Psychisch kranke Amokläufer„Jede Menge Leid könnte verhindert werden“

Der Amokläufer in Berlin landete mit seinem Auto in einem Schaufenster.
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- Ein Drittel der erwachsenen Amokläufer leidet an paranoider Schizophrenie.
- Auch wenn viele Attentäter paranoid schizophren seien, ließe sich nicht von der Krankheit auf die Tat schließen, sagt eine Kriminalpsychologin.
- Eine Analyse zu Straftaten und Gefahren durch psychische Erkrankungen.
Erftstadt/Hamm – „Jetzt bist du dran“, soll der Angreifer gerufen haben, bevor er am 12. Juni eine Dozentin der Hochschule Hamm im Hörsaal mit einem Messer attackiert und tödlich verletzt hat. Der Mann war nicht vorbestraft, aber der örtlichen Polizei bekannt. Anfang April hatte er Anzeige erstattet, weil er sich verfolgt fühlte. Die Polizisten, vermutlich überfordert von der Situation, schickten ihn wieder weg.
Einige Wochen später, kurz vor seinem Amoklauf, war der Essener wegen Suizidgefahr zudem freiwillig in eine Klinik gegangen. Nach wenigen Tagen hatte er sich dann aber selbst entlassen und die Behandlung verweigert – was die Ärzte nicht verhindern konnten. Ist jemand freiwillig in einer psychiatrischen Klinik und nicht zwangsweise untergebracht, gibt es keine rechtliche Grundlage, ihn weiterhin einzusperren.
Als der Mann dann in die Fachhochschule stürmte, rammte er schon im Foyer einer jungen Frau sein Messer in die Wange. Danach stach er wahllos auf einen weiteren Studenten und eine Studentin ein, bevor andere Studierende ihn überwältigen konnten. Von „paranoid schizophrenen Wahnvorstellungen“, sprach Staatsanwalt Henner Kruse anschließend. „Er ist in die Fachhochschule reingegangen, um die Leute zu töten, die ihm in seiner Vorstellung nach dem Leben trachten.“
Mit dem Auto in Fußgängergruppe gerast
Insgesamt wurde bei einem Drittel der erwachsenen Amokläufer in Deutschland paranoide Schizophrenie diagnostiziert, heißt es in Studien. Erst im Januar 2022 stirbt eine junge Studentin bei dem Amoklauf eines psychisch Kranken in einem Hörsaal der Universität Heidelberg. Und am selben Tag, als die Tat von Hamm passiert, nimmt die Polizei in Baden-Württemberg einen jungen Niederländer fest, der an einer Esslinger Grundschule eine Frau und ein Mädchen mit einem Messer schwer verletzt haben soll.
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Witzenhausen, Trier, Frankfurt oder Berlin: In den vergangenen Monaten sorgten vor allem aber auch psychisch kranke Männer für Schlagzeilen, die mit ihrem Auto in eine Menschengruppe gerast sind. Nach den Amoktaten rückte schnell der Geisteszustand des jeweiligen Täters in den Fokus der Öffentlichkeit. Das sind unerträgliche Zeiten für die Angehörigen der Opfer. Aber auch schwierige Zeiten für psychisch Kranke in Deutschland. Zu den alltäglichen Stigmatisierungen kommen Blicke, die sagen: „Drehst du auch bald durch?“
Psychische Krankheiten und Gewalt: die Krankheitsbilder differenzieren
Auf den ersten Blick sind psychisch kranke Menschen auf niedrigem Niveau gefährlicher als gesunde. Studien ergaben, dass etwa zwei Prozent der gesunden Bevölkerung zu Gewalt neigen, bei psychisch Kranken – jedweder Diagnose – liegt der Anteil demnach bei 4,4 Prozent. Entscheidend aber sei das genaue Krankheitsbild, betont Michael Bornheim, Chef der psychiatrischen Klinik Gracht in Erftstadt. Und die Frage, ob die Erkrankung behandelt wurde oder nicht. „Bei behandelten Patienten sinkt das Gewalt-Level deutlich unter das der Durchschnittsbevölkerung.“

Chefarzt Michael Bornheim im Gespräch
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Von Angstpatientinnen und patienten oder Depressiven beispielsweise gehe nahezu keine Gefahr aus, betont Britta Bannenberg. „Die Krankheiten spielen keine Rolle bei Gewalttaten“, weiß die Professorin für Kriminologie an der Universität Gießen. Zwar waren 2026 sowohl der Attentäter von München, der neun Menschen erschoss, als auch der Attentäter von Ansbach, der 15 Menschen mit einer Bombe verletzte und sich selbst tötete, wegen Depressionen in Behandlung. Ausschlaggebend für die Tat waren allerdings im ersten Fall rechtsradikale Motive, im zweiten islamistische. Die psychischen Erkrankungen standen dennoch lange Zeit im Fokus der Berichterstattung und öffentlichen Wahrnehmung.
Angriff wurde von Stimmen im Kopf befohlen
Anders hingegen sieht es bei Menschen mit Psychosen und Wahnvorstellungen aus. Anfang 2021 beispielsweise, als in Frankfurt einem Mann von „Stimmen“ befohlen wurde, mit dem Auto in eine Fußgängergruppe zu fahren, wobei zwei Männer getötet wurden. Vor Gericht wurde festgestellt, dass der Attentäter zum Tatzeitpunkt an einer „stark ausgeprägten paranoiden Schizophrenie und an Verfolgungswahn“ gelitten hat. Auch der Attentäter von Berlin soll an paranoider Schizophrenie, einer besonderen Art der Wahnvorstellung, leiden. Hochrechnungen zufolge sind 1,3 Prozent der erwachsenen Deutschen an Schizophrenie erkrankt, davon 65 Prozent an paranoider Schizophrenie.

Blumen liegen vor der Gedächtniskirche in Berlin, wo ein Autofahrer am 8. Juni in eine Menschenmenge gefahren war.
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„Die Menschen handeln im Wahn, sie verkennen die Realität“, sagt Klinikchef Bornheim, der auch schon psychiatrische Gutachter nach Gewalttaten verfasst hat. Wer sich verfolgt fühle oder panische Angst vor „Angriffen des Geheimdienstes oder Außerirdischer hat“, bei dem sei die Gewalt im Zweifel sogar die wahnhafte Lösung seiner Probleme. Kommen Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch zu den Psychosen hinzu, wie etwa bei Co-Pilot Andreas L., der 2015 ein vollbesetztes Germanwings-Flugzeug absichtlich abstürzen ließ, erhöhe sich das Risiko, dass die Person gewalttätig wird, um ein Vielfaches auf 18,8 Prozent. In derartigen Fällen sei häufig aber nicht die psychische Erkrankung der Grund für die Gewalt, sondern der damit einhergehende Drogenmissbrauch, so Bornheim.
Die Krankheit führt nicht zwangsläufig zur Gewalttat
Dennoch: Auch wenn viele Attentäter paranoid schizophren seien, ließe sich nicht von der Krankheit auf die Tat schließen, weiß die Kriminalistik-Professorin Bannenberg, die auch Ansprechpartnerin des deutschlandweiten „Beratungsnetzwerks Amokprävention“ ist. „Wer glaubt, dass Zombies nebenan wohnen, kann das als Fakt annehmen. Gefährlich wird es erst, wenn die Person glaubt, dass die Zombies sie angreifen wollen und sie sich selbst verteidigen muss.“

Beamte eines Spezialeinsatzkommandos am Tattag im Hauptbahnhof von Düsseldorf.
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Für die Ermittler ist es besonders schwierig, das Gefahrenpotenzial von Einzeltätern zu erkennen. Nicht viel anders geht es den Psychiatern oder Therapeuten. Wer paranoid schizophren ist, suche sich meist keine Hilfe, sagt Bornheim. „Er oder sie hat das Gefühl, richtig zu handeln - es fehlt die Krankheitseinsicht.“ Wenn der Patient sich niemandem anvertraue, seien zukünftige Gewalt-Eskalationen kaum vorherzusehen.
„Das Leid könnte verhindert werden, denn die Krankheiten sind behandelbar“
Man könne zwar Risikoeinschätzungen vornehmen, „aber das ist immer nur eine Momentaufnahme fürs Hier und Jetzt“, so Bornheim. Es fehle meist halt an der psychosozialen Versorgung in Deutschland, etwa um mögliche Erkrankungen frühzeitig zu erkennen. Unabhängig von Gewalttaten einiger weniger Patienten werde das Thema viel zu wenig beachtet. Denn psychische Probleme sind heutzutage nicht nur die zweithäufigste Ursache für Krankheitstage im Beruf, sie sind auch der häufigste Grund für Frühverrentungen. Therapieplätze, auf die man ein Jahr lang warten muss, der Termin beim örtlichen Psychiater, der in der Regel erst nach einigen Monaten möglich ist. „Für Menschen in einer Krise kommt die eventuelle Hilfe dann einfach viel zu spät“, sagt Bornheim. Dass sei „frustrierend und schlimm“: „Jede Menge Leid könnte verhindert werden, denn die Krankheiten können von der modernen Psychiatrie behandelt werden.“ (mit Miriam Keilbach, RND)