Vom Sportsfreund zum FeindWarum der Krieg in der Ukraine die Schachwelt verändert
Düsseldorf – Wenn Alexander Berelowitsch die Jugend des Düsseldorfer Schachklubs trainiert, kann er alles andere ausblenden. Was dann zählt, ist die Schlacht auf dem Schachbrett. Sieg oder Niederlage. Matt oder Remis. Für einen Moment rückt der Krieg in der Ukraine, seinem Heimatland, in weite Ferne. Es ist 22 Uhr an einem Freitag im März, da ist der Moment des Verdrängens schon wieder vorbei.
Die sechs Jugendlichen, die der Großmeister heute trainiert hat, haben gerade den Raum verlassen und Alexander Berelowitsch klaubt die zurückgelassenen Schachfiguren zusammen. Er wirkt jetzt um Jahre gealtert – die Augen dunkel umrandet, die Miene ernst.
An Schlaf ist derzeit nicht zu denken
Alexander Berelowitsch, 54 Jahre alt und Schachprofi, kommt aus Charkiw. Die Millionenmetropole galt als kulturelles Zentrum der Ostukraine. Heute ist es eine vom Krieg zerfressene Stadt. Seine Cousine, die dort bis zuletzt noch lebte, habe die Region kurz nach Kriegsausbruch verlassen, erzählt Berelowitsch. Freunde von ihm seien aber dort geblieben. Ihn, Berelowitsch, belasten die Nachrichten zur Ukraine sehr. „Ich schlafe kaum eine Nacht mehr durch“, sagt er.
Was ihm bleibt, ist der Sport. Turniere, Trainings mit Jugendlichen, sein Startrecht für den Düsseldorfer Bundesligaverein. „Bei einer Partie muss ich mich konzentrieren, da kann ich nicht an den Krieg denken. Wenn ich mit meinen Gedanken nicht auf dem Brett bin, habe ich schon verloren.“
Dabei kennt der Schachsport seit Wochen nur noch ein Thema: den Krieg in der Ukraine. In kaum einer Disziplin kommen sich Russen und Ukrainer derzeit so nahe wie hier. Beide Länder gelten als große, ursprünglich sogar befreundete Schachnationen. Beide Länder haben Ausnahmetalente hervorgebracht. Und beide Länder sind weiterhin in der Schachbundesliga vertreten. Acht Russen und elf Ukrainer sind dort gemeldet, unter ihnen Alexander Berelowitsch.
Ein Abend zwischen Spielfiguren
Wer verstehen will, was der Krieg mit einer Sportart macht, der verbringt also am besten einen Abend zwischen Schachbrettern und Spielfiguren. In Düsseldorf etwa, wo Russen und Ukrainer zusammen in einer Mannschaft spielen.
Funktioniert dort das Zusammenspiel auch jetzt, trotz allem? „Natürlich“, sagt Marcel Harff. Fürs Gespräch hat sich der Mannschaftsführer des Profiteams in den kargen Gruppenraum eines Düsseldorfer Altenheims zurückgezogen. Nebenan, im Gemeindesaal, findet ein Vereinsturnier statt.„Unsere drei ukrainestämmigen Spieler verstehen sich bestens mit Andrei Orlov, der aus Russland kommt und schon lange in Düsseldorf spielt“, sagt Harff. Aber: „Wenn die vier sich nicht gut kennen würden, hätten wir vielleicht ein größeres Problem.“
Der letzte Satz fasst die zerfahrene Situation des Schachsports ganz gut zusammen: Seit Kriegsbeginn scheint die Sportwelt um das Schachbrett herum manchmal komplexer als das Schachpiel selbst. Dafür gibt es mehrere Gründe – lokale wie internationale.
In Düsseldorf, da hat man Glück
Zunächst einmal wären da die Vereine, die Glück haben. So wie Düsseldorf: Das ukrainisch-russische Quartett des Bundesligisten kennt sich gut, über die Jahre sind Freundschaften entstanden. „Wichtig bei einem Verein ist, dass die verschiedenen Kulturen zusammen funktionieren“, sagt Andrei Orlov, der Russe im Team. „Und das ist hier so.“
So einfach ist es aber längst nicht überall. Der Krieg reißt Lücken in der Schachbundesliga – weniger ideologisch, dafür logistisch.
Das liegt am Profigeschäft: Die meisten internationalen Großmeister spielen heute in mehreren Ländern und für viele Vereine gleichzeitig, touren quer durch Europa. Für russische und ukrainische Spieler, die nicht irgendwo im Ausland wohnen, ist so ein Leben aktuell kaum denkbar.
Manchmal bleiben Bretter leer
Zahlenmäßig bilden die Vereinslegionäre zwar nur eine Minderheit in der Liga. Dass sie fehlen, war beim Saisonauftakt trotzdem zu spüren. Im Topspiel zwischen Bremen und Baden-Baden blieben drei Bretter leer, weil die Hanseaten auf ihre ukrainischen Großmeister verzichten mussten. Und in Viernheim organisierten die Gastgeber einen Videochat mit zwei ukrainischen Bundesligaspielern, die bis heute in ihrer Heimat ausharren müssen.
Auch Düsseldorf kennt das Problem, in abgeschwächter Form. Im Kader des Schachklubs steht mit Evgeny Alekseev ein weiterer Russe und mit Andreij Volokitin ein weiterer Ukrainer. Beide sollten als externe Unterstützer am Saisonende den Klassenerhalt sichern. Eigentlich.
Denn die Neuzugänge leben nicht in Düsseldorf, sondern im ukrainischen Lwiw und im russischen St. Petersburg. „Das stellt uns vor immense Herausforderungen“, sagt Harff. Volokitin darf wohl mit Sondergenehmigung wieder reisen und auf internationalen Turnieren spielen, auch für Düsseldorf. Aber ob Alekseev sein Land verlassen kann, scheint den Düsseldorfern selbst nicht ganz klar zu sein.
Ein solches Kuddelmuddel beschäftige gerade viele Vereine, meint Markus Schäfer, Präsident der Deutschen Schachbundesliga. „Manche Vereine, wie Viernheim etwa, haben zahlenmäßig zu kämpfen“, sagt er. „Aber viel schlimmer sind natürlich die persönlichen Schicksale, die hinter diesen Engpässen stehen. Das nimmt alle sehr mit.“
Russische Spieler? Ja oder nein?
Gleich am ersten Wochenende der Spielzeit musste die Liga zudem eine Grundsatzentscheidung treffen: Russische Spieler – ja oder nein? Es soll Mattstellungen im Schach geben, die leichter zu lösen sind als diese Frage.
Das Problem: „Als Liga haben wir keine Handhabe, Spieler zu sperren“, sagt Schäfer. Man sei da auf den Weltverband, die FIDE, angewiesen.Herausgekommen ist deshalb ein entschiedenes Jein. „Wir empfehlen den Vereinen, nur russische Spieler aufzustellen, die sich aktiv gegen den Krieg ausgesprochen haben“, so der Präsident. Nach seinen Informationen treffe das ohnehin auf die meisten Schachspieler zu. Wirkliche Kontrollen gibt es allerdings auch nicht.
Und was macht der Weltverband? Der steht fast schon symbolisch dafür, wie zerrissen die Schachwelt ist, wenn es um den Umgang mit dem Krieg geht. Russland und die Ukraine sind zwei der wichtigsten Schachnationen, ohne sie geht international fast nichts. Der russische FIDE-Chef Arkady Dworkowitsch galt lange als Freund des Kremls. Während russische Vorsitzende in anderen internationalen Sportverbänden mit Kriegsbeginn gehen mussten, verurteilte er den Krieg aber von vornherein. Und blieb im Amt.
Einzelne Schach-Promis trommeln für Putin
Weltweit stellt sich eine breite Mehrheit der FIDE-Mitglieder gegen Putin, auch russische Spieler protestieren. Gleichzeitig trommeln einzelne Schach-Promis wie Sergey Karjakin lautstark für den russischen Präsidenten, verhöhnen ukrainische Kriegsopfer.
Karjakin, den ehemaligen Herausforderer von Weltmeister Magnus Carlsen, sperrte die FIDE nun immerhin für ein halbes Jahr. Der Verband agiert resolut, wenn er muss. Aber so ganz scheint er seine Linie noch nicht gefunden zu haben.
All das würde Alexander Berelowitsch am liebsten ausblenden, wenn er jeden Freitag zum Schachtraining seines Düsseldorfer Klubs fährt. Es ist kurz vor elf, als der Ukrainer das letzte Schachbrett verstaut hat und die Tür hinter sich schließt.
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Zum Abschluss des Gesprächs bleibt der Schachprofi bescheiden. Er wolle auf seine Weise helfen, sagt Berelowitsch. Keine großen politischen Botschaften also, keine Hassreden. „Aktuell gebe ich ukrainischen Flüchtlingskindern kostenloses Training“, erzählt er. „Und diese Gruppe wird immer größer.“
Und sonst? Will er Schachspielen. Das lenkt ab. Manchmal.