Köln – Kurz vor Ende des Stücks kommt Marias Mutter ins Gefängnis. Sie hat sich als Jüdin auf eine Parkbank gesetzt, die für Arier reserviert war. Marias Vater lässt sich von ihr scheiden, um sein Hutgeschäft in der Thieboldsgasse nicht zu verlieren. Später versteckt die Familie die Mutter im Keller des Ladens. Bis Oskar, Marias Spielkamerad aus Kindertagen und nun in der Hitlerjugend, sie dort entdeckt und die Mutter vor den Nationalsozialisten auf einen Hof in die Eifel flieht.
Das Theaterstück „Das Mädchen mit der roten Kappe“ zeigt den Alltag eines Mädchens im Köln der 1930er Jahre. Die Geschichte, die Schauspielerin Heidrun Grote am Dienstagabend im Kölner Künstler Theaters (KKT) alleine zum Leben erweckt, ist gleichzeitig kindlich-naiv und bedrohlich.
Stück wird selten gebucht
Zu bedrohlich für Schüler, sind sich viele Lehrer sicher. Sie wollen das Stück des KKT, das für Kinder ab 10 Jahren entwickelt wurde, lieber nicht an ihren Schulen aufgeführt sehen. Vor einigen Wochen hatte ein freier Träger in der Kleinstadt Höhr-Grenzhausen nahe Koblenz schon für zehn Aufführungen bezahlt, fand aber keine Schule, die das pädagogisch konzipierte Jugendtheaterstück auch zeigen wollte. Auch in Köln wird das Stück nur sehr selten von Schulen gebucht, seit seinem Start vor über vier Jahren etwa zehn Mal, heißt es vonseiten des KKT.
„Da trauen wir uns nicht dran“ wäre eine Reaktion der Lehrer. Oder sie sagen, dass der Nationalsozialismus kein Thema für die multikulturelle Gesellschaft ist, erzählt Theaterleiter Georg zum Kley bei einer Podiumsdiskussion am Dienstag. Nur einen Tag zuvor sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Er forderte zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers, Auschwitz als Verantwortung zu sehen, „den Anfängen zu wehren, auch in unserem Land“. Passt das zusammen? Eine institutionalisierte Erinnerungskultur, die in den letzten Tagen allgegenwärtig war, und die Ablehnung der Schulen, „Das Mädchen mit der roten Kappe“ zu zeigen?
„Du Jude“ als Schimpfwort
Aus der jüdischen Gemeinde gibt es schon seit einiger Zeit Stimmen, die den wachsenden Antisemitismus auf den Schulhöfen beklagen. „Die Zahl der jungen Menschen aus unserer Gemeinde, die von Anfeindungen berichten, steigt“, sagte Abraham Lehrer, Vorstand der Kölner Synagogen-Gemeinde im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor einigen Monaten. „Lehrer erzählen, dass auf ihrem Schulhof »Du Jude« als Schimpfwort benutzt wird, obwohl kein einziges jüdisches Kind die Schule besucht.“ Der kalkulierte Tabubruch, begründet in Ignoranz und Unwissenheit.
Auch israelbezogener Antisemitismus begegnet den Pädagogen immer öfter, vermehrt von muslimischen Schülern. „Die NS-Vergangenheit ist für Schüler mit anderem kulturellen Hintergrund genauso spannend wie für Deutsche“, sagt Barbara Kirschbaum, Bildungsleiterin im Kölner EL-DE-Haus deshalb. Sie hält die Auseinandersetzung mit Vorurteilen an Schulen mit hohem Migrationsanteil für unerlässlich. Häufig würden die Schüler aus Familien mit Migrationsgeschichte dann ihre eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung ansprechen.
Schüler haben viele Fragen
Im Stück ertönen aus dem Bühnen-Off wiederholt die Märsche der Nazis. Ab und zu tauchen sie als Schemen auf einem Bildschirm auf. „Ich hab nichts gegen dich – als Mensch“, sagt Oskar zu seiner Freundin Maria, nachdem er über Juden schimpft. Erinnert verdächtig an: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber...“ Zur Freundschaft zwischen den beiden Kindern kämen nach den Schulaufführungen immer viele Fragen, erzählt Grote. Hier würden die jungen Zuschauer Empathie entwickeln, die im Geschichtsunterricht mit seinen Daten und Fakten häufig zu kurz kommt.
Die Geschehnisse im Stück sind inspiriert von wahren Kölner Geschichten, vom Kley hat sie im NS-Dokumentationszentrum recherchiert. „Es war Zeit für mich, das Thema Faschismus auf die Bühne zu bringen“, sagt er. Er will den Alltag der Juden im Nationalsozialismus für Kinder nachvollziehbar machen, zeigen wie die kleinen Sticheleichen und Ausgrenzungen sich in ihrer Summe zum großen Ganzen zusammensetzen.
Warum war Hitler so böse?
Für Kirschbaum ist diese Herangehensweise genau die richtige, um Kinder und Jugendliche für Antisemitismus zu sensibilisieren. „Erst wenn wir die Dynamiken von Rassismus und Ausgrenzung verstehen, können wir ein »Nie wieder« überhaupt angehen“, sagt die Pädagogin.
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Kirschbaum arbeitet im EL-DE-Haus seit Jahren mit Schulklassen und weiß: Jedes Grundschulkind hat schon einmal von Adolf Hitler gehört. „Auch sehr junge Kinder stellen oft die richtigen Fragen“, erzählt sie. Zum Beispiel: Warum war Hitler so böse? Was hatte er gegen die Juden? Lehrer und Eltern dürften vor dieser Neugier keine Angst haben. Im Gegenteil: Mit Theaterstücken wie „Das Mädchen mit der roten Kappe“ soll diese Neugier geweckt werden.