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Regisseur sitzt in Cherson festGerade noch in Köln, jetzt „in Putins Geiselhaft“

Lesezeit 5 Minuten
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Der ukrainische Regisseur Andriy May (r.) 2019 in Köln 

  1. Im November 2021 inszenierte Andriy May „The Future of Europe II“ in Köln
  2. Jetzt sitzt der Regisseur im südukrainischen Ort Cherson fest
  3. Die russische Offensive geht mit unverminderter Härte weiter

Köln/Cherson – Einen Tag vor Beginn der russischen Invasion lief im Stadttheater der ukrainischen Hafenstadt Cherson ein Stück mit dem Namen „Die Ewigkeit und einen Tag“. „Das Bühnenbild war voller Sarkophage, im Rückblick war es wie eine Prophezeiung“, sagt Andriy May.

May ist Hausregisseur am Stadttheater von Cherson. Vergangene Woche wurde seine Heimatstadt von der russischen Armee angegriffen und eingenommen. „Die Invasoren haben die Stadt abgeriegelt, wir kommen nicht mehr heraus“, sagt der 45-Jährige, als der „Kölner Stadt-Anzeiger“ ihn über eine Videoplattform erreicht.

Er habe vor gut einer Woche versucht, mit seinem siebenjährigen Sohn und seiner pflegebedürftigen Mutter zu flüchten, einen Tag zuvor hätten Menschen die Stadt noch verlassen können. „Doch als wir am Bahnhof standen, kam kein Zug mehr, wir hörten, dass jeder, der die Stadt verlassen wollte, zurückgeschickt wird, man sagte uns, das Ticket sei nicht mehr gültig.“

Angst vor dem eisernen Vorhang

Auf Menschen, die an den Checkpoints am Stadtrand weiterfahren wollten, soll geschossen worden sein. Er habe Angst, dass sich der eiserne Vorhang bald schließe und es keine Möglichkeit gebe, in den kommenden Jahren in Freiheit zu leben, sagt May. „Wir fühlen uns als Geiseln in der Hand des Diktators Putin.“

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Russlands Präsident Wladimir Putin beim Besuch einer Aeroflot-Luftfahrtschule am Samstag in Moskau.

Andriy May hat mehrfach in Köln inszeniert, zuletzt im November 2021 beim Theaterfestival Neues Europa der Kölner Dramaturgin Svetlana Fourer. „The Future of Europe II“ hieß sein Projekt, für das junge und alte Menschen aus Luhansk, Donezk, Syrien und Deutschland ihre persönlichen Geschichten des Aufwachsens im Krieg erzählen. Jetzt sitzt May mit Sohn und Mutter, die an den Rollstuhl gebunden ist, in Cherson fest. Mays Frau ist vor zwei Jahren gestorben.

„Hätten wir Dich doch nur im November hierbehalten“, sagt Svetlana Fourer, die das Gespräch übersetzt. Er habe zwar geahnt, dass es irgendwann Krieg geben könne, sagt May, „aber ich wollte nicht glauben, dass es Menschen gibt, die keine Menschlichkeit besitzen. Dass es so weit kommt.“

Ko-Produktion aus Köln, Kiew und Moskau

Als Schauspieler und Regisseur beschäftigt sich May seit langem mit Krieg, Repression und der Hoffnung auf Menschlichkeit. Er hat die „Tagebücher des Maidan“ als Referenz auf die Demokratiebewegung in der Ukraine inszeniert und, gemeinsam mit dem Kölner Svetlana-Fourer-Ensemble sowie Theatern aus Kiew und dem Meyerhold-Theaterzentrum in Moskau, das Dokumentartheaterprojekt „Das Kind und der Krieg“, in dem es um die Narben geht, die Krieg bei Heranwachsenden hinterlässt. Vor fünf Jahren wurde das Stück in Köln aufgeführt.

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Am 13. Februar: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Besuch in der Region Cherson.

Probe mit Jugendlichen am Tag vor der Invasion

Am 23. Februar 2022, dem Tag vor der russischen Invasion, hat May mit Jugendlichen aus Cherson ein Stück über Toleranz und Freiheit geprobt. „Die Stimmung war emotional, es war gigantisch, diese Jugend ist voller Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie, allein für sie lohnt es sich zu kämpfen.“

May ist ein friedliebender Mensch, er spricht leise und bedacht, flirrende Kriegsrhetorik, die jetzt so oft gefeiert wird, ist ihm eigentlich fremd. In den vergangenen Tagen hat er die russischen Panzer und Militärautos gesehen, er hat die Detonationen gehört, den beißenden Gestank eines brennenden Einkaufszentrums gerochen, Menschen gesehen, die plünderten und andere, die in langen Schlangen vor Einkaufsläden warteten. Mehr als 50 Zivilisten sollen in Cherson getötet worden sein, sagt May – obwohl es weit weniger Widerstand gegeben habe als beispielsweise in Kiew.

Gebäude werden vermint

Derzeit verminten die russischen Soldaten strategisch wichtige Gebäude. „Es ist wie in einem Albtraum.“ Als sein Sohn aus Angst begann zu weinen und ihm sagte, er wolle nicht sterben, „da wusste ich, ich werde das nicht verzeihen können“. Welche Gefühle in ihm vorherrschten? „Wut. Traurigkeit. Und Widerstandsgeist.“

„Sanktionen reichen nicht aus“

Die internationale Solidarität sei wichtig, sagt May, sie tue gut. „Allerdings erleben wir sie als zu zurückhaltend. Wir wollen keinen Dritten Weltkrieg herbeiführen, aber Putins Armee ist gerade dabei, unser Land zu vernichten“. Die EU müssen die Ukraine jetzt schnellstmöglich aufnehmen und sich noch klarer positionieren: „Wenn der Westen die Ukraine vergisst, wird Putin nicht den Westen vergessen, im Gegenteil.“

Wirtschaftliche Sanktionen reichten nicht aus, glaubt der Regisseur. „Der russische Staat hat gewaltige Rubel-Reserven angelegt, die Sowjetunion hat 70 Jahre in Isolation gelebt, Sanktionen werden Putin von nichts abhalten“.

Enttäuscht von russischen Freunden

May hat selbst in Moskau gearbeitet, er hat viele Freunde in Russland, doch die meisten von ihnen hätten sich seit Kriegsbeginn nicht gemeldet. „Ich habe ihnen geschrieben, warum sie schweigen, was noch passieren müsse?“ Einer habe geantwortet, es sei ihm peinlich, ein anderer schrieb hilflos: „Was sollen wir machen?“

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Er bewundere seine Freundin Elena Kowalskaja, künstlerische Leiterin des Meyerhold-Theaterzentrums, geboren in der Ukraine, die ihr Amt niederlegte, weil sie „nicht für den Staat des Kriminellen Putin arbeiten“ wolle, sagt May. Er bewundere die vielen russischen Wissenschaftler und Kulturschaffenden, die Petitionen gegen Putin und seinen irren Krieg unterschrieben haben.

Ein Brief von Maria Revyakina, Leiterin des renommierten Festivals Die Goldene Maske, wurde von vielen prominenten Persönlichkeiten unterzeichnet – dem Generaldirektor des Bolschoi-Theaters Wladimir Urin, dem Dirigenten Wladimir Spiwakow, den Schauspielern Alisa Freindlich, Oleg Bassilaschwili und Jewgeni Mironow, dem Regisseur Andrey Mogutchi.

Bewunderung für Protest in Russland

„Wir handeln jetzt nicht nur als kulturelle Persönlichkeiten, sondern als ganz normale Menschen, als Bürger unseres Landes, unseres Vaterlandes“, heißt es in dem Appell. „Unter uns befinden sich Kinder und Enkelkinder jener Männer und Frauen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, die den Krieg aus erster Hand miterlebt und an ihm teilgenommen haben. In jedem von uns lebt das genetische Gedächtnis des Krieges fort. Wir wollen keinen neuen Krieg, wir wollen nicht, dass Menschen ihr Leben verlieren. Das 20. Jahrhundert hat der Menschheit schon zu viel Kummer und Leid gebracht. Wir wollen glauben, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Hoffnung, der Aufrichtigkeit und des Dialogs, das Jahrhundert der Liebe, des Mitgefühls und der Barmherzigkeit sein kann. Wir appellieren an alle Entscheidungsträger, an alle Konfliktparteien, die Militäraktionen einzustellen und sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Wir rufen dazu auf, das menschliche Leben, das den höchsten Wert darstellt, zu schützen.“

Der Aufruf spricht Andriy May aus dem Herzen. „Es müssten nur alle aufstehen. Wenn die Mehrheit aus Angst schweigt, wird es nicht reichen.“