„Mir ist speiübel geworden“Bis zu 30.000 Verdächtige im Missbrauchsfall Gladbach
- Im Kindesmissbrauchkomplex, der in Bergisch Gladbach seinen Ursprung hat, geht die Polizei mittlerweile gegen 30.000 Tatverdächtige vor.
- NRW-Justizminister Peter Biesenbach sprach am Montag von weiteren „erschütternden“ Details.
- Der Minister kritisiert, dass es noch immer keine Pflicht zur Speicherung und Herausgabe der Verbindungsdaten gebe.
Düsseldorf/Köln – Als Minister für Justiz ist man schon per Definition durchaus mit den finsteren Ecken des Daseins befasst und vertraut. Aber auch da gibt es offenbar noch einmal Abstufungen. „Mir ist speiübel geworden“, sagte Peter Biesenbach (CDU), Justizminister von NRW, als er am Montag in Düsseldorf von den Ergebnissen der „Ermittlungsgruppe Berg“ berichtete, die seit Herbst 2019 den Kindesmissbrauchskomplex untersucht, der in Bergisch Gladbach seinen Anfang nahm.
In offenen und verdeckten Foren und Messenger-Diensten sei man auf digitale Spuren und die Daten von 30.000 Tatverdächtigen gestoßen, sagte Biesenbach. Man dürfe, sagte der Minister, beim Thema Missbrauch nicht mehr von Einzeltätern ausgehen, man habe es vielmehr zu tun mit international aktiven Netzwerken von „Sympathisanten, Gleichgesinnten und Mittätern“.
Mitglieder geben sich gegenseitig Tipps
Der Minister zeigte sich „erschüttert“ ob der „Selbstverständlichkeit“, mit der zum Thema Missbrauch kommuniziert werde – in versteckten Chats mit mehreren tausend Mitgliedern oder offenen Messenger-Diensten. Es würden Tipps ausgetauscht, welche Beruhigungsmittel man Kindern am besten verabreiche, um sie sexuell zu misshandeln; Ratschläge würden erteilt und: „Wer zögert, der wird von den anderen ermutigt und bedrängt, seine Absichten in die Tat umzusetzen“, sagte Biesenbach.
„Ich habe nicht damit gerechnet, nicht im Entferntesten, welches Ausmaß Kindesmissbrauch im Netz hat“, sagte Biesenbach. Was die Ermittlungsgruppe zutage gefördert habe, sei „zutiefst verstörend“. Bei den 30.000 festgestellten Nutzern handele es sich um zwar noch nicht identifizierte, aber individualisierte Teilnehmer von Online-Chats und Messengerdiensten. Vergleichbare Daten aus den Missbrauchsfällen in Münster und Lügde lägen noch nicht vor, sagte Biesenbach.
Komplex „Bergisch Gladbach“: 72 Verdächtige identifiziert
In dem Komplex „Bergisch Gladbach“ waren bisher bundesweit 72 Verdächtige identifiziert worden. Zehn waren zuletzt in U-Haft. Sieben Anklagen gegen acht Personen sind bereits erhoben worden. Der Fall hatte noch im Juni täglich 120 bis 140 Ermittler beschäftigt. In der Spitze waren es sogar 350 Mitarbeiter. Einige der Verdächtigen sollen ihre eigenen Kinder missbraucht und Bilder von den Taten getauscht haben.
Vor dem Hintergrund der gewaltigen Zahl von Verdächtigen hat der Justizminister bei der ZAC NRW im Kölner Justizzentrum eine Task-Force im Kampf gegen Kinderschänder eingerichtet, die ab Mittwoch in die Ermittlungen einsteigt. Sechs Staatsanwälte würden sich zuerst um Fälle bemühen, bei denen davon auszugehen ist, dass der Missbrauch von Kindern fortgesetzt werde. Die Spezialisten nutzen „technisches Handwerkszeug, das sonst gegen Hacker, Cyberterroristen und Drogendealer im Darknet eingesetzt wird“, sagt Biesenbach. Bei den Missbrauchsermittlungen geht es nun darum, anhand der festgestellten IP-Adressen „die Täter und Unterstützer aus der Anonymität des Netzes zu zerren“.
„Ich kann nicht versprechen, dass wir alle finden“
Oberstaatsanwalt Markus Hartmann, Leiter der ZAC NRW, sprach über die Beobachtungen der Ermittler in Foren und Chaträumen im Internet: „Diese Seiten fungieren als ein großer Resonanzraum – Interessierte oder Neugierige werden zum Missbrauch ermutigt und aufgefordert; es werden Treffen vereinbart zum tatsächlichen Missbrauch von Kindern.“ Spätestens damit wechselt die strafrechtliche Relevanz vom Netz in die reale Welt.
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Ob es in allen Fällen gelinge, hinter den Pseudonymen, mit denen die Kriminellen kommunizieren, die tatsächlichen Namen zu ermitteln, sei unklar, sagte Hartmann. „Ich kann nicht versprechen, dass wir alle finden“, sagte Biesenbach, „aber wir werden viele finden.“
Der Minister kritisierte, dass es noch immer keine Pflicht zur Speicherung und Herausgabe der Verbindungsdaten gebe. „Ich möchte eine Diskussion darüber anregen“, sagte Biesenbach und wies auf ein Dilemma hin, das Pädokriminellen und ihren Mitwissern in die Karten spiele: Man könne auf der einen Seite nicht eine schärfere Bestrafung von Kindesmissbrauch fordern und auf der anderen Seite den Ermittlern den Zugriff auf die zur Strafverfolgung notwendigen Daten verweigern.