Bis zuletzt hatte er Träume. Er wollte noch einmal nach Mallorca. Doch von seinem Millionen-Erbe blieb nichts. Am Ende mussten Freunde für die Beerdigung des Euskircheners zusammenlegen.
Meistgelesen im Jahr 2024Erst Millionär, dann obdachlos – Die traurige Geschichte von Christian K.
Christian Kreider (Name geändert) war Millionär. Zwei Millionen Mark hatte er geerbt, nachdem sein Vater am 15. Oktober 1987 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Kreider war damals 16 Jahre alt. 37 Jahre später, am 5. März 2024, starb der Euskirchener im Alter von 53 Jahren am Bahnhof. Offizielle Todesursache: Genickbruch nach einem Treppensturz. Gefunden wurde er von Passanten. Gezeichnet vom Leben, mittel- und obdachlos. Bis zuletzt hatte er Träume.
Dieser Text gehört zu den beliebtesten Inhalten des Jahres 2024 und wurde erstmals am 2. April 2024 veröffentlicht. Im Rahmen der erneuten Veröffentlichung wurden einige Passagen angepasst.
Die letzten fünf, sechs Jahre war Kreider wohnungslos, saß oft in einem geklauten Rollstuhl. Sein Stammplatz: irgendwo zwischen Viehplätzchen und Penny-Markt, irgendwo zwischen Suchttherapie und dem Wunsch, noch einmal nach Mallorca zu fliegen.
Am 12. April wurde der stadtbekannte Mann um 14 Uhr auf dem Euskirchener Friedhof beerdigt. Eigentlich sollte das anonym geschehen, weil es keine Angehörigen gibt. Seinen Sturz in die Anonymität verhinderten einige ehemalige Weggefährten, die jahrzehntelang Kreider die Hand reichten und Hilfe anboten. Sie berichten, wie sie immer wieder versuchten, den Euskirchener aus der zerstörerischen Spirale des Glücksspiels, des Alkohols und der Drogen herauszuholen. Erfolglos.
Glücksspiel, Alkohol und Kokain führten in den Absturz
Auch wenn sie von Kreider mehrfach enttäuscht wurden: Eine anonyme Bestattung sollte es für den „Oeskerchener Jung“ nicht geben. Also lebten sie das Motto „You'll never walk alone“ vor – das Credo vieler Fußballfans. Allein sollte der leidenschaftliche FC-Fan Kreider auf seinem letzten Weg nicht sein – auch wenn er bei der Liebe zum 1. FC Köln immer wieder Grenzen überschritt. Wie so oft in seinem Leben.
Unmittelbar nach der Todesnachricht starteten Manfred Gottschalk, Kevin Schömer, Melanie Schönen, Safak Toptas, Jasmin Schneider, Kenny Münch sowie dessen Bruder Mikel eine Spendenaktion.
Innerhalb von 48 Stunden kamen nach Angaben der Organisatoren mehr als 6000 Euro zusammen – von mehr als 250 verschiedenen Spendern. Auch die Trinker- und Wohnungslosenszene vor dem Penny-Markt an der Gerberstraße, dessen Marktleiter laut der Organisatoren auch zur Beerdigung kommen wollte, beteiligte sich, wollte fünf Euro spenden. „Das ist viel Geld für Menschen, die jeden Cent für den nächsten Rausch benötigen. Wir haben die Spende nicht angenommen“, sagt Gottschalk.
Freunde sammelten für Euskirchener: Auch Obdachlose wollten spenden
Er ist genauso alt wie Kreider, wuchs mit ihm auf. Kennt die vielen Facetten seines Freundes. Und auch die vielen Grenzen, die der überschritten hat. „Trotzdem war er bis zum Schluss ein Freund. Auch wenn ich 2016 einen Schlussstrich bei meiner Hilfe ziehen musste, weil er mich auf der Straße im Rausch mal wieder angeschrien und beleidigt hatte“, erinnert sich Gottschalk.
Als Kind hatte Kreider den Wunsch nach einer intakten Familie, der aber unerfüllt blieb. Seine Mutter arbeitete als Escort-Dame, sein Vater als Vertriebsleiter einer Jeans-Firma. „Zu der Zeit hatte er ein großes Imperium aufgebaut. Daraus ist viel Kapital entstanden. Aber der Vater war eben auch nicht zu Hause. Er hatte nie eine Familie“, sagt Gottschalk. Seine Kindheit verbrachte er meist bei der Oma. Nicht selten habe Kreider geweint, wenn er bei ihm gewesen sei. Der Grund: das fehlende Familienleben.
Dann kam der 15. Oktober 1987. „Der Tag hat Christian den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt Mikel Münch, ebenfalls ein langjähriger Freund. Kreiders Vater war in Mailand auf einer Modemesse. Auf dem Rückflug kam es zu einem Strömungsabriss, das Flugzeug zerschellte an einem Berg in der Nähe des Comer Sees. Alle 37 Insassen starben – darunter Kreiders Vater.
Als 16-Jähriger erbte der Euskirchener die Millionen seines verunglückten Vaters
Der 16-Jährige erbte das Vermögen des Vaters. Von seiner Oma erhielt er eine Waisenrente. Als er volljährig wurde, begann das Leben auf der Überholspur – ohne Rücksicht auf Verluste. Freundschaften gingen zu Bruch, neue entstanden. Oft falsche. „In einer Nacht hat er nicht selten 10.000 Mark im Casino an der Wilhelmstraße verzockt“, erinnert sich Gottschalk.
Oft sei Kreider praktisch allein in der Spielhalle gewesen, alle Automaten liefen. „Ich war dabei und bin von einem Automaten zum nächsten gelaufen. Sollte sehen, dass vielleicht Bonusspiele oder Geld aufs virtuelle Konto kamen. Christian hat währenddessen Roulette gespielt“, erinnert sich Gottschalk. Kreider kaufte sich Rolex-Uhren, teure Chevignon-Jacken, investierte in Wohnungen, verprasste sein Erbe für Alkohol und Kokain.
„Wir waren jedes Wochenende im ‚Porto‘. Da hatten wir Narrenfreiheit. Es gab praktisch kein Limit“, so Gottschalk. Doch die Sucht nach dem Kick, dem schnellen Glück wurde immer größer. Immer schneller rann das Geld nur so durch die Finger. Auch, weil einige auf seine Kosten lebten – und weil er beratungsresistent war.
Stadionverbot: Euskirchener gehörte zur Hooligan-Szene um den 1. FC Köln
Kreider ging gerne zum Fußball. Aber nicht nur, um den 1. FC Köln anzufeuern. „Er war einer der führenden Hooligan-Köpfe. Nicht selten ging es nur darum, sich zu prügeln“, erinnern sich seine Kumpel. Er habe sogar mal Stadionverbot gehabt, berichtet Gottschalk.
Alle Warnungen seines Umfelds verhallten ungehört – egal, um welches Thema es ging. „Wann immer man etwas zu seinem Lebensstil sagte, hätte man auch mit der Wand sprechen können“, sagt Mikel Münch. Er nahm Kreider mehrmals zu Hause auf, bot ihm ein Dach über dem Kopf.
Als Münch Vater wurde und sein Kumpel sich mal wieder mit Wodka betrunken oder aus einer Suchttherapie selbst entlassen hatte, zog er die Reißleine. Natürlich habe es sein Freund als Kind nicht leicht gehabt. Dennoch sei das alles kein Grund, so auf die schiefe Bahn zu geraten – und keine Hilfe anzunehmen. „Vor allem, weil wir ja da gewesen wären“, so Münch.
2016 folgte der komplette Absturz in die Wohnungslosigkeit und Trinkerszene. Zu diesem Zeitpunkt war er laut seiner Kumpel schon lange bei der Caritas bekannt, bekam auch dort immer wieder Hilfsangebote. Als dann einer seiner Freunde tot in dessen Wohnung an der Grünstraße gefunden wurde, sei es endgültig vorbei gewesen mit allen Vorsätzen, berichtet Münch.
Für Kokain reichte das Geld schon lange nicht mehr. Vom Erbe war nichts mehr übrig. Stattdessen trank Kreider Wodka in großen Mengen. „Es ging rapide bergab. Noch schlimmer als vorher“, sagt auch Uwe Esser, ebenfalls ein langjähriger Weggefährte.
Er sah Kreider fast täglich am Penny-Markt, erlebte den körperlichen und psychischen Verfall mit. Beides verlief immer schneller. Zum Schluss sei Kreider bereits am Mittag nicht mehr zurechnungsfähig gewesen. In den vergangenen eineinhalb Jahren habe er die Selbstachtung komplett verloren, so Esser.
Caritas Euskirchen: Lage der Wohnungslosen immer bedenklicher
Innerhalb weniger Monate ist Kreider der zweite Wohnungslose, der in Euskirchen auf der Straße gestorben ist. „Für die Szene, aber auch für uns als Einrichtung ist das ein schwerer Schlag“, sagt Maria Surges-Brilon. Die Chefin der Euskirchener Caritas macht sich Sorgen.
Es gebe weitere Klienten, die körperlich sehr angeschlagen seien. Zu Kreider oder zur Hilfe seitens der Caritas könne sie nichts sagen. Oder besser: dürfe sie nichts sagen. Aus Gründen des Datenschutzes.
Sie habe von der Spendenaktion und dem Begräbnis gehört, so Surges-Brilon. Auch davon, dass die Szene für Kreiders Beerdigung Geld gesammelt habe: „Das zeigt, was das für tolle Menschen sind.“ Gottschalk sagt aber auch: „Sie halten mitunter ein ganzes System auf Trab, binden Ressourcen, etwa im Rettungsdienst oder Krankenhaus.“
Bei der Beerdigung soll es keinen Alkohol geben
Und warum hilft man jemandem, der zu Lebzeiten nie Hilfe wollte? „Auch wenn das Geld weg war, war er immer noch unser Kumpel. Er war ja immer loyal zu uns“, so Safak Toptas. Gottschalk sagt aber auch: „Am Ende hatte der Alkohol schon sehr viel kaputt gemacht.“ Dennoch seien die Spendenaktion und die Organisation der Beerdigung eine Selbstverständlichkeit.
Die Organisatoren gehen davon aus, dass Geld übrig bleibt. „Wir wollen davon für die Obdachlosen Jacken und Schuhe kaufen. Beides können sie immer gebrauchen“, so Gottschalk. Man habe die Szene nicht nur explizit zur Beerdigung eingeladen, sondern auch einen kleinen Bus organisiert, damit sie daran teilnehmen konnten.
Die Organisatoren legten Wert darauf, dass die Beerdigung nicht in Trauerkleidung stattfand. „Das wäre nicht Christian. Sein Leben war nie schwarz und dunkel. Er war bunt, mit sehr vielen Ecken und Kanten“, sagt Gottschalk.
So viel kostet in Euskirchen ein Grab auf dem Friedhof
Nach Angaben der Stadt Euskirchen fanden im vergangenen Jahr auf den Friedhöfen im Stadtgebiet 13 anonyme Bestattungen statt.
„Eine anonyme Bestattung wird angeordnet, wenn die Angehörigen das wünschen oder wenn mangels Angehöriger eine Beisetzung durch das Ordnungsamt stattfindet“, erklärt Heike Eich von der Stadt Euskirchen. Sollte das Ordnungsamt die Beerdigung organisieren, geschehe dies unter Einbeziehung der christlichen Kirchen, wie Eich auf Anfrage mitteilte.
Ein Reihengrab kostet in Euskirchen 2235 Euro, ein Urnenreihengrab 1665. Laut Verwaltung beträgt der Preis für ein Wahlgrab 2855 Euro, ein Urnenwahlgrab kostet 1990 Euro. Für ein Kindergrab werden 875 Euro fällig. Für ein „normales“ Grab kommen zusätzliche Kosten für die Grabbereitung in Höhe von 775 Euro dazu. Eventuell anfallende Personalkosten betragen 115 Euro.