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„Ich habe vor nichts Angst“Auschwitz-Überlebende Philomena Franz im Interview

Lesezeit 15 Minuten
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Philomena Franz (99)

  1. Der Großteil ihrer Familie ist von den Nazis ermordet worden. Philomena Franz, geboren am 21. Juli 1922 in Biberach, hat die Konzentrationslager von Auschwitz und Ravensbrück überlebt.
  2. Was war und nie wieder geschehen darf, hat sie bis zur Corona-Krise immer wieder an Schulen erzählt.
  3. Wie sie vor den Gaskammern stand. Wie sie menschliche Asche aus den Krematorien schaufeln und für die SS-Schergen singen musste.
  4. Ein Interview mit der Überlebenden.

Bergisch Gladbach – Im Sommer ist Franz zur Ehrenbürgerin von Bergisch Gladbach ernannt worden. Der Schriftsteller Matthias Buth hat das Philomena-Franz-Forum gegründet, um die Kulturgeschichte der Sinti ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, ihre Zugehörigkeit zu Deutschland und ihre Jahrhunderte währende Verfolgung und Stigmatisierung.

Den „Kölner Stadt-Anzeiger“ empfängt Franz in ihrer Wohnung in Bergisch Gladbach. Sie trägt ein langes Kleid und ein Lächeln im Gesicht, ihre Stirn ist glatt, fast alterslos. Die Erinnerung lebt.Frau Franz, Sie werden nächstes Jahr 100 Jahre alt. Wie geht es Ihnen heute?

Philomena Franz: Prächtig, muss ich sagen. Heute ist ein guter Tag. Wenn ich morgens aufwache und habe den Kopf frei, ist das gut. Ich habe heute gar nicht mit Ihnen gerechnet, obwohl Sie sich angemeldet haben. Eine alte Frau ist kein D-Zug. (lacht)

Hinter uns liegt eine schwere Zeit mit der Corona-Krise. Wie ist es Ihnen, die weit Schlimmeres erlebt haben, in der Krise ergangen?

Gut, eigentlich. Ich bekomme meine Rente, ich bin geimpft, es ist alles paletti. Ich habe auch noch Vorträge in Schulen gemacht lange. Zuletzt ging das leider nicht mehr so.

Hatten Sie Angst vor dem Virus?

Ich bin kein ängstlicher Mensch. Ehrlich gesagt, habe ich vor nichts Angst. Ich habe Dinge erlebt, die etwas schlimmer waren als Corona. Vor Corona kann man sich ja schützen. Mit Mundschutz, zum Beispiel, den kann man auch in den Schulen tragen. Als mein Sohn gestorben ist, das war schlimm. Da habe ich mich gefragt: Wozu machst du das alles noch? Es war mein letztes von fünf Kindern, das gestorben ist.

Der Glaube gibt ihr Kraft

Alle fünf Kinder sind tot. Sie haben unglaublich viel Leid erfahren. Woher nehmen Sie die Kraft und den Lebensmut?

Wenn ich sage: Ich glaube an Gott, sagen viele: die ist bigott. Aber ob Sie es glauben oder nicht: Ich habe im Konzentrationslager gebetet. Das hat mir Kraft gegeben, mich beruhigt. Weil ich wusste, Jesus Christus hat auch viel durchgemacht, und musste viel über sich ergehen lassen.

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Philomena Franz

Nur ganz wenigen ist es vergönnt, so alt zu werden. Beschäftigen Sie sich damit? Mit Ihrem Tod?

Da denke ich gar nicht dran. Ich habe so viel Unrechtes durchgemacht, da habe ich unterscheiden gelernt zwischen Gut und Böse. Ich wusste damals: Der Satan ist los. Was war das für eine Regierung? Hitler war ein Idiot! Der hatte nicht mal ein Studium!

Haben Sie ein bestimmtes Ritual, um sich an Ihre Familie zu erinnern?

Ich bete für sie und zünde Kerzen an. Da an der Wand sehen Sie die Madonna. Heute habe ich die Kerze leider vergessen. Ich glaube an Gott, an die Liebe. Denn wenn wir hassen, werden wir vom Hass umrahmt, dann ist man verloren. Wenn wir hassen, verlieren wir. Die Liebe macht uns reich. Das ist herrlich.

Von Liebe und Hass

Haben Sie gehasst, als Sie im Lager waren?

Das kam im KZ automatisch. Wenn ich da nicht gehasst hätte, wäre ich ein Engel gewesen. Wenn die mich wieder durchgeprügelt und gedemütigt haben. Eine Wärterin war allerdings gut zu uns, sie wurde fast zu einer Freundin. Die war ein Engel. Sie war ungefähr so alt wie ich, 21, ich war 19. Irgendwann sagte sie zu mir, wir waren in einem Keller und ich hatte ein Lied gesungen: Komm mal hoch! Alle hatten Angst um mich, aber sie sagte: Du kannst so schön singen. Sing mir doch mal das Lied: Heimat deine Sterne. Das war ein Soldatenlied, ein 0815-Lied.

Und dann haben Sie dieses Lied öfter gesungen.

Wenn das Mädchen Dienst hatte, habe ich das gesungen. Weil sie Heimweh hatte. Ich sollte sie trösten. Sie kam mit einem Kommissbrot, das haben wir dann verteilt. Ich konnte das ja nicht allein essen. Für uns war das eine Delikatesse.

Kindheitserinnerungen

Sie sind 1922 geboren. Ihr Vater war königlicher Hofmusiker, Sie waren sehr privilegiert. Wie ist Ihre Erinnerung an Ihre Kindheit?

Die war fantastisch. Wir hatten ein großes Haus, mein Großvater war Cellist, wir lebten in der Gegend des königlichen Schlosses. Die Aristokraten spazierten bei uns vorbei, wenn wir musizierten, einer sagte zu meinem Großvater: Würden sie auch mal fürs Königshaus spielen? Natürlich Euer Ehren, sagte er. Seitdem verkehrte meine Familie am Königshaus. Die Prinzessin verliebte sich unsterblich in meinen Onkel. Uns ging es gut.

Was waren Sie für ein Kind?

Meine Mutter hat mir Töpfe gekauft, eine Spielküche. Ich sollte kochen lernen. Habe ich auch. Aber ich war auch stur und nicht angepasst. 1933, als es losging, war ich ein kleiner Pinsel. Ich habe früh gelernt, zu sehen, wer ein Nazi war und wer nicht. Es gab auch andere, die zu uns gehalten haben. Wir hatten Hühner, unser Haus in Bad Canstatt lag an einem Weinberg, wir haben trotz kleiner Lebensmittelrationen nie gehungert. Als ich schon älter war, wurden wir vermessen, vom Erkennungsdienst, es kam eine Rassen-Sippenforscherin, wir durften nicht mehr den Wohnort verlassen. Diese Frau war ein Satan.

Die Frau hat Sie untersucht?

Die musste an uns forschen. Wo wir herkommen. Sie sagte: Mach mal den Mund auf! Ich sagte: Das mache ich nicht. Für Sie nicht! Ich habe mir nichts gefallen lassen. Meine Mutter sagte: Bist Du verrückt, Du bist die Erste, die wegkommt. Du bist nicht diplomatisch genug. Wir haben keine Rechte mehr in diesem Land. Ich habe der Frau gesagt, sie soll meine Mutter nicht anrühren.

Immer wieder betont Philomena Franz, dass ihre Familie zu den privilegiertesten Menschen überhaupt gehörte. Dass sie stolz darauf ist, Sinti zu sein. Nach dem Krieg sei sie nach Indien gereist, auf den Spuren ihrer Ahnen, und habe herausgefunden, dass ihre Familie zur höchsten Kaste gehört habe. Sie wolle sich nicht über andere erheben, sagt sie wieder und wieder, aber wir waren privilegiert! Als könne sie es dadurch noch weniger begreifen, dass ihre Familie von den Nationalrassisten als „nicht lebenswert“ kategorisiert wurde. Immer wieder erzählt sie auch von ihrem Bruder, der in der deutschen Armee diente.

Eines Tages rief mein Bruder mich an, er habe einen Splitter am Auge, er sei in einem Lazarett. Ich habe sofort gesagt, dass ich ihn besuche. Bist Du verrückt, hat meine Mutter gesagt, wir dürfen die Stadt nicht verlassen. Ich habe ihn trotzdem besucht. Ich musste meinen Bruder sehen.

War es das letzte Mal, dass sie ihn sahen?

Nein, er hat neben mir als einziges von sieben Geschwistern überlebt.

In Auschwitz

Sie sind 1943 nach Auschwitz deportiert worden. Können Sie sich noch daran erinnern, wie das war?

Mit dem Viehwagen war das. Der war vollgestopft mit Menschen, von Jungen, Kindern, bis zu ganz Alten. Hinten im Waggon saß eine alte Frau, die jammerte erbärmlich, die ist auf der Fahrt gestorben. Die wurde tot rausgeholt. In Auschwitz kam dann die SS.

Und dann?

Die SS-Leute schrien „Raus, Raus, Raus!“ Ich habe die Wächterin darauf aufmerksam gemacht, dass da jemand liege, der tot ist. Ich glaube, ich habe es der gleichen jungen Frau erzählt, die später zu meiner Vertrauten wurde.

Die Frau, der sie vorgesungen haben?

Ja, ich glaube schon. Irgendwann erzählte sie mir, dass ihr Vater ein Nazi sei und sie eigentlich nicht hier sein wolle, sie eine andere Richtung gehabt hätte. Da sagte ich ihr: Dann bist Du meine Freundin. Da sagte sie: Mein Freund ist draußen an der Front, ich weiß nicht, ob er noch lebt. Und ich sagte: Mein Bruder ist auch an der Front, ich weiß auch nicht, ob er noch lebt.

War die Frau eine Art Rettung für Sie?

Eine von vielen. Sie kam immer, wenn sie Dienst hatte, mit Brot, manchmal sogar mit Margarine drauf. Mohrrüben dazu, ich bekam fast immer etwas zu essen. Und ich sollte singen. Ich habe der Frau dann erzählt, dass ich schon mit sechs Jahren auf der Bühne stand und solo getanzt habe, sie hat auch von ihrer Kindheit erzählt.

Von der jungen Wärterin erzählt Philomena Franz oft. Genau wie von dem Chef in einem Arbeitslager, der ihr gesagt habe. „Wenn ich Dienst habe, kannst Du abhauen“. Oder von einem Mann, der sie nach einem Fluchtversuch bewusstlos im Wald fand und bei sich aufnahm. Sie spricht viel über Menschen, die ihr halfen. Über Freunde damals und heute.

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Die Tätowierung, die die Nazis ihr im KZ in den Arm stachen, ist noch heute zu sehen.

Sie haben in Auschwitz eine Nummer eintätowiert bekommen, die Z10550, war das direkt am ersten Tag? Wie lief das ab?

Wir sind raus aus den Waggons, mussten uns aufstellen, und gingen schrittweise zum Hauptlager. Als die Leute, die rauskamen, ihre Tätowierungen zeigten, dachte ich: Ok, wir kommen hier nicht mehr raus. Dass wir zu Nummern wurden, war grausam. Das hat unglaublich wehgetan. Mit einer Feder haben die das gemacht, tschick, tschick, tschick. Aber ich muss sagen, dass es dort auch Menschen gab, die gegen Hitler waren.

An wen erinnern Sie sich noch?

An einen Mann, der mich aufgenommen hat, als ich aus einem anderen Lager geflüchtet bin. Ich habe Flugzeugteile hergestellt im Akkord, ich konnte ganz gut rechnen, das haben die gemerkt, deswegen konnten sie mich gebrauchen. Das war immer wichtig: für irgendwas gebraucht zu werden. Und dass ich singen konnte, das hat vielen gefallen.

„Als ich gesungen habe, habe ich innerlich gezittert“

Sie haben auch grausame Menschen getroffen, wie den berüchtigten Schlächter Joseph Mengele, den KZ-Arzt.

Es hieß: Wir kriegen hohen Besuch! Die haben draußen für die SS-Leute Tribünen aufgebaut. Die Insassen, die spielen konnten, sollten Musik machen. Mengele, der größte Mörder aller Zeiten, war sehr musikalisch. Wir haben das übrigens auch unten in der Baracke gerochen, wenn die Leute oben durchs Gas gegangen sind und verbrannt wurden. Als ich gesungen habe, habe ich innerlich gezittert.

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Philomena Franz berichtet Schülern von der Nazi-Zeit. Hier im Gymansium Herkenrath.

Weil sie Angst hatten.

Klar hatte ich Angst. Der hat einen zertreten, wie es ihm gefiel. Aber ich sollte dann noch andere Lieder singen. Wie kann ein Mensch Mörder sein, der so musikalisch ist? Der war nicht normal, der hatte eine Macke. Ich dachte, er lässt mich singen und danach gehe ich durch den Kamin. So ging es vielen Musikern. Ich hatte Glück.

Es gibt in Ihrer Biografie zwei Szenen, die besonders schwer erträglich sind. Einmal stehen Sie in der Schlange vor der Gaskammer.

Wir sind frühmorgens aus der Baracke rausgetrieben worden, Raus, raus, raus!, schrien sie, und mussten dahin marschieren. Ich habe ein kleines Kind in der Schlange unter meinen Rock genommen. Ich habe gesagt: Du gehst nicht durch den Kamin: und wenn, dann gehst du nicht allein. Wir waren schon fast oben, als ich das Kind genommen habe. Das Kind ist ganz ruhig geblieben.

Und dann haben Sie dem Wärter zugerufen, dass Sie Deutsche sind.

Viele waren schon drin. Ich habe gesagt: Mein Bruder ist Soldat bei den 111ern, ich lüge nicht. Man sagt doch, die Wehrmachtsangehörigen werden anders behandelt hier. Und der Wärter hat gemerkt, dass ich die Wahrheit sage. Wer das Kind sei, hat er gefragt? Mein Enkelkind, habe ich gesagt, da hat er gemerkt, dass ich lüge, ich war ja viel zu jung. Aber er hat gelacht. Ich glaube, es war Gottes gnädige Führung. Der liebe Gott hat einen Strich gemacht und gesagt: Es ist genug. Abtreten, hieß es, abtreten, abtreten. Ich wurde dann verpflichtet für die Fabrik, weil ich lesen und schreiben und rechnen konnte.

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Was für eine Arbeit war das?

Für Flugzeugmotoren, diffizile Arbeit. Wir mussten mit der Pinzette Drähte einführen. Da habe ich lange gearbeitet. Ich habe Glück gehabt, einfach Glück gehabt. Ich habe mir immer wieder gesagt: Gib dir Mühe.

Franz war zweimal im KZ Auschwitz und auch in Ravensbrück und in Oranienburg. Sie hat immer wieder zwangsweise gearbeitet und mehrere Fluchtversuche unternommen, von denen der letzte erfolgreich war. Ihr Gedächtnis holt immer wieder Szenen hervor, die sich ihr besonders eingeprägt haben.

„Es stank nach verbranntem Fleisch“

In einer zweiten Szene beschreiben Sie, dass Sie auf der Rampe stehen und die Asche wegschaufeln mussten.

Die Aufseher haben das nicht gemacht, ja. Es stank dort, nach verbranntem Fleisch. Wir mussten aus den Öfen die Asche rausholen, mit einem Rechen, die Asche kam auf einen Schiebewagen, dann kam Kies drauf oder was auch immer. Ich wusste nach dem Krieg, als wir Auschwitz besichtigt haben, genau wo das war.

Was haben Sie nach dem Krieg gemacht?

Wir haben Musik gemacht, mit einer Sinti-Gruppe, für die Amerikaner. Amerikanische Schlager. Ich habe viel gehandelt, auch mit Waren der Amerikaner, Zigaretten und so etwas. Wir hatten Privilegien, als Überlebende, uns ging es nicht schlecht. In dieser Zeit habe ich auch meinen Mann kennengelernt, der zwölf Jahre älter war als ich.

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Philomena Franz kurz nach Kriegsende mit ihrem Mann Oskar Franz.

Auch Franz' Mann war Sinti und Musiker. 1946 wurde das erste Kind der beiden geboren, Tosca. Es folgten vier Söhne. Die erste Frau Ihres Mannes war in Auschwitz, zusammen mit ihren vier Kindern, ermordet worden.

Warum sind Sie nach dem Krieg in Deutschland geblieben?

Weil ich das auseinander halten konnte: Gut und Böse. Ich hatte diese Kraft. Ich konnte nicht sagen, dass jeder Deutsche schuld war. Verantwortlich waren andere. Leider sind sehr viele von denen durchgekommen.

Einer Ihrer Söhne ist mal in der Schule beleidigt worden. Sie haben daraufhin gesagt: Ich gehe jetzt in die Schulen.

Ja, das ist wahr. Daraufhin habe ich den Jungen meine Geschichte erzählt. Die Kinder haben Rotz und Wasser geweint.

Wie haben Deutsche reagiert, wenn Sie gesagt haben: Ich war in Auschwitz?

Ich habe das nicht so als Hammer erzählt. Die Leute haben es ja an meinem Arm gesehen.

An der Tätowierung.

Ja, aber da wurde nicht drüber geredet. Nur später, als ich mit der Aufklärungsarbeit angefangen habe. Die Leute mussten wissen, was los war. Es darf nie wieder geschehen.

Sie haben viele Ehrungen erhalten, darunter das Bundesverdienstkreuz. Gerade sind Sie Ehrenbürgerin von Bergisch Gladbach geworden. Was bedeutet das für Sie?

Es ist schon was Schönes. So weiß ich, dass ich etwas getan habe für die Versöhnung. Dass das gesehen wird.

Wie haben Sie es erlebt, dass es in Rösrath jahrelang eine Debatte darüber gab, eine Straße nach Ihnen zu benennen – der Schriftsteller Matthias Buth hatte das vorgeschlagen. Es wurde aber immer wieder abgelehnt, auch mit dem wortwörtlichen Verweis darauf, dass seit der Hitler-Zeit nur noch Verstorbene mit Straßennamen geehrt werden?

Ach wissen Sie, es gibt Schlimmeres. Wenn die Leute so blöd sind, dann habe ich damit nichts zu tun. Sollen sie sich die Köpfe einschlagen. Ich bleibe so wie ich bin. Ich lebe gern hier, ich bin gut aufgenommen worden. Ich kann nicht klagen.

In Rösrath gibt es noch eine Debatte darüber, ob eine Gesamtschule nach Ihnen benannt werden soll. Würde Sie das freuen?

Ja, schon, warum nicht? Ich habe ja schon was getan für die Schulen. Es wäre nicht so unrecht, wenn sie mich da erwähnen.

Werden Sie weiter in Schulklassen gehen?

Wenn die Lehrer kommen und fragen, sage ich schonmal: Holen Sie mich ab und dann komme ich. Ich sage den Schülern immer: Seid nett zu Euren Lehrern! Dann lachen sie. Zuletzt waren mal einige hier in meiner Wohnung. Die haben erstmal eine Buttersemmel bekommen. Die junge Generation ist eine gute Generation, das sind Gönner. Nicht mehr solche Egoisten. Die denken an die Zukunft. Komme mir keiner mit: Früher war es besser!

Wie sind Sie eigentlich ins Rheinland gekommen, Sie kommen ja aus der Gegend bei Stuttgart?

Das ist eine längere Geschichte. Es hing damit zusammen, dass wir nach dem Krieg zuerst für die Amerikaner, später dann auch für die Engländer Musik gemacht haben. Irgendwie sind wir hier hängen geblieben.

Wie sprechen Sie mit Schulklassen?

Ich merke, dass die Kinder schwer daran tragen. Ich gehe da nicht hin und erhebe Anklage. Trotzdem sollen Sie wissen, was passiert ist. Aber nie mit Wut, nie mit Hass.

Erzählen Sie auch alle schlimmen Erlebnisse?

Ja, natürlich, das muss man. Schonen darf man sie nicht. Es ist schön, dass viele berührt sind. Ich habe schwere Zeiten durchgemacht, da kann einem keiner helfen. Da kann keiner mir sagen: Drück das weg, das geht nicht. Das bleibt.

„Die Träume kommen wieder“

Wie macht sich das bemerkbar?

Die Träume kommen ab und zu wieder. Man kann es nicht steuern. Ich reagiere mich dann ab. Mache Besuche. Gehe spazieren oder erzähle in Schulen meine Geschichte. Ich komme schon irgendwie zurecht. Ich hatte dann auch viel Arbeit mit einem Sohn, der schwer krank war. Er war so wie ich, der hat auch gesagt: Es stimmt, wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir nicht unterscheiden können zwischen Gut und Böse, haben wir nichts mehr zu erwarten, dann geht’s bergab.

Sie haben auch schon mit Leuten von der AfD gesprochen.

Ich habe mich mit denen schon unterhalten. Man muss schon wissen, was die denken. Das ist freie Demokratie. Lieber spreche ich aber mit Schülern. Die junge Generation weiß: Das darf nie wieder geschehen.

Es gibt rassistische Parteien, die zehn, zwölf Prozent erreichen, im Osten mehr. Macht Ihnen das Sorge?

Nein. Ich denke, man sollte mit denen reden und sie überzeugen.

Sind Sie gar nicht mehr wütend?

Nein. Schauen Sie, wie lange das zurückliegt. Irgendwann dachte ich: Ich muss etwas machen, sonst gehen die Kinder wieder in eine andere Richtung. Das habe ich gemacht.

Sie gehen mit 99 Jahren noch allein einkaufen, und machen fast allein den Haushalt.

Nein, für den Großputz habe ich schon Hilfe und meine Pfleger. Aber es geht noch ganz gut.

Warum haben Sie ihre Tätowierung nie wegmachen lassen?Nein, warum? Das ist ein Zeichen, dass das nie wieder passieren darf. Dass Menschen so gedemütigt werden wie die Viecher, denen man einen Stempel aufdrückt. Ich war immer für das Gerechte. Mein Vater hat immer gesagt: Wenn Du einen Fehler machst, stehe dafür ein. Ich habe mein Leben für Gerechtigkeit und Aufklärung gearbeitet.

Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, was vielleicht auf Ihrem Grabstein stehen soll?

Ach hören Sie mal: Meinen Sie im Himmel sieht man danach? (Lacht) Wissen Sie, der Körper ist nur eine Schatulle. Den nehmen wir nicht mit. Der verwest hier. Aber das hier, das bleibt am Leben (zeigt auf ihr Herz), das ist Gottes Schöpfung, das verwest nie. Wenn wir sterben, ist da unser Schutzengel.

„Ich hatte sehr viele Schutzengel“

Wie viele Schutzengel hatten Sie in Ihrem Leben?

Ich hatte sehr viele. Viele Menschen haben mich ausgelacht im KZ: Warum betest Du? Siehst Du, Gott hilft dir nicht! Wir sind hier drin! Unsere Leute sterben hier! Ich habe gesagt: Das kann ich halten wie ich will. Nachts unter der Decke habe ich dann gebetet. Und Gott hat mich beschützt.