Angeklagt wegen FeigheitPolizistinnen lassen verletzten Kollegen im Kugelhagel zurück
Gevelsberg – Es ist der 5. Mai 2020, kurz vor Mitternacht. Im nordrhein-westfälischen Gevelsberg lenken zwei Beamtinnen ihren Streifenwagen durch die Nacht. Plötzlich sehen sie zwei Kollegen am Straßenrand. Die beiden haben ein Auto angehalten, Verkehrskontrolle. Einer der Beamten hebt die Hand. Als Bitte um Unterstützung, wie sich später herausstellen sollte. Zum Gruß, wie die Polizistinnen nach eigener Aussage zunächst annehmen. Sie fahren weiter.
Erst beim Blick in den Rückspiegel wollen sie bemerkt haben, dass da etwas nicht stimmt. Sie stellen ihren Mercedes Vito ab und steigen aus. Plötzlich fallen Schüsse, die Polizistinnen suchen hinter der Motorhaube Deckung. Ein Beamter geht getroffen zu Boden. „Lauf! Lauf!“, ruft eine Beamtin der anderen zu. Dann ergreifen die Frauen die Flucht, rennen etwa 100 Meter weit, halten ein Auto an und brausen mit einer verdutzten Altenpflegerin davon. Ihre Kollegen lassen sie im Kugelhagel zurück.
Angeklagt wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassung
Der dramatische Einsatz hat nicht nur in Sicherheitskreisen für Befremden gesorgt. Das Verhalten der beiden Polizistinnen rief auch die Staatsanwaltschaft auf den Plan. Nadine A. und Patricia B. von der Kreispolizeibehörde Ennepe-Ruhr, 32 und 37 Jahre alt, sollen sich vom 16. November an vor dem Amtsgericht Schwelm wegen gemeinschaftlicher versuchter gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen verantworten. Ein ungewöhnliches Anklagekonstrukt. Dass Beamte in einer Gefahrensituation ihre Kollegen im Stich lassen und einfach türmen, so etwas gibt es in der bundesdeutschen Polizeigeschichte nur selten – wenn überhaupt.
Für Polizisten besteht eine besondere Rechtspflicht zu handeln. Die Frauen hätten aus ihrer Deckung heraus eingreifen und zurückschießen müssen, heißt es in der Anklage. Die Gefahr für ihr Leben sei beherrschbar gewesen. Mit ihrer Flucht aber hätten sie billigend in Kauf genommen, dass die Kollegen noch stärker verletzt werden. Man kann es auch drastischer ausdrücken: Die Staatsanwaltschaft wirft den Beamtinnen Feigheit vor.
Im Falle einer Verurteilung drohen den beiden weitreichende Konsequenzen
Schon jetzt wurden sie in den Innendienst versetzt. Im Fall einer Verurteilung drohen den beiden weitreichende Konsequenzen. Sollten sie mehr als ein Jahr Freiheitsstrafe bekommen, würden sie aus dem Polizeidienst entlassen und verlören ihren Beamtenstatus. Doch bereits jetzt hat die Sache Folgen. In einem Beruf, in dem es auf den Zusammenhalt ankommen kann, dürfte es kaum verziehen werden, Kollegen im Stich zu lassen. Andererseits stellt sich die Frage: Wie mutig müssen Polizistinnen und Polizisten eigentlich sein? Hilfe hätten ihre Kollegen jedenfalls dringend gebrauchen können. Nur mit Glück kamen sie lebend davon.
Die Beamten, damals 23 und 29 Jahre alt, fahren an diesem Abend Streife in Gevelsberg. Vor ihnen ist ein 5er BMW mit auswärtigem Kennzeichen unterwegs. Das Fahrzeug kommt ihnen verdächtig vor. Die Polizisten halten den Fahrer an, die Videokamera im Streifenwagen zeichnet die Kontrolle auf. Kurzes Gespräch, der Mann zittert und schwitzt, muss aussteigen, für einen Drogentest am Straßenrand in einen Becher pinkeln. Die Beamten überprüfen seine Personalien.
Kein Führerschein und völlig zugekokst
Vitalij K. ist ein polizeibekannter Dealer und Junkie, geboren in Kasachstan, deutscher Pass, kein Führerschein, zuletzt ohne festen Wohnsitz, in dieser Nacht völlig zugekokst. Im Auto hat er außerdem 51 Gramm Heroin. K. hört, wie die Zentrale den Beamten sagt, dass K. per Haftbefehl gesucht werde. Um 23.47 Uhr fahren die beiden Polizistinnen vorbei. 28 Sekunden später, so lässt sich anhand der Videobilder aus dem Streifenwagen rekonstruieren, fällt der erste Schuss. Die Situation eskaliert.
Der Mann, das zeigen die Aufnahmen, geht zunächst langsam zu seinem Auto zurück. Plötzlich schüttet er einem Beamten den Urin ins Gesicht, rennt los, reißt die Fahrertür auf, zieht eine geladene Walther P99 unter dem Beifahrersitz hervor. Die beiden Polizisten stürzen sich auf ihn, sprühen Pfefferspray durch die geöffnete Fahrertür ins Auto, Handgemenge. K. kann trotzdem schießen, dreimal drückt er ab. Ein Beamter geht zu Boden, das Projektil bohrt sich tief in die schusssichere Weste, auf Höhe der Milz, im Liegen und ohne Deckung erwidert er das Feuer. Das Fahrerfenster zerbirst.
Der Polizist rollt sich zur Seite, kämpft sich zurück auf die Beine und läuft weg. Sein Kollege sucht Schutz hinter dem Streifenwagen und schießt ebenfalls. 21 Patronenhülsen werden später sichergestellt. Keine davon, so ergeben die Ermittlungen, stammt aus den Waffen der Polizistinnen. Denn die sind längst weg. Ihren Wagen haben sie unverschlossen zurückgelassen, darin auch geladene Maschinenpistolen.
Mandantin sei einfach überfordert gewesen
Einen vergleichbaren Fall habe er noch nicht auf dem Tisch gehabt, sagt Eckhard Wölke, der Patricia B. verteidigt. Der Kölner Anwalt war selbst viele Jahre lang Polizist, in 95 Prozent der Fälle vertrete er Beamtinnen und Beamte. Das Ganze wirke auf den ersten Blick unschön, sagt er. „Aber wenn Sie in stockfinsterer Nacht plötzlich im Kugelhagel stehen, nicht wissen, woher die Schüsse kommen, mit wem und wie vielen sie es zu tun haben, sieht die Sache anders aus.“ Schießereien seien in Gevelsberg glücklicherweise nicht an der Tagesordnung. Seine Mandantin sei einfach überfordert gewesen.
Dieser Fall zeige eindrücklich, wie schnell aus einer alltäglichen eine lebensbedrohliche Situation werden könne, sagt Michael Mertens von der Gewerkschaft der Polizei. Jeder Mensch reagiere in einer solchen Lage anders. „Grundsätzlich aber gilt: Polizistinnen und Polizisten müssen sich aufeinander verlassen können“, so Mertens. „Der Streifenwagen ist eine besondere Gefahrengemeinschaft. Jeder ist des anderen Lebensversicherung.« Gerade deshalb sei es wichtig, solche Situationen so oft wie möglich zu üben.
In NRW sind in den vergangenen Jahren mehrere moderne Polizei-Trainingszentren entstanden, weitere befinden sich im Bau. Beamtinnen und Beamte müssen sich regelmäßig auf Gefahren vorbereiten. Jedes Jahr hätten sie eine „landeseinheitliche Prüfung in Treff- und Handhabungssicherheit mit der Dienstpistole“ abzulegen, heißt es aus der Polizei. Hier lernten sie zu entscheiden, ob sie zum Schutz von Menschenleben schießen müssten oder nicht.
Allerdings, das wissen auch Ausbilder, hat Polizistenmut Grenzen. So gebe es emotional, psychisch und ethisch herausfordernde Situationen, in denen „individuelle Belastbarkeit und Professionalität besonders gefordert sind“. Extreme Lebensgefahr könne Polizisten „in den Grenzbereich ihrer Handlungsfähigkeit führen“, heißt es.
Angeklagte Polizistin Patricia B.: „Es war wie im Krieg.“
Die angeklagte Polizistin Patricia B. sagte vor Gericht laut „Westfalenpost“, sie habe große Angst gehabt. „Es war wie im Krieg.“ Die Lage sei unübersichtlich gewesen. Sie hätten Schüsse gehört, aber nicht gewusst, woher sie gekommen seien. Dann seien sie weggelaufen, so die Beamtin im Verfahren gegen Vitalij K. Er wird schließlich unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
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Bemerkenswert ist, dass das fragwürdige Verhalten der Polizistinnen erst im Prozess gegen K. zum Thema wurde, obwohl bereits im Oktober 2020 Anklage gegen die Frauen erhoben worden war. Zum Erstaunen des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung fand sich in der Akte gegen K. kein Wort der Beamtinnen zu ihrer Flucht. Auch in der polizeiinternen Aufarbeitung blieb der Vorfall zunächst unerwähnt.
Aussage der 25-jährigen Altenpflegerin brachte Gericht auf die Spur
Erst die Aussage der 25-jährigen Altenpflegerin, die den beiden Polizistinnen mit ihrem Auto zur Flucht verhelfen musste, brachte das Gericht auf die Spur. Sie wurde als Zeugin geladen. „Die sind so wirr gelaufen, ich dachte erst, sie seien betrunken“, so die Frau laut „Westfalenpost“. Patricia B. sei vorn eingestiegen, Nadine A. hinten. Dann habe sie einfach nur noch Anweisungen befolgt: losfahren, geradeaus, bei Rot über die Kreuzung, rechts abbiegen, Straße bis zum Ende, links und noch mal links in die Sackgasse bis zum Wendehammer. An der Hecke stehen bleiben, Motor ausmachen, abwarten.
Auf ihrer Flucht fordern Nadine A. und Patricia B. von ihrer Fahrerin das Handy. A. ruft die Leitstelle an. Von dort kommt die Anweisung: zurück zum Tatort! Die Pflegerin chauffiert die beiden zurück. Doch dort gibt es nicht mehr viel zu tun. Auch Vitalij K. ist geflüchtet. Vier Stunden später überwältigt ihn ein Spezialeinsatzkommando.
Nadine A. und Patricia B. melden sich schließlich am Tatort bei ihrem Vorgesetzten. Der weist ihnen eine neue Aufgabe zu. Sie sollen die Straße absperren.