Große GewaltbereitschaftAngriffe auf Einsatzkräfte im Kreis Euskirchen häufen sich
- Immer häufiger werden Rettungskräfte im Kreis Euskirchen bei Einsätzen verbal oder körperlich angegriffen
- Maßnahmen wie das Tragen von schusssicheren Westen allerdings wären kontraproduktiv
- Betroffene erzählen von ihren Erlebnissen und Methoden, der Gewalt zu entgehen
Kreis Euskirchen – Udo Crespin versucht gar nicht erst, schönende Worte zu finden. „Die Gewaltbereitschaft gegenüber unseren Rettungskräften ist eklatant gestiegen, die Hemmschwelle rapide gesunken“, sagt der Kreisbrandmeister. Vor allem die verbale Gewalt habe zugenommen – aber auch die körperliche.
Im vergangenen Jahr habe sogar ein Mitarbeiter des Rettungsdienstes stationär im Krankenhaus behandelt werden müssen, nachdem er körperlich angegangen worden war. Keine Normalität, aber auch kein Einzelfall. Insgesamt gab es laut Crespin vier gewaltsame Angriffe auf Mitarbeiter des Rettungsdienstes. Wie viele Fälle von verbaler Gewalt es gegeben hat? „Viel zu viele“, antwortet Crespin: „Wann die Schwelle zur verbalen Gewalt überschritten wird, beurteilt jeder individuell.“
Von Großstadt-Verhältnissen noch weit entfernt
Immer häufiger werden die Einsatzkräfte der Polizei und des Rettungsdienstes daran gehindert, ihre Aufgaben zu erfüllen. Jüngstes Beispiel: Am Mittwoch kam es nach Angaben der Polizei zu einem Zwischenfall in Euskirchen. Ein völlig unbeteiligter, alkoholisierter 45-Jähriger störte den polizeilichen Einsatz im Rahmen einer Streitigkeit erheblich. Er musste letztlich in die Polizeiwache gebracht werden.
Im Kreis Euskirchen sei man von Verhältnissen einer Großstadt noch weit entfernt, dennoch sei die Region auch nicht mehr das gelobte Land, sagt Crespin. Auch hier müssen Einsatzkräfte damit rechnen, angegriffen zu werden.
Bewusster Verzicht auf schusssichere Westen
Auf stich- oder gar schusssichere Westen verzichte man aber ganz bewusst – genau wie auf eine Bewaffnung, um sich im Notfall verteidigen zu können, sagt der Kreisbrandmeister. Für diese Entscheidung habe unter anderem gesprochen, dass die Weste bei jedem Einsatz getragen werden müsse. „Dann kommt der Rettungssanitäter mit einer schusssicheren Weste zur 80-jährigen Seniorin, die über Kreislaufprobleme klagt. Das sendet das komplett falsche Signal, weil es alles andere als deeskalierend ist“, so Crespin.
Dass sich die Gesellschaft verändert habe, sei nicht wegzudiskutieren: „Wir können uns die Wunden lecken und das noch so oft betonen. Das bringt uns aber nicht weiter. Wir müssen uns dem Problem und diesen Situationen stellen“, sagt Crespin: „Deswegen geben wir den Mitarbeitern mit auf den Weg, nicht nur zu retten, sondern auch zu deeskalieren.“ Das sei ein schmaler Grat, denn eigentlich sei man darauf gepolt zu helfen. Die Deeskalation sei eigentlich gar nicht vorgesehen. Das sei eine Herausforderung für die Rettungsdienstler.
Mittelfinger ist schon ganz normal
Damit die Sanitäter, Notärzte und Feuerwehrleute in Notsituationen richtig reagieren, hat der Kreis bereits vor zehn Jahren ein Deeskalationstraining zum festen Bestandteil der Ausbildung gemacht. „Gewalt gegen den Rettungsdienst hat es immer schon gegeben“, sagt Rainer Brück, Leiter der Psychosozialen Notfallversorgung im Kreis Euskirchen und Deeskalationsausbilder. Wann die beginne, sei für jeden unterschiedlich. Das hänge auch von der Situation ab, in der sich der Rettungsdienstmitarbeiter befinde. Und davon, wem er gerade helfen müsse.
Peter Jonas, Leiter der Euskirchener Feuerwehr, bestätigt das: „Ein Kamerad ist zuletzt bei einem Einsatz mit einer leeren Flasche beworfen worden. Ihm war zunächst überhaupt nicht klar, dass es sich um einen Angriff gehandelt hat.“ Die Mittelfinger oder die Finger, die in Richtung Stirn gehen, weil ein Fahrzeug mit Martinshorn durch die Straße fährt, zählt Jonas nach eigener Angabe gar nicht mehr. An körperliche Gewalt könne er sich aber nicht erinnern. „Das liegt vielleicht auch daran, dass wir meist in einer größeren Gruppe zu einer Einsatzstelle fahren. Rettungskräfte sind meist zu zweit, wir eher zu acht. Da ist die Hemmschwelle eine andere“, sagt der Palmersheimer.
Im Notfall muss man die Flucht ergreifen
An einen Einsatz in Kuchenheim erinnert sich Martin Duske, hauptamtlicher Notfallsanitäter, noch sehr gut. Und das liegt nicht daran, das der erst wenige Wochen zurückliegt. „Der Vater eines Unfallbeteiligten kam an die Einsatzstelle und war sofort richtig aggressiv“, berichtet Duske: „In dem Moment war ich froh, dass ich an dem Deeskalationstraining teilgenommen habe.“ Mit der richtigen, ruhigen Ansprache könne die Aggressivität häufig aus einer Situation herausgenommen werden. Ein Patentrezept gebe es aber nicht. „Natürlich gibt es die Situation, in der Worte nichts bringen. Dann muss man eben die Flucht ergreifen“, berichtet Brück.
30 000 Rettungseinsätze pro Jahr
160 000 Mal im Jahr klingeln die Notruftelefone der Leitstelle in Euskirchen. An die 30 000 Einsätze müssen pro Jahr koordiniert werden, hinzu kommen 2500 Einsätze der Feuerwehr. Noch 1976 waren es gerade einmal 4100 – insgesamt. Koordiniert werden die Einsätze von den 17 Mitarbeitern der Leitstelle, die die 240 Rettungssanitäter und 45 Notärzte zu den Notfallsituationen schicken.
In der Kernstadt Euskirchen sind zudem allein 430 Feuerwehrleute aktiv, im gesamten Kreis sind es 2400. „Die Mitarbeiter der Leitstelle sind die Ersten, die der verbalen Gewalt der Anrufer ausgesetzt sind“, sagt Kreisbrandmeister Udo Crespin. Nicht selten komme es zu Beleidigungen. Mittlerweile, so Crespin, gebe es ein großes Anspruchsdenken. „Der Rettungsdienst wird schon bei Fieber gerufen und die Retter müssen sich anhören, dass sie nur gerufen wurden, damit die Patienten in der Notaufnahme schneller drankommen“, so der Kreisbrandmeister: „Die wollen nicht hören, dass wir dafür eigentlich nicht zuständig sind.“ Für die Retter seien solche Situationen ein schwieriger Spagat. „Wir wollen nicht, dass jemand nicht anruft“, betont Crespin.
Würde nur eine Person aus falscher Scham nicht rechtzeitig den Rettungsdienst rufen, so sei das eine Katastrophe. Doch aktuell sei der Rettungsdienst ausgelastet, weil er massenhaft Einsätze fahre, die eigentlich keine Fälle für den Rettungsdienst seien, sonder für den kassenärztlichen Notdienst. (tom)
Obwohl er Experte für Deeskalation sei, habe er sich auch schon einmal falsch verhalten. „Ein Mann kam aus dem Krankenhaus und war richtig sauer. Er fühlte sich ungerecht behandelt“, erinnert sich Brück. Eigentlich hätte er weggehen sollen, dem Mann keine Angriffsfläche bieten. „Ich bin stehengeblieben. Ich war zu stolz. Der Mann hat ausgeholt, und dann doch absichtlich vorbei geschlagen“, so der Leiter der Psychosoziale Notfallversorgung: „Ich habe hoch gepokert und gewonnen. Richtig war es aber nicht.“ Dass die Gesellschaft multikultureller geworden sei und dadurch schnell die Sprachbarriere sowohl bei Hilfesuchenden und Rettungsdienstmitarbeitern schon zu einem Anstieg des Stresslevels führe, werde ebenfalls bei der Fortbildung thematisiert.
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Fortbildungen in Selbstverteidigung gehören zum Programm
„Wir müssen uns bewusst sein, dass wir in die Intimzone eines Menschen eingreifen. Das fängt schon an, wenn wir jemanden die Bluse aufknöpfen müssen, um die Herztöne hören zu können. Wenn wir ihm erklären, dass wir das tun, um ihm zu helfen, haben wir schon deeskalierend agiert“, erklärt der Experte.
Wenn die gelernten Methoden nicht funktionieren und eine Flucht nicht möglich ist, dann können sich die Rettungskräfte im Kreis Euskirchen auch helfen – ein Teil der Fortbildung ist die Selbstverteidigung. „Wir wissen uns zu wehren“, erklärt Brück. Dieser Teil der Fortbildung sei vor allem fürs Selbstbewusstsein der Helfer wichtig. „Wenn man weiß, wie man sich in einer bestimmten Situation wehren könnte, hilft das ungemein“, sagt er.