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Nach Tod eines Mädchens in KölnArzt fordert Umdenken bei ambulanten Zahn-Operationen

Lesezeit 5 Minuten
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Sophia (6) starb nach einer Vollnarkose beim Zahnarzt

  1. Sophia (6) starb nach einer Routine-Operation in einer Zahnarztpraxis.
  2. Ärzte sprechen von einem Systemfehler
  3. Der Tod des Mädchens ist kein Einzelfall, doch Statistiken gibt es nicht.
  4. Anästhesist Jörg Karst fordert, die Rahmenbedingungen zu verändern.

Wie hoch ist das Risiko von Todesfällen nach Vollnarkosen bei Kindern und wie hat sich das Risiko in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt?Karst: Es gibt in Deutschland keine standardisierte Erfassung von Todesfällen nach Anästhesien außerhalb von Studien. In der Literatur beträgt die Mortalität in der Kinderanästhesie ca. 1:10.000, bei Erwachsenen ca. 1:100.000. Belastbar bestätigen kann ich diese Zahlen nicht. Es bestehen große Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern und zwischen „gesunden“ Patienten und Patienten mit Vorerkrankungen. Insgesamt hat die Sicherheit in der Kinderanästhesie in den letzten 50 Jahren einen Quantensprung gemacht, die Rate an Todesfällen ist durch moderne Medikamente, umfassendes Monitoring und insbesondere die qualifizierte Weiterbildung der Anästhesisten stark gesunken. Die Komplikationen nach ambulanten Zahnoperationen mit Kindern haben allerdings in den vergangenen Jahren zugenommen.

„Wir würden uns ein Register wünschen“

Man liest regelmäßig von Todesfällen nach Zahn-Operationen bei Kindern. Gibt es dazu keine Statistiken?

Nein, die gibt es leider nicht. Wir würden uns ein solches Register – auch mit Komplikationen nach ambulanten Narkosen – sehr wünschen, um die Ursachen besser bekämpfen zu können.

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Anästhesist Jörg Karst

Woran liegt es, dass es ein solches Register nicht gibt – will der Gesetzgeber ein systembedingtes Problem lieber nicht mit Zahlen belegen? Weil höhere Qualitätsstandards teuer wären?

Es geht da wohl im Wesentlichen um Datenschutz. Dass der Gesetzgeber unter Kostendruck steht und ständig Einsparpotenziale im Gesundheitssektor sucht, ist bekannt: Derzeit beträgt der durchschnittliche Beitragssatz für Krankenkassen 14,3 Prozent, im Worst-Case-Szenario laufen wir aufgrund der demografischen Entwicklung in den kommenden 20 Jahren auf rund 30 Prozent zu. Im ambulanten Operieren wird Einsparpotenzial gesehen.

„Es gibt einen Missstand“

Ist das nicht spätestens, wenn das Leben von Menschen auf dem Spiel steht, zynisch?

Es gibt einen Missstand, aber ambulantes Operieren ist nicht per se schlecht, sondern notwendig und wird von den allermeisten Kolleginnen und Kollegen hervorragend gemacht. Das gilt auch für die allermeisten ambulanten Operationen im Zahnbereich. Bei einigen Zahnarzt-Praxen stimmt allerdings die Infrastruktur nicht, dazu kommen nicht selten Rahmenbedingungen, die Fehler wahrscheinlicher machen. Und die Budgetierung beim ambulanten Operieren verleitet einige Kolleginnen und Kollegen womöglich, zu sparen. Diese Rahmenbedingungen müssen verändert werden.

Was sind die wichtigsten Risikofaktoren nach Vollnarkosen bei Kindern?

Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder sind Risikopatienten, sie haben einen relativ hohen Sauerstoffverbrauch und gleichzeitig kleine Sauerstoffspeicher. Das kann schneller zu einer Sauerstoffschuld führen, zum Beispiel, wenn es Probleme mit der Atmung oder Beatmung gibt. Gleichzeitig sind kleine Kinder im Operationssaal sehr seltene Patienten, weniger als 1,4 Prozent aller stationären Operationen betreffen Kinder unter fünf Jahren. Das Handling der Patienten und seiner Eltern, die Dosis der Medikamente, die Größe des Equipments, das Erkennen von Komplikationen: das alles kann für Anästhesieteams ungewohnt sein, die ansonsten wenig mit Kinderanästhesien zu tun haben. Denn etliche Anästhesisten bzw. Anästhesieteams haben nicht viel Erfahrung und Routine auf diesem Spezialgebiet. Dies ist ein bekannter Risikofaktor für Komplikationen. Wenn allerdings Kinder von Anästhesiologen versorgt werden, die in diesem Gebiet geübt sind, ist das Risiko nicht höher.

Stimmt es, dass das Risiko in Kliniken geringer ist als in Ambulanzen – weil in Kliniken im Zweifelsfall viel schneller interveniert werden kann?

Es gibt keine Statistiken über das Risiko im ambulanten Bereich, bei stationären Patienten ist in zirka fünf Prozent der Fälle mit kritischen Ereignissen zu rechnen, so die Studienlage. In Kliniken werden allerdings auch „kränkere“ Kinder behandelt, also Kinder mit schweren Vorerkrankungen und großen Operationen und damit naturgemäß mehr Komplikationen. Der Vorteil der Kliniken, insbesondere der Kinderkliniken, ist das Vorhandensein eines großen Sicherheitsnetzes, mit zum Beispiel Kinderintensivmedizin, Radiologie, Labormedizin und einem großen Team an Spezialisten.

Hoher Kostendruck

Welche Mindestanforderungen für Vollnarkosen im ambulanten Bereich gibt es – und wo müsste nachjustiert werden, um die Sicherheit zu erhöhen?

Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) hat im Jahr 2013 gemeinsam mit dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) Empfehlungen für die „Mindestanforderungen an den Anästhesie-Arbeitsplatz“ formuliert. Hier fand das anästhesiologische Setting in der Zahnarztpraxis ebenfalls Berücksichtigung, um auch in diesem Bereich Komplikationen zu verhindern. Nachdem sich Komplikationen nach ambulanten Zahn-Operationen in den vergangenen Jahren gehäuft haben, müssen diese Anforderungen nachgebessert werden: Zum Beispiel wünschen wir uns, dass eine fachlich ausgebildete Anästhesieassistenz verpflichtend bei den ambulanten Operationen dabei ist. Zahnarzthelferinnen zum Beispiel sind dafür nicht ausgebildet.

Gibt es auch aufgrund vermehrt auftretender Komplikationen nach ambulanten Vollnarkosen eine Diskussion darüber, wie sich die Sicherheit gerade für Kinder erhöhen lässt?

Die Diskussion über die Sicherheit in der Kinderanästhesie ist ständig präsent. Die DGAI hat einen eigenen Wissenschaftlichen Arbeitskreis Kinderanästhesie, der sich um die Weiterentwicklung des Bereichs kümmert, Fortbildungen organisiert, Leitlinien zu den wichtigsten Themen erarbeitet, Standards formuliert und Kontakte zu den anderen Fachgesellschaften der Kindermedizin pflegt. Auch aufgrund gehäuft auftretender Komplikationen werden wir das Thema gesondert auf dem NARKA 2022, dem jährlich stattfindenden Anästhesiekongress für ambulante und vertragsärztliche Anästhesie diskutieren.

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Ist ein Verbot von Vollnarkosen für Kinder in ambulanten Praxen denkbar?

In Deutschland kann ein/e Facharzt/Fachärztin für Anästhesiologie jeden Patienten behandeln, unabhängig von Alter, Vorerkrankung oder Narkoserisiko. Eine Einschränkung ist vom Gesetzgeber aktuell nicht vorgesehen, es wird in den nächsten Jahren eher weiter zu einer Ambulantisierung der Eingriffe kommen, d.h. zu einer Verschiebung der Eingriffe in den ambulanten Sektor. Umso wichtiger ist die stete Diskussion mit den niedergelassenen Anästhesist*innen über die Qualitätsstandards in der Kinderanästhesie.

Verbot in anderen Ländern

Gibt es ein solches Verbot in anderen europäischen Ländern und wenn ja in welchen?

Ja, zum Beispiel in Großbritannien. Dort wurden seit dem Jahr 2000 alle zahnärztlichen Eingriffe obligatorisch an den stationären Sektor angebunden. Die Mortalität ist seitdem auf 0 gesunken.

Wäre das auch ein Modell für Deutschland?

Ich denke, dass es auf einen Mittelweg hinausläuft: Strukturen und Qualität müssen verbessert werden, eine Verlagerung einiger Operationen auf ambulante OP-Zentren wäre wünschenswert. Diskutiert werden muss auch über die Budgetierung von Zahnarztnarkosen: Sie führt aktuell dazu, dass einige Kolleginnen und Kollegen überlegen, wo sie sparen können – was dann zwangsläufig zu Qualitätseinbußen führt und das Risiko erhöht.

Jörg Karst ist Vertreter der niedergelassenen Anästhesisten in Deutschland.