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FörderbedarfMutter kämpft um Schulbegleitung für ihr Kind – Kreis Euskirchen lehnt das ab

Lesezeit 8 Minuten
Gelbe Stühle sind im menschenleeren Klassenraum auf die Pulte gestellt worden.

Mehr als 300 Schulbegleitungen gibt es im Kreis Euskirchen. Sie haben in den Klassen einen extra Stuhl.

Nadine Willewald kämpft für eine Begleitung für ihren behinderten Sohn. Der Kreis lehnt das derzeit ab – gegen die Empfehlung des eigenen Gesundheitsamtes.

Schreie, Tränen, Wut – Levin ist sechs Jahre alt und hat gerade so gar keine Lust auf Schule. Das lässt er seine Mutter Nadine Willewald jeden Morgen spüren. Es sei ein täglicher Kampf, sagt Willewald. Einer, auf den weder sie noch ihr Sohn Lust haben. Und bei dem es keinen Gewinner gebe: „Ich fühle mich nicht gut, wenn Levin mit Bauchschmerzen in die Schule geht.“

Seit Mitte August besucht Levin die 1c, die Löwenklasse, an der Gemeinschaftsgrundschule (GGS) Weststadt in Euskirchen. Das Abenteuer Schule geht er mit einer kombinierten Entwicklungsverzögerung und einer Wahrnehmungsstörung an. Sowohl die genetisch bedingte Entwicklungsstörung als auch die Wahrnehmungsstörung haben Spasmen in den Händen zur Folge, sobald es zu einer Reizüberflutung kommt.

Ich fühle mich nicht gut, wenn Levin mit Bauchschmerzen in die Schule geht.
Nadine Willewald

Wäre es nach Nadine Willewald gegangen, hätte ihr Sohn von Beginn an eine Schulbegleitung an seiner Seite gehabt – auch, weil sich bei der schulärztlichen Untersuchung beim Gesundheitsamt des Kreises „Hinweise auf einen erhöhten Förderbedarf in der Schule“ ergeben haben.

Und weil im amtsärztlichen Gutachten steht: „Ohne engmaschige Führung und wiederholter Motivierung und Bestärkung von einer unterstützenden Begleitung wird der unruhige, teils auch unsichere Junge sein Potenzial im Klassenverband nicht zeigen können. Zum guten, erfolgreichen Lernen empfehle ich dringend die Bereitstellung einer Schulbegleitung.“

Gesundheitsamt des Kreises empfiehlt dringend eine Begleitung

Das Sozialpädiatrische Zentrum in Mechernich (SPZ) hat bei einer Untersuchung des Jungen im März dieses Jahres unter anderem festgestellt, dass bei Levin nach 20 Minuten Mitarbeit die Konzentration deutlich abnehme und „er viel Unterstützung von außen benötigt“. Trotz dieser für Nadine Willewald eindeutigen Expertise hat der Kreis den Antrag auf eine Schulbegleitung kurz vor dem Schulstart abgelehnt – zumindest vorerst.

Der Kreis Euskirchen begründet die Entscheidung mit dem komplexen System Schule. Erst wenn alle Möglichkeiten der Förderung und Hilfen in diesem System für den Sechsjährigen ausgeschöpft seien und man zu dem Schluss komme, dass eine Schulbegleitung für die Teilhabe am Unterricht sinnvoll sei, werde man den Fall neu und ganz individuell beurteilen, sagt Benedikt Hörter, Leiter der Abteilung Jugend und Familie. Aktuell betreue die Sozialpädagogische Fachkraft an der Schule Levin punktuell. Die Schule sehe selbst noch nicht die Notwendigkeit einer Schulbegleitung.

Birgit Wonneberger-Wrede, Leiterin des Geschäftsbereichs Gesundheit und Soziales beim Kreis, ergänzt: „Schulbegleitung ist ein Mittel der Wahl, aber nicht das einzige. Es gibt viele adäquate Möglichkeiten im System Schule.“

Sozialpädiatrisches Zentrum Mechernich: Der Junge braucht Unterstützung von außen

Zudem sei es kein Mantra, das unausweichlich gelte, wenn ein Arzt etwas in einen Bericht schreibe: „Es geht um das Setting, das System. Der Arzt setzt einen Denkanstoß. Bewerten müssen die Kollegen unter dem Gesichtspunkt, was dem Kind hilft.“

Wenn also die Expertise eines Arztes beim Kreis-Gesundheitsamt ein Denkanstoß ist, wer spielt bei der Beurteilung, ob eine Schulbegleitung sinnvoll ist oder nicht, die entscheidende Rolle? „Die Schule“, sagt Hörter: „Die Schule ist der entscheidende Punkt in der Kette und wir sind auf die Berichte der Schule angewiesen, weil wir jeden Fall individuell beurteilen und es ein dynamischer Prozess ist. Wenn die Möglichkeiten der Schule ausgereizt sind, dann steuern wir da gerne nach.“

Gerade bei i-Dötzchen müsse die Schule ausprobieren können. „Wir haben die Haltung, dass wir Kindern – besonders, wenn sie ins erste Schuljahr kommen – möglichst viel Normalität vermitteln wollen. Und ihnen nicht von Anfang an einen erwachsenden Menschen im Unterricht zur Seite stellen“, berichtet Birgit Wolber, Leiterin der Sozialen Dienste beim Kreis-Jugendamt.

Euskirchener Grundschule attestiert Levin eine positive Entwicklung

Im Fall von Levin gebe es einen Bericht der Schule. In dem werde Levin eine positive Entwicklung attestiert. Ein zweiter Bericht sei kurz vor den Herbstferien angefordert worden – dieser liege dem Kreis aber noch nicht vor.

„Die Schule hat die positive Entwicklung in den ersten Wochen nach Schulstart sehr differenziert verschriftlicht. Es wird genau aufgeführt, welche Form der Unterstützung geleistet wird“, erklärt Wolber. Es sei aber nicht alles rosarot. „Dass der Junge Schwierigkeiten hat, ist unbestritten. Ein Hilfebedarf ist auch vorhanden. Dieser soll aber erst mal aus dem System Schule gedeckt werden.“

Dass der Kreis Levin aktuell keine Schulbegleitung bewilligt, habe nichts mit Sparzwängen oder Ähnlichem zu tun, versichert der Leiter des Jugendamts. Natürlich sei man angehalten, verantwortungsvoll mit Steuergeldern umzugehen und zu sehen, ob andere, weniger intensive Hilfen ausreichend seien.

Mehr als 300 Schulbegleitungen gibt es im Kreis Euskirchen

„Wir sind nicht defensiv bei der Bewilligung von Schulbegleitungen. Das wird uns auch extern kritisch bescheinigt. Wir gehen verantwortungsvoll mit Steuergeldern um“, sagt Hörter. Wonneberger-Wrede fügt hinzu: „Wir werden sogar von außen kritisch beäugt, weil wir so viele Fälle haben.“

Mehr als 300 Schulbegleitungen gebe es aktuell im Kreis Euskirchen. Eine Schulbegleitung koste den Kreis im Jahr etwa 30.000 Euro, so Wonneberger-Wrede. Im Haushalt kommt so insgesamt ein niedriger zweistelliger Millionen-Betrag zusammen.

Nadine Willewald befürchtet derweil, dass ihr Sohn bereits im ersten Halbjahr als i-Dötzchen den Anschluss verliert: „Während Klassenkameraden ein ganzes Arbeitsblatt schaffen, schafft er in der Schule eine Aufgabe. Und auch zuhause sind Hausaufgaben ein ständiger Kampf.“

Kognitiv sei ihr Sohn für die Regelschule geeignet, sagt die Mutter

Der Grund: Levin saugt Reize in jeglicher Form auf wie ein Schwamm, lässt sich ablenken. Kognitiv sei ihr Sohn fit und für die Regelschule geeignet. Motorisch habe er Defizite, berichtet Willewald. Das äußere sich darin, dass er die Finger verkrampfe, wenn der „Reize-Schwamm“ voll sei.

Dann beschäftige er sich mit allem, aber nicht der eigentlichen Aufgabe. „Wenn ich aber daneben sitze und ihn bei den Hausaufgaben immer wieder ermutige, sich zu konzentrieren, dann geht es“, so Willewald. Deshalb setze sie auf eine Schulbegleitung, die ihren Sohn immer wieder ermutige und auch ermahne, an der Aufgabe weiterzumachen.

Birgit Wolber führt zu diesen Unterstützungen einen weiteren Punkt ins Feld: „Schulbegleitungen sind gesetzlich nicht in erster Linie dafür vorgesehen, damit ein Kind besonders gut in der Schule ist. Der Gesetzgeber sieht vor, dass die Kinder an der Gesellschaft, in diesem Fall Bildung, teilhaben. Das soll eine Schulbegleitung ermöglichen.“

Kreis: Schulbegleitung hat nicht nur Vorteile für das Kind

Zudem habe eine Schulbegleitung nicht nur Vorteile für das Kind – auch Schulen sehen Hörter zufolge einen weiteren Erwachsenen im Klassenraum teilweise kritisch. „Eine Schulbegleitung hat auch Nebenwirkungen. Man hat ja ständig einen neben sich sitzen. Das kann auf Klassenkameraden auch nachteilig wirken“, so Hörter.

Nadine Willewald ist sich dessen bewusst: „Es kommt mir nicht auf bessere Noten an. Aber er kann dem Unterricht aus eigener Kraft kaum folgen, ohne dass ihn jemand an die Hand nimmt.“ Das könne eine Schulbegleitung leisten, sagt sie.

Zumal die auch die Klassenlehrerin entlaste, die aus der Sicht von Levins Mutter „eine unglaubliche Arbeit leistet, aber eben auch 24 andere Kinder in der Klasse hat“. Deshalb sei sie gespannt, was im neuesten Bericht der Schule ans Jugendamt steht, sagt Nadine Willewald – und was dann die erneute Überprüfung durch den Kreis ergibt: „Ich hoffe, dass Levins Wut und Angst vor der Schule wieder in Vorfreude aufs Lernen umschlägt. Und die Tränen weniger werden.“


Eine Schulbegleiterin berichtet über ihre Arbeit

Stefanie Kurzeja-Hoffmann ist Schulbegleiterin. „Ich gehe da voll drin auf. Es ist ein toller Beruf“, sagt die Frau aus Kalkar. Grundsätzlich kümmert sich Kurzeja-Hoffmann um „ihr Kind“, mit dem sie nach den Sommerferien den gemeinsamen Schritt von der Grundschule zur weiterführenden Schule gemacht hat. Wenn ihr Schüler aber krank sei, werde sie auch als Springerin eingesetzt. „Dann heißt es zu einer anderen Schule im Kreis fahren und sich um ein anderes Kind kümmern“, berichtet sie.

Ziel der Schulbegleitung sei, die „gleichberechtigte Teilnahme am schulischen Leben zu ermöglichen und den Lernprozess zu unterstützen“. Dabei gehe es um allgemeine Herausforderungen wie den Schulalltag an sich, im Speziellen etwa auch darum, die Lernmotivation zu fördern.

„Ich unterstütze aber auch bei der Organisation, der Anwendung von Lernstrategien, stärke das Selbstbewusstsein und helfe, Barrieren abzubauen“, so Kurzeja-Hoffmann. Sie helfe auch, die Klassenkameraden kennenzulernen und soziale Kontakte zu fördern. Schulbegleitung diene als individuelle Unterstützung für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf.

Der Tag in der Schule beginne mit einem kleinen Plausch in der Klasse. „Es geht um ganz alltägliche Dinge. Wir unterhalten uns einfach. Das ist wichtig“, sagt die zweifache Mutter. Auch geht es um den anstehenden Schultag: Welche Fächer stehen auf dem Stundenplan, welche Materialien werden benötigt?

„Im Unterricht selbst schaue ich, ob mein Kind mitkommt, ob es die Hausaufgaben notiert. Und ich versuche, Ablenkungen fernzuhalten oder ermögliche ihm bei Bedarf eine kleine Verschnaufpause“, sagt Kurzeja-Hoffmann. Sie habe noch nie und werde sich auch nicht in den Unterricht einmischen. „Ich bin keine Lehrerin und maße mir das auch nicht an zu sein. Ich beurteile keinen Unterricht oder kein pädagogisches Verhalten“, sagt sie: „Ich bin auch keine Aufpasserin. Ich bin Unterstützung. Ich bin alles, was mein Schulkind gerade in dem Moment braucht.“

Eine Herausforderung sei es, die Akzeptanz der Kinder zu bekommen. Auch in der Klassengemeinschaft akzeptiert zu werden, sei eine gewisse Hürde. „Die Notwendigkeit meiner Anwesenheit wird oft erst erkannt, wenn ich mal nicht im Unterricht dabei bin und der Unterschied im Verhalten der Kinder bemerkt wird“, so Kurzeja-Hoffmann.

„Sechs Stunden in einer pubertierenden Klasse oder in der Grundschule können olfaktorisch oder von der Lautstärke her schon mal eine Herausforderung sein“, sagt sie lächelnd. Als zweifache Mutter wisse sie vor allem zu schätzen, dass sie in den Ferien – wie die Schulkinder – frei habe und sich dann um die eigenen Kinder kümmern könne.

Laut Kreis könnte bei den Schulbegleitungen bald auf Pool-Lösungen zurückgegriffen werden. Dann wäre eine Schulbegleitung für mehrere Schüler in der Klasse verantwortlich. Da sei für die Schulbegleitungen durchaus ein Vorteil. Wenn ein Kind nämlich keine Unterstützung mehr benötige, ende nicht automatisch die Aufgabe der Schulbegleitung, weil es mehrere Kinder in der Klasse gebe, die betreut werden müssten, sagt der Kreis.