Verschwörungstheorien rund um das Coronavirus gibt es viele: Bill Gates habe es in die Welt gesetzt, es existiere überhaupt nicht oder bestehe aus 5G-Strahlen, so einige der Erzählungen. Zwischenzeitlich erlangten sie eine erstaunlich hohe Popularität.
Stephan Packard ist Professor für Kulturen und Theorien des Populären an der Universität zu Köln.
Im Interview erklärt er, woher Verschwörungstheorien kommen, wie sie funktionieren – und wie sich ihr Verhältnis zu Demokratie, Aufklärung, Antisemitismus und dem Internet darstellt.
Herr Packard, benutzen Sie den Begriff „Verschwörungstheorie“?
Ja, aber nur, wenn ich vorher erklären kann, was ich darunter verstehe. Der Begriff wird sehr unterschiedlich gebraucht, dadurch kommt es zu vielen Missverständnissen. Ich spreche immer dann von Verschwörungstheorien, wenn erstens behauptet wird, es gebe eine geheime Gruppe von Akteuren – und zweitens: Diese Gruppe kontrolliere auch die mediale Berichterstattung, um ihr Handeln zu vertuschen. Dieses Kriterium ist entscheidend: Medienberichte sollen gefälscht werden. Damit sind wir weit über den alten Wortsinn von „Verschwörung“ plus „Theorie“ hinaus.
Haben Sie als Wissenschaftler Probleme mit dem Wort „Theorie“ in „Verschwörungstheorie“?
Wenn man das Wort „Theorie“ so lesen wollte, dass es ausschließlich wissenschaftliche Theorien meint, wäre der Begriff falsch. Ursprünglich meint „Theorie“ eine lange und ausführliche Betrachtung. Mit dieser hat man es sicher auch bei Verschwörungstheorien zu tun. Wissenschaftliche Theorien im Sinne von Hypothesen und Widerlegbarkeit sind Verschwörungstheorien im heutigen Sinne keineswegs. In seiner heutigen Bedeutung wurde der Begriff von Karl Popper geprägt: In seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ beschrieb er 1945 besondere und schädliche Wirkungen von Verschwörungstheorien für die öffentliche und die rationale Debatte.
Was macht Verschwörungstheorien glaubhaft?
Glaubhaft sind sie nicht, aber attraktiv: Viele Verschwörungstheorien eint die Wunschvorstellung, man könne die Welt sehr einfach in Ordnung bringen. Typischerweise geht es um wenige Menschen, welche die Welt angeblich im Griff haben sollen. Dieses Szenario ist zwar bedrohlich, es enthält aber auch ein Versprechen: Würde man diese Menschen entfernen oder gar durch gute Menschen ersetzen, wäre alles gut. Man spricht hier oft von einer Verweigerung, Kontingenz, Komplexität, Unvorhersehbarkeit und die mangelnde Steuerbarkeit der Welt anzuerkennen. Was in unserer hochkomplexen Gesellschaft passiert, ist für die einzelne Person nur sehr schwer steuerbar. Das macht die Idee einer solchen im Geheimen doch möglichen Steuerung besonders reizvoll.
Woher kommen Verschwörungstheorien?
Historisch gibt es den modernen Begriff der Verschwörungstheorien seit der Aufklärung. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war er allerdings nicht unbedingt negativ konnotiert. Jemanden als Verschwörer oder als Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen, war kein Vorwurf. Viele der aufklärerischen Kreise sahen sich selbst als „verschworene“ Kreise, die am politischen Wandel arbeiten. In den 1940er-Jahren wurde der Begriff aufgrund zweier historischer Erfahrungen verdächtig: Der schrecklichen Erfahrungen mit totalitären Regimen und zugleich mit dem propagandistischen Potenzial von Massenmedien, also mit dem Missbrauch von Macht und Lüge. Das ist dem Thema geblieben. Seither wird sowohl die Bezeichnung „Verschwörer“ als auch die Bezeichnung „Verschwörungstheoretiker“ als Vorwurf verstanden.
Als was sind nun die Verschwörungstheorien des 21. Jahrhunderts zu verstehen?
Seit rund 20 Jahren erleben wir eine Fragmentierung der Öffentlichkeit. Eine politische Mehrheit dachte lange, dass sie die verschiedenen Seiten einer Debatte auf einer gleichbleibenden Bühne präsentiert bekommt. Wenn sich eine Perspektive als falsch herausstellt, hat man erwartet, das am selben Ort wieder zu erfahren – beispielsweise als Gegendarstellung in derselben Zeitung. Diese Erwartungshaltung war immer schon falsch, aber in den vergangenen Jahrzehnten ist die Bindungskraft der gemeinsamen Öffentlichkeit, das Vertrauen darin stark zurückgegangen. Gegenöffentlichkeiten hingegen erleben durch das Internet einen erheblichen Aufstieg. Wir erleben dort eine Vielfalt von Öffentlichkeiten mit einer sehr großen Stimmenvielfalt. Heute reden wir bei Verschwörungstheorien nicht von Einzelpersonen, sondern von Gemeinschaften, die sich übe rneue mediale Strukturen austauschen und die sogenannte „Mainstream“-Öffentlichkeit als verlogen diffamieren, und die von dem Begriff der Verschwörungstheorie wiederum diffamiert werden: ein vielteiliges gegenseitiges Misstrauen. Der Aspekt der vielen kleinen Gemeinschaften ist besonders bemerkenswert, weil diese Gemeinschaften, die Verschwörungstheorien glauben, dadurch plötzlich selbst wie Verschwörungen aussehen. Im Fall von „QAnon“ gibt es genau diese Struktur: Menschen bekennen sich zu „QAnon“ und damit zu einer Verschwörung, an die sie glauben, von deren inneren Geheimnissen sie sich die eigene Position aber dennoch als getrennt vorstellen. Währenddessen stellen die „Mainstream“-Medien wahrheitsgemäß fest: Es gibt die zweite, geheimere Verschwörung „QAnon“ gar nicht, sondern nur den äußeren Kreis, der an den inneren glaubt.
Populäre deutsche Verschwörungstheoretiker versuchen, sich in die Tradition der deutschen Aufklärer zu stellen. Wie ist das zu erklären?
Es handelt sich um einen sehr engagierten Missbrauch des Wortes. Was beide Momente verbindet, ist die relativ kleine Kommunikationsgemeinschaft in einem Widerstand zur politischen Herrschaft. Die Aufklärung allerdings war dabei, die moderne Öffentlichkeit erst herzustellen, der die heutigen Verschwörungstheorien misstrauen. Die Philosophen des 18. Jahrhunderts wollten einen öffentlichen Diskurs – Zeitschriften, Salons, den „Marktplatz der Ideen“ – schaffen. Gegen eben diese, allerdings ohnehin fragwürdige, Öffentlichkeit wenden sich heutige Verschwörungstheorien. Und: Sie wenden sich gegen Rationalität. Manchmal explizit. An anderen Stellen behaupten sie zwar, rational zu arbeiten: Indem sie sich aber der öffentlichen Kommunikation verweigern, geben sie eine Bedingung für Rationalität auf: Die Absicht, den Widerspruch miteinander aushandeln zu wollen.
Zuletzt wurde immer ein innerer Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Verschwörungsmythen diskutiert. Gibt es diesen?
Ja. Historisch ist eine der ersten großen Verschwörungstheorien die Behauptung einer jüdisch-kommunistischen Weltverschwörung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Art und Weise, wie heute zum Beispiel über Philosophie, Wissenschaft oder Finanzwesen gesprochen wird, hat häufig noch dieselben Züge. Das muss nicht bedeuten, dass einzelne Personen, die Verschwörungstheorien anhängen, immer eine bewusste antisemitische Überzeugung haben. Aber die Struktur der Verdächtigung einer Gruppe, die innerhalb einer größeren Gemeinschaft als fremd bezeichnet wird und einen exklusiven Machtzugang haben soll, ist ähnlich. Zusätzlich kann aufgrund antisemitischer Traditionen in Deutschland der Antisemitismus hier wohl besonders leicht zum expliziten Thema von Verschwörungstheorien werden.
Lassen sich verschiedene Arten von Verschwörungstheorien klassifizieren?
Die Strukturen sind zumeist ähnlich, doch zwei grundsätzliche Unterschiede lassen sich feststellen. Erstens gibt es eine Unterscheidung zwischen Verschwörungstheorien, die von einzelnen, isolierten Personen betrieben werden, und solchen, die ganze Gegenöffentlichkeiten bestimmen. Außerdem kann unterschieden werden zwischen Theorien über einzelne Ereignisse, beispielsweise jenen zum 11. September, und Verschwörungstheorien, die die ganze Welt betreffen. Laut den letzteren liegt alles, was überhaupt geschieht, in den Händen weniger Mächtiger.
Wie funktionieren verschwörungstheoretische Narrative?
Neben der Einfachheit der Erklärung ist insbesondere die ungeheure Machtzuschreibung zu nennen: Eine Gruppe soll nicht nur riesige Katastrophen auslösen können, sie soll auch die gesamte Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und alle relevanten Medien kontrollieren. Auch die Böswilligkeit der angeblichen Protagonisten macht diese Narrative medientheoretisch interessant. Verschwörungstheorien haben außerdem oft einen hohen Unterhaltungswert. Auch damit lässt sich ihre Attraktivität erklären. In den äußeren Kreisen der Verschwörungstheorien gibt es immer Leute, die sich über die Theorien lustig machen, aber sie schätzen. Sie sagen: „Ich glaub ja nicht wirklich dran, aber hör dir das mal an…“ – und halten das Narrativ damit am Leben.
Was drückt sich in den Verschwörungstheorien rund um Corona aus?
Wissenschaftliche Forschung macht immer größere Fortschritte und entfernt sich zunehmend von dem, was jeder Mensch unmittelbar verstehen kann. Dadurch gerät Demokratie in eine Konkurrenz zur Technokratie. Lange konnte man eine gewisse Vermittelbarkeit herstellen. Heute allerdings müssen wir der Virologie gewissermaßen glauben. Wenn man sich nun einredet, man müsse jedes Detail als Laie überprüfen können, kommt man in eine Falle, in der jedes unverstandene Detail aus der Virologie zu einem falschen „Enthüllungsmoment“ werden kann.
Empfinden Sie die verschiedenen Theorien als homogen?
Überhaupt nicht. Die Verschwörungstheorien rund um Corona widersprechen einander drastisch. Es gibt die Behauptung, das Virus selber sei gezielt hergestellt worden. Es gibt auch die Behauptung, es gebe das Virus überhaupt nicht. Wir können klar beobachten, dass bestehende Verschwörungstheorien das Coronavirus integrieren. Von der Bill-Gates-Verschwörung beispielsweise ist seit fünf Jahren die Rede, sie bekommt nun einen neuen Corona-Anstrich.
Lassen sich die Theorien rund um Corona mehrheitlich dem rechtsextremen Spektrum zuordnen?
Ja, bislang schon. Das hat mit der Verwandtschaft zum Populismus zu tun: Wenn es nach dieser Vorstellung die eine geheime Schaltzentrale gibt, müssen wir eine kleine Gruppe besserer Menschen – das sind dann die populistischen Anführer– in diese Schaltzentrale bekommen. Grundsätzlich gibt es diese Auffassung nicht nur im Rechtsextremismus, im Fall der gegenwärtigen Theorien rund um Covid-19 ist die Nähe zu diesen Gruppen allerdings oft eindeutig.
In welchem Moment wurden die verschiedenen Corona-Theorien attraktiv für eine größere Gruppe?
Als das Virus neu war, gab es in der allgemeinen Öffentlichkeit eine Pause von fünf bis sechs Wochen. Die neuen Informationen selbst hatten genug Nachrichtenwert. Die verschwörungstheoretischen Zweifler sind erst später öffentlich aufgetreten. Ich glaube, es gibt einen Graubereich von Menschen, die sich Verschwörungstheorien erstmal mit offenen Ohren anhören, aber meist doch etablierten Institutionen vertrauen. Aus dieser Gruppe waren viele Menschen zunächst so besorgt, dass sie seriöse Informationen aufgesucht haben. Erst, als die Sorge kleiner wurde, haben viele angefangen, auch Fantasien zu unterhalten.
Was hilft, wenn Bekannte an Verschwörungstheorien glauben?
Viele Verschwörungstheorien sind zwar rational sehr leicht zu widerlegen; es geht aber oft nicht um eine rationale Debatte, denn niemand kann vollständig rational denken, wenn seine emotionalen Erfahrungen dagegen stehen. Eine wesentliche Grundlage von Verschwörungstheorien ist mangelndes Vertrauen. Es ist deshalb einerseits wichtig, Vertrauen in wissenschaftliche und politische Institutionen aufzubauen. Auf Vertrauen sollte man andererseits auch im persönlichen Umgang setzen: „Du kennst mich doch, und ich sehe das anders als du“ ist hilfreicher als „Du bist rechtsextrem“ und „Ich will nichts mehr von dir hören“. Man muss andere Gemeinschaften anbieten als die der Verschwörungstheorie.
Sehen Sie in Verschwörungsmythen eine ernsthafte Bedrohung westlicher Demokratien?
Ich sehe sie im Wesentlichen als Symptom für eine zersplitterte Öffentlichkeit. Sie sind nicht so sehr der Schaden, als dass sich der Schaden an der Demokratie daran ablesen lässt.