Philosophen Immanuel Kant, für den Pflicht eine entscheidende Kategorie ethischen Handelns ist, wirkt tatsächlich bis heute weiter. Das zeigt nicht zuletzt die Corona-Pandemie. Die Bevölkerung hat sich in großem Umfang an die diversen Schutzmaßnahmen gehalten, seien es Ausgangssperren, Kontaktverbote oder Einschränkungen im Freizeitverhalten. Wie sollte man da auf die Idee kommen, dass unsere Gesellschaft Probleme damit haben sollte, Pflichten zu akzeptieren und sich an sie zu halten
Bei genauem Hinsehen sind wir ständig mit irgendwelchen Pflichten konfrontiert.
Eben. Pflichten sind für den Menschen etwas Wesentliches. Ohne Pflichten funktioniert kein Gemeinwesen. Pflichten liegen sozusagen am Beginn unserer Freiheit. Sie stehen aber auch in einem Spannungsverhältnis. In einer liberalen Gesellschaft darf die Freiheit nur so weit eingeschränkt werden, wie es zur Gewährleistung größtmöglicher Freiheit aller erforderlich ist. Freiheit ist auf Sicherheit angewiesen und damit auf Pflichten der anderen. Freiheit kann aber auch durch zu viel Sicherheitsstreben und mit endlosen Pflichtenkatalogen erstickt werden. Auch deshalb gilt: Pflichten müssen sich legitimieren.
Nehmen wir mal die Helmpflicht für Motorradfahrer oder die Anschnallpflicht im Auto. Da ist die Legitimation klar: der Schutz des Einzelnen.
Frauke Rostalski, geboren 1985, ist geschäftsführende Direktorin des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität zu Köln. Im Januar 2018 wurde sie dort auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung berufen.
Rostalski studierte Rechtswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg und promovierte dort von 2009 bis 2011. Im Anschluss an ihre zweite juristische Staatsprüfung 2013 verbrachte sie Forschungsaufenthalte an der Nanjing Universität (China) und der Seoul Universität (Korea). 2017 promovierte sie auch im Fach Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. (jf)
Nicht nur. Beide Pflichten – Helm tragen, Gurt anlegen – bewahren bei einem Unfall auch den Unfallgegner davor, dass dem anderen ein vermeidbarer größerer Schaden entsteht. Konkret: Es nimmt mich doch auch mit, wenn jemand bei einem Unfall durch mich verletzt wird. Der Straßenverkehr ist nun mal eine gefährliche Sphäre. Und auch bei größter Umsicht ist niemand dagegen gefeit, in einen Unfall verwickelt zu werden. Also haben die Schutzpflichten hier immer eine beidseitige Wirkung.
Haftpflichtversicherung oder obligatorische Krankenversicherung?
Auch daran hat die Gemeinschaft ein ureigenes Interesse, weil die Einzelnen schnell überfordert sein können, wenn sie zum Beispiel die Behandlungskosten einer schweren Erkrankung aus der eigenen Tasche zahlen müssten.
Mit der Legitimation der Impfpflicht tun Sie sich schwerer?
Der Zusammenhang ist ganz einfach: Pflichten, die sich mit guten Gründen rechtfertigen lassen, rufen prinzipiell bei den Menschen eine Bereitschaft hervor, sich daran zu halten. Das sehen wir klassisch im Strafrecht: Alle Bürger sind aus gutem Grund verpflichtet, das Lebens- oder Eigentumsrecht Dritter zu wahren – also niemanden umzubringen oder zu bestehlen. Wer dagegen verstößt, wird bestraft. Das wird kaum jemand bezweifeln – wahrscheinlich noch nicht einmal der Dieb, der erwischt und verurteilt wird.
Das könnte Sie auch interessieren:
Bei der Impfpflicht ist es anders?
Eine allgemeine Impfpflicht gibt es derzeit in Tadschikistan, Turkmenistan und neuerdings auch im Vatikanstaat. Ich weiß nicht, ob das für uns die Vorbilder sein sollten. Nun will auch die Regierung in Österreich eine undifferenzierte, allgemeine Impfpflicht, die zu wiederholten Impfungen nach nur wenigen Monaten verpflichtet und – wie man aus der Presse entnehmen kann – unter drakonischen Bußgeldandrohungen durchgesetzt werden soll. Die Euphorie, mit der eine derart brachiale Maßnahme nun teilweise in der deutschen Diskussion aufgenommen wurde, ist nur schwer nachvollziehbar. Auch ist zu beobachten, dass der Streit darüber mehr und mehr zu Schieflagen führt.
Welche Schieflagen sehen Sie?
Wer behauptet, Gegner einer allgemeinen Impfpflicht hätten ein Problem mit bürgerlichen Pflichten, tut so, als wären das pflichtvergessene Leute, die sich per se nicht an Regeln halten wollten. Oder sich per se nicht impfen lassen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Es geht um ein Gespür, dass der Staat zu weit geht. Er legt den Bürgerinnen und Bürgern eine Pflicht auf, die – vorsichtig gesagt – fragwürdig ist. Sich dagegen zu verwahren, entspricht gerade einer tiefen Überzeugung vom Recht und seiner Geltung. Dafür muss man übrigens noch nicht einmal Jurist oder Juristin sein. Güterabwägungen kann jeder und jede Einzelne vornehmen.
Und wie geht die Güterabwägung bei der Juristin Rostalski aus?
Eine Impfpflicht für alle - unabhängig vom individuellen Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung - lässt sich nicht rechtfertigen. Wenn es uns mit der Impfpflicht darum geht, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen, müssen wir mit Orientierung am verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei denjenigen ansetzen, die einem besonderen Risiko ausgesetzt sind, infolge einer Corona-Infektion intensivmedizinisch behandelt werden zum müssen.
Laut dem Divi-Intensivregister sind das weit überwiegend ältere Menschen.
84 Prozent sind älter als 50, 63 Prozent älter als 60 Jahre. Dann drängt sich doch auf, dass man genau diese Menschen schützen muss, um eine Überlastung des Gesundheitssystems auszuschließen. Es erscheint mir keine Rechtfertigung möglich, Menschen zur Impfung zu verpflichten, die ein erheblich geringeres Risiko aufweisen, intensivpflichtig zu werden. Ihnen ist nach den Stiko-Empfehlungen anzuraten sich zu schützen. Verpflichten kann man sie nicht.
Was stört Sie noch?
Mich erschreckt im Moment das Reden übereinander, ein Freund-Feind-Diskurs, der sich am Impfstatus des Gegenübers manifestiert. Jens Spahn hat am Beginn der Krise gesagt, dass wir einander am Ende vieles zu verzeihen haben werden. Angesichts von verbalen Attacken auf eine „Tyrannei der Ungeimpften“ oder ein „Freiheitsgesäusel“ frage ich mich ernstlich, wieviel eine Gesellschaft noch vertragen kann. Der Schritt zu einer allgemeinen Impfpflicht dürfte die Spaltung der Gesellschaft noch einmal in einer Weise vertiefen, die mich auch fragen lässt, wie hier am Ende wieder Brücken gebaut werden sollen.
Gut, „Freiheitsgesäusel“ ist despektierlich. Die Frage, die sich hinter dieser Wortwahl von Weltärzte-Präsident Frank-Ulrich Montgomery verbirgt, lautet ja: Übertreiben wir es vielleicht mit der Freiheit?
Im Gegenteil: Wer ein Bewusstsein für die Bedeutung individueller Freiheit hat, hat eine wesentliche Grundfähigkeit, um in der Gesellschaft Verantwortung auch für andere zu übernehmen. Ich begreife dann auch die anderen als Personen, denen ihre individuelle Freiheit zusteht. Das schafft nicht zuletzt Respekt im Umgang miteinander. Zugleich wird klar, dass individuelle Freiheit stets in Abhängigkeit von anderen steht. Daher müssen wir in Aushandlungsprozesse eintreten, um die Grenze unserer persönlichen Freiheit abzustecken. Wer aber gar nicht erst den Wert individueller Freiheit versteht, gelangt nur schwer an diesen Punkt – die Gefahr besteht dann aus meiner Sicht vor allen Dingen in einer unreflektierten Übernahme äußerer Vorgaben.
Andere Kulturkreise bestimmen die Relation zwischen Gesellschaft und Individuum mit seinen Ansprüchen und Verpflichtung ganz anders als wir.
Das ist richtig und darüber sollte man sich auch kein Urteil bilden. Die Ansichten, was der Einzelne der Gesellschaft schuldet, weichen innerhalb unserer Gesellschaft ganz erheblich voneinander ab. Ich für meinen Teil ziehe mich da auf das Recht zurück.
Das heißt?
Jeder sollte seine eigenen Moralvorstellungen pflegen dürfen. Unsere Verfassung stellt allerdings den einzelnen Menschen und dessen Freiheitssphäre in den Mittelpunkt. Eingriffe in diese Freiheit unterliegen einer hohen Rechtfertigungspflicht des Staates. Insbesondere ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren.
Findet unter der Hand eine Begriffsverschiebung von der Pflicht zum Zwang statt?
Nein. Pflicht und Zwang sind zwei Paar Schuhe. Es gibt rein moralische Pflichten, die nicht mit Zwang durchgesetzt und deren Verletzung nicht geahndet werden kann. Und es gibt rechtliche Pflichten, zu deren Durchsetzung der Zwang sozusagen an die Pflicht anknüpft. Was nun gerade bei der allgemeinen Impfpflicht stattfindet, ist die Verschiebung von einer moralischen zu einer rechtlichen Pflicht, die dann mit einem Bußgeld bewehrt zum Zwang würde.
Und diese Pflicht halten Sie, um Ihren Begriff aufzunehmen, für nicht legitimiert?
Wenn andere Länder ohne Impfpflicht in der Corona-Krise besser fahren als Deutschland, stellt sich automatisch die Frage: Hat der deutsche Staat wirklich schon alle Instrumente in die Hand genommen, bevor er zur Keule einer Impfpflicht greift? Und da würde ich sagen: Nein. Aber auch unabhängig davon: Eine Impfpflicht für diejenigen, die kein erhöhtes Risiko aufweisen, mit Covid-19 auf der Intensivstation zu landen, lässt sich aus meiner Sicht generell nicht rechtfertigen.