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104 Eier, ein Raffer und ein LäuferZwei Volkshelden für eine Woche – Eine Tradition

Lesezeit 6 Minuten

Die Helden des Tages: Raffer Julius Thiel (l.) gewinnt mit zwei Minuten Vorsprung gegen Läufer Christian Gitzen. Mit der Eierlage wird eine Tradition lebendig gehalten, in der auch die Kleiderordnung für die Junggesellensodalität geregelt ist.

Eifel/Schönecken – Am Ende ist der eine völlig ausgepumpt und der andere glücklich: Julius Thiel hat die 255. Eierlage am Ostermontag gewonnen. Der Raffer ist in Schönecken vor dem Läufer ins Ziel gekommen. Rund 600 Zuschauer haben sich das traditionsreiche Spektakel im Burgflecken bei Prüm nicht entgehen lassen.

Klaus Kruft sollte sich irren: „Bei dem Wetter wird es der Raffer schwer haben. Das Pflaster heizt sich auf. Der Läufer hat einen Vorteil, ihn kühlt der Wind.“ Kruft, 75, hat einst als Läufer gegen Horst Irsfeld, der der Raffer war, verloren. 50 Jahre ist das her, und Kruft, der Jubilar, trägt stolz ein stilisiertes Blumensträußchen am Revers, den Wimpel der Junggesellensodalität Schönecken. Er hat sein silbernes Feuerzeug dabei: Darin eingraviert sind sein Name und die Jahreszahl 1969.

Kleiderordnung für die Junggesellen

50 Jahre später ist es gegen 13.30 Uhr, als auch bei Kruft in der engen Von-Hersel-Straße vor dem ehrwürdigen Burgmannenhaus mitten in Schönecken die Spannung steigt. 104 rohe Eier sind wenige Minuten zuvor im Sägemehlbett im Abstand von einer Elle (62,5 Zentimeter) von den Honoratioren des Junggesellensodalität, wie hier der Junggesellenverein heißt, ausgelegt und mehrfach nachgezählt worden. Es ist ein Festtag: Alle aktiven Sodalen tragen feinen dunklen Zwirn und Hut. Ein schwarzer Gehrock und ein Zylinder zeichnen Hauptmann Marco Schaal und Brudermeister Thomas Ullrich aus. Die Farbe ihrer Schärpen macht sie für den Kenner unterscheidbar.

Einsam zieht der Läufer auf der Landstraße seine Bahn.

Julius Thiel muss alle 104 Eier einzeln aufheben und in einem Korb ablegen. Er wird insgesamt 6,8 Kilometer unterwegs sein: Hin zum Ei, es zurück tragen und weiter. Geht ein Ei kaputt, wird es an der Aufnahmestelle durch ein neues ersetzt, und Thiel hat einen Weg mehr zu raffen.

Läufer muss bin in den Nachbarort laufen

Er habe nicht besonders trainiert, sagt der 19-jährige Schönecker wenige Tage zuvor in der Kneipe Gitzen, wo er mit Christian Gitzen gerade ein alkoholfreies Bier trinkt. Beide verzichten in dieser Zeit lieber auf Alkohol. Christian Gitzen, 36, wird Thiels Gegner sein. Er ist der Läufer und muss, während Thiel rafft, bis ins nahe Seiwerath laufen, dort vom Ortsbürgermeister einen Zettel, der die Ankunft bestätigt, abholen und zurück zum Startpunkt in Schöneckens Alter Gasse laufen. 7,28 Kilometer ist die Strecke lang und führt über 155 Höhenmeter.

Durch die Menge geht’s für den Raffer auf der Von-Hersel-Straße.

Thiel und Gitzen kennen sich schon lange. Sie sind Sodale bei der Junggesellensodalität. Und sie haben am Palmsonntag die 255. Eierlage bei einer Versteigerung gegen zwei Konkurrenten-Paare für symbolische 25 Euro ersteigert. Wie sieht nun ihr Trainingslager aus? Er plane, die Strecke zweimal zu laufen, sagt der Läufer. Gitzen ist erfahrener Jogger und bereits bei mehreren Volksläufen gestartet. Er wirkt fit. „Wir haben Hühner...“, sagt dagegen der Raffer und grinst.

Julius Thiel und Christian Gitzen starten nach dem Bruderkuss

Thiel und Gitzen haben zwischen Palmsonntag und Ostersonntag nicht nur die 104 Eier für die Eierlage bei den Schöneckern erbeten. Den beiden Volkshelden für eine Woche – den Stellenwert haben Raffer und Läufer im Burgflecken seit Alters her – werden mehrere hundert rohe Eier geschenkt. Die bilden die Grundlage für ein festliches Eierbacken am Tag nach dem Wettstreit für derzeit 44 zwischen 18 und 57 Jahre alten Sodalen. Rund die Hälfte von ihnen war schon einmal Raffer oder Läufer. Die Sieger verteilen sich 50:50 in den letzten Jahrzehnten, so steht es in den Annalen.

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Um kurz vor 14 Uhr ist die mit bunten Wimpeln und Fahnen geschmückte Straße entlang der Strecke der 104 ausgelegten Eier mit rund 600 Zuschauern dicht gefüllt. Nur eine schmale Gasse für den Raffer bleibt frei. Es erschallt ein Böllerschuss. Julius Thiel und Christian Gitzen sind beide, wie es die Tradition will, in Weiß gekleidet. Sie geben sich den Bruderkuss an einer auf den Asphalt aufgesprühten, weißen Startlinie. Wenige Meter geht es hinunter zur Teichstraße, die durch Schönecken führt – es sind die ersten Meter für den Läufer. „Jetzt wird die Tagesform entscheiden“, sagt Klaus Kruft, der Eierlage-Jubilar.

Zwei Böllerschüsse zeigen: der Läufer kommt zurück

Julius Thiel eilt zum am weitesten entfernten Ei. Er rafft es auf und spurtet, begleitet von zwei Kumpels, die ihm das Spalier durch die anfeuernden Zuschauer frei halten, zurück zum Ablagekorb.

Jedes der 104 Eier muss der Raffer einzeln in den Korb legen.

Christian Gitzen läuft los Richtung Seiwerath. Um ihn wird es schnell still. Nur wenige Zuschauer sind am Straßenrand. Freunde in Autos fahren im Sicherheitsabstand vor und hinter ihm, halten die Kreisstraße für den Läufer frei. Ein Rettungswagen ist ebenfalls in der kleinen Eskorte. Ein Läufer begleitet Gitzen und kontrolliert sein Tempo. Wenn Gitzen auf dem Rückweg von der Gemarkung Kemel unterhalb von Seiwerath zum ersten Mal wieder seinen Heimatort Schönecken sehen kann, werden unten im Dorf Raffer Julius Thiel und den Zuschauern zwei Böllerschüsse signalisieren: Der Läufer kommt zurück!

Das letzte Ei darf geworfen werden

Thiels Taktik ist unterdessen bisher aufgegangen: „Ich werde erst das am weitesten entfernte Ei raffen und mir dann auf den ersten Metern direkt am Korb mit einigen gerafften Eiern Platz verschaffen, denn meine Konzentration wird im Laufe der Zeit nachlassen. Dann wieder ganz nach hinten und nach vorne die Eier wegraffen!“ Die Ablage im Korb wird streng kontrolliert und in einem kleinen Notizbuch verzeichnet.

Vor dem Start steht traditionell der Bruderkuss.

34 Minuten und 26 Sekunden nach dem Bruderkuss ist Julius Thiel erschöpft, aber glücklich. Dass er rund fünf Minuten langsamer ist als der bisherige Rekordhalter – geschenkt. Thiel hat die Eierlage gewonnen. Und 103 Eier sind heil geblieben. Das Letzte, Ei Nummer 104, darf der Raffer einfach in die Luft werfen. Das erlaubt die Wettkampfordnung.

Letztes Jahr musste das Duo unterwegs aufgeben

Rund zwei Minuten später erreicht Läufer Christian Gitzen das Ziel. Am Burgmannenhaus nimmt die Honoratiorenrunde um Hauptmann Marco Schaal seinen Ankunftsvermerk aus Seiwerath entgegen. Die Zuschauer jubeln, Beifall brandet immer wieder auf. Gitzen wankt vor Erschöpfung, er wird aufgefangen, stützt sich auf seine Kollegen. Der Läufer ist völlig ausgepowert. Doch unterwegs aufgeben mussten weder Raffer noch Läufer. Das passierte dem Duo des vergangenen Jahres.

Im Ziel liegen sich Raffer und Läufer erschöpft in den Armen.

Die 24 Aktiven des Junggesellenvereins Niederbreitbach bei Koblenz, mit den Sodalen aus Schönecken befreundet, lassen das Bierglas kurz außer Acht. „Wir sind positiv schockiert“, heißt es in der Runde. Und: Es sei wichtig, die Tradition weiterzuführen, in Schönecken mit der Eierlage, bei ihnen eben durch das Ausrichten der Dorfkirmes.

Thiel und Gitzen werden geehrt

Kurz nach 15 Uhr werden Julius Thiel und Christian Gitzen nach drei Böllerschüssen auf der Treppe vor dem Burgmannenhaus geehrt, wie es seit so vielen Jahren üblich ist: Thiel erhält eine goldene Uhr. Sein Name und das Jahr seines Sieges sind eingraviert. Gitzen ergeht es wie Klaus Kruft vor 50 Jahren: Ein silbernes Feuerzeug ist sein Lohn. Dazu gibt es je ein Spanferkel für beide – und Anna-Lena, die Freundin von Raffer Julius Thiel, gratuliert mit Blumenstrauß und Küsschen.

Da kehrt kurz eine gewisse Ernüchterung in einer siebenköpfigen Clique junger Schöneckerinnen im jubelnden Publikum ein. „Jetzt hat der ja auch eine Freundin!“, sind die Schwestern Helena und Sarah Arenth etwas überrascht. Die Junggesellinnen würden sich das Raffen und Laufen ansonsten auch jederzeit zutrauen – wenn sie es denn jemals dürften. In den vergangenen 255 Jahren jedenfalls nicht.