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Erinnungskultur in der SchuleJugendliche sollen „Zweitzeugen“ des Holocausts werden

Lesezeit 5 Minuten

Die Jugendlichen nähern sich der Geschichte des Nationalsozialismus über Biografien.

Köln – 8.15 Uhr. Der lange Schultag startet mit Postkarten und drei gestapelten Bibeln, die den Beamer stützen. Es ist ein Schultag zwischen zwei Lockdowns, in einer kurzen Zeit, die sich fast normal anfühlte. Ksenia Eroshina steht im Raum 0.14 der Käthe-Kollwitz-Realschule vor der grünen Tafel und sortiert die Kabel am Beamer, während die Schüler der neunten Klasse die Zitate auf den ausgeteilten Karten lesen.

„Jeder, der einem Zeitzeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden“, liest ein Schüler aus der dritten Reihe vor. Der Satz des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel umschreibt gut, warum die 27-jährige Eroshina gestern Abend extra aus Berlin mit dem ICE nach Köln gekommen ist. Sie will mit der 9a über den Holocaust sprechen. Nicht über sechs Millionen ermordete Juden, nicht darüber wie deutsche Männer in Uniformen Goldzähne aus Leichen brechen. Sondern wie Eva Weyl, eine heute 85-jährige Jüdin aus den Niederlanden, diesem geplanten Tod entgangen ist.

Jahreszahlen und Ortsnamen aus dem Geschichtsbuch mit Leben füllen

„Ich nehme ihr die Last ab, dass Erlebte immer wieder selbst zu erzählen“, sagt Eroshina vom Verein Zweitzeugen. Die Mitglieder haben fast 40 Überlebende des Holocaust getroffen und interviewt, um ihre Geschichte in Schulen weiterzuerzählen. Die Idee für „Zweitzeugen e.V.“ entstand bei einer Ausstellung von Studentinnen, die Fotos von Überlebenden in Israel zeigte. Mittlerweile hat der Verein 120 hauptsächlich ehrenamtliche Mitglieder und betreibt verschiedene Projekte zur Erinnerungskultur. Einige der Überlebenden sind in den letzten Jahren verstorben, viele sind nicht mehr gesund genug, um das leidvolle Trauma ihrer Kindheit selbst weiterzugeben.

Ksenia Eroshina von Zweitzeugen

Es wächst gerade eine Generation heran, für die der Nationalsozialismus hauptsächlich im Geschichtsbuch und auf N24 stattfindet. Die keinen mehr fragen können, weil selbst die Großeltern den Krieg nicht mehr erlebt haben. „Zweitzeugen“ ist der Versuch, Jahreszahlen und Ortsnamen mit Geschichten über Menschen zu füllen. „Wir können die Begegnung mit einem Zeitzeugen nicht ersetzen“, sagt Eroshina. „Aber mich haben diese Gespräche unheimlich bewegt und das kann ich weitergeben.“

Das Leben für jüdische Deutsche wurde immer mehr eingeschränkt

8.45 Uhr. „Was macht ihr an einem ganz normalen Morgen?“, fragt Eroshina die Schüler. Antonia sagt, sie frühstückt Cornflakes mit Milch, Tim fährt mit dem Fahrrad zur Schule. „Was esst ihr gerne? Habt ihr Haustiere?“ Furkan isst gerne Döner und hat zwei Wellensittiche. Eroshina liest von bunten Karteikarten ab, welche Gesetze die Nationalsozialisten nach und nach erlassen haben, um die Deutschen jüdischen Glaubens immer mehr einzuschränken. Langsam streicht sie an der Tafel mit roter Kreide durch, was nicht mehr erlaubt wäre. Am Handy sein. Ab 29. Juli 1940 durften Juden keine Telefone mehr benutzen. Die Wellensittiche. Im September 1942 wird es Juden verboten, Haustiere zu halten. Fahrrad fahren? Verboten. Bahn fahren? Nicht für Juden. Was bleibt am Ende vom Tag? „Eigentlich nichts“, sagt Lennert mit der dunkelblauen Weste aus der letzten Reihe. Der Nationalsozialismus sei im Geschichtsunterricht noch nicht dran gewesen, erzählen die Schüler in der ersten Pause, sei seien erst bei der Französischen Revolution.

Die Holocaust-Überlebende Eva Weiyl hat Zweitzeugen ihre Lebensgeschichte erzählt.

10 Uhr. Eroshina erzählt von der Überlebenden Eva Weyl wie von einer guten Freundin. Eva sei „super witzig“, sehr gebildet und immer stilvoll gekleidet. Mit dem Beamer wirft sie ein Bild der fünffachen Großmutter an die Wand. Es zeigt die 85-Jährige in einer grauen Bluse mit weißem Kragen und Perlen-Ohrringen, sie schaut freundlich und ernst in die Kamera. „Das Haus sieht voll schön aus“, sagt Furkan. Evas Familie sei schon vor ihrer Geburt 1934 wegen der immer strengeren Gesetze in die Niederlande ausgewandert, erzählt Eroshina. Das anfängliche Gemurmel in der Klasse ist verstummt. Als Eva sieben Jahre alt ist, kommt der Deportationsbescheid. Ein Koffer für jeden.

Das Lager Westerbork hatte ein Krankenhaus – trotzdem fuhren Züge nach Auschwitz

Die Familie kommt ins Durchgangslager Westerbork, eines von zwei niederländischen Lagern, von wo aus Hunderttausende in die Arbeits- und Vernichtungslager im Osten transportiert werden. Westerbork sei der Himmel auf Erden und gleichzeitig das Vorportal zum Tod gewesen, sagt Eva in einem Interview, das Eroshina abspielt. Die Gefangenen verwalteten sich in Westerbork selbst, es gab eine Schule und sogar ein Krankenhaus, trotzdem fuhren wöchentlich Züge nach Auschwitz. Jeden Morgen wacht Eva Weyls Familie mit dem Gedanken auf, ob sie heute mitfahren. „Gab es da Kannibalismus?“, fragt Lennert. Vielen Schülern, die die Nazi-Zeit nur aus Hollywood-Filmen kennen, assoziieren den totalen Horror: Krieg, Leid, die kaltblütigen Nazis und ihre armen Opfer. Es fehlen die feinen Zwischentöne und die Frage, was nach 1945 passiert.

Eva denkt bei der Befreiung an den Geschmack von Schokolade und Kaugummi, erzählt Eroshina. Beides hätten die kanadischen Soldaten verteilt, am 12. April 1945. Als Teenager hätte sie irgendwann keine Lust mehr gehabt, den Tag ihrer Befreiung mit den Eltern und anderen Überlebenden zu feiern. Die Schülerinnen und Schüler verstehen das. Auf Familienfeiern sind immer nur die gleichen Leute, sagt Kimi. Eroshina weiß: Erst seit Eva Weyls Vater Mitte der 90er-Jahre gestorben ist, setzt sie sich aktiv für das Gedenken ein.

Was war das Schlimmste für Eva?

11.30 Uhr. „Warum haben die Nazis die Juden eigentlich so gehasst?“, fragt Lennert. „Und hätte man nicht alles verhindern können, wenn man »Mein Kampf« gelesen hätte?“ In einer Studie zur Erinnerungskultur geben 69 Prozent der Jugendlichen an, sich „sehr für die Zeit des Nationalsozialismus“ zu interessieren. Tim aus der zweiten Reihe war mit seiner Familie schon einmal in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und ist dort durch die Gaskammern gelaufen. Er weiß mehr und fragt mehr. Eroshina sagt: „Kinder haben viele Fragen.“ Und bei ihr können sie sie ganz schamlos stellen, kriegen keine Noten und keine Hausaufgaben.

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„Was war das Schlimmste für Eva?“, lautet eine Frage, die oft kommt und die Eroshina zurückgibt: Was wäre für euch das Schlimmste gewesen? Im Zweitzeugen-Programm schwingt immer der Gedanke mit, was das alles eigentlich mit den Jugendlichen zu tun hat. Gemeinsam aus der Geschichte lernen ist die Idee, damit sie Hass und Ausgrenzung frühzeitig erkennen. „Rassismus wird es immer geben“, sagt Furkan.

12.30 Uhr. Der Tag begann mit Postkarten und endet mit Briefen. Die Schüler sollen sie an Eva schreiben, was sie über ihr Leben denken und was sie ihr sagen würden, wäre sie jetzt hier. Gemurmel, Gekicher und leise Ermahnungen. Anschließend schicken sie Eva über Eroshinas Handy noch gemeinsam eine Whatsapp-Sprachnachricht: „Wir hätten Sie gerne persönlich kennengelernt – und schicken Ihnen ganz viel Liebe.“